50. Kapitel
Wie man in der Stunde der Trostlosigkeit sein ganzes Herz in die Hände Gottes legen soll.

[167] 1. Der Mensch: Mein Gott und Herr! Heiliger Vater! Dir sei Lob und Preis, jetzt und in alle Ewigkeit; denn wie du wolltest, so geschah's, und was du tust, ist alles wohl getan. In dir suche dein Knecht seine Freude, nicht in sich und irgend etwas anderem; denn du allein bist die wahre Freude, du meine Hoffnung und Krone, du meine Ehre und Seligkeit.[167] Was hat doch dein Knecht, das er nicht von dir empfangen und auch ohne sein Verdienst empfangen hätte? Dein ist alles, was du gegeben, und was du geschaffen hast. Arm bin ich, und Plage und Mühe wuchs mit mir von Jugend auf. Oft habe ich tiefen Kummer im Herzen und Tränen im Auge; oft machen mich herannahende Leiden uneins mit mir.

2. Mein ganzes Herz sehnt sich jetzt doch nur nach Einer Freude, sie heißt Frieden und Ruhe. Ich flehe um Eine Gnade zu dir, sie heißt Frieden deiner Kinder, die in deinem Lichte und auf der Weide deines Trostes wandeln. Wenn du mir diesen Frieden, diese heilige Freude schenkst, dann wird die Seele deines Dieners deinem Lobe geweiht und lauter Lobgesang sein. Aber wenn du dich meinem Herzen entziehst, wie du es oft tust, dann bin ich ohnmächtig, auf dem Wege deiner Gebote so gut fortzuschreiten; muß nur hinsinken auf meine Knie und an meine Brust schlagen. Dann ist es in meinem Herzen ganz anders als es gestern und vorgestern war, da noch dein Licht über meinem Haupte glänzte, da mich noch der Schatten deiner Flügel vor den eindringenden Versuchungen schützte.

3. Vater, gerechter, ewig alles Lobes würdiger Vater! Sie ist gekommen, die Stunde der Prüfung für deinen Knecht. Vater, ewig aller Liebe würdiger Vater! Es ist billig und recht, daß dein Knecht in dieser Stunde etwas um deinetwillen leidet. Vater, ewig aller Anbetung würdiger Vater! Sie ist gekommen, die Stunde, die du von Ewigkeit her voraussahst, die du kommen ließest, damit dein Knecht im Äußeren auf eine kurze Zeit unterliege, im Innern aber stets bei dir lebe. Eine kurze Weile soll dein Knecht von Menschen gering geachtet, erniedrigt, in den Staub gedrückt, und von Leiden und Schwachheiten aufgerieben werden, damit er, wenn das Morgenrot deines Lichtes anbricht, mit dir wieder herrlich auferstehen und in dem himmlischen Vaterlande neu verherrlicht werden möge. Vater, heiliger Vater! Du hast es so geordnet, dein Wille hat es so geboten und es ist geschehen, was du geordnet, was du geboten hast.[168]

4. Denn dein Freund sieht es als eine Gnade an, in dieser Welt um deines Namens willen sich bedrücken und bedrängen zu lassen, so oft und durch wen er immer bedrückt und bedrängt werden mag. Ohne deinen Ratschluß, ohne deine Vorsehung und ohne Ursache geschieht nichts auf Erden. Herr, es ist gut für mich, daß du mich gedemütigt hast, damit ich deine gerechten Führungen kennen lerne und alle hochmütigen Anschläge, alle Anmaßungen meines eitlen Herzens wegwerfe. Wohl mir, daß Schande mein Angesicht bedeckte! Denn das nötigte mich, mehr bei dir als bei Menschen Trost zu suchen. Ich habe noch etwas aus dieser Trübsal gelernt: in heiligem Schauer aufzuschauen zu deinen unerforschlichen Gerichten; denn deine Züchtigung schlägt den Gerechten wie den Ungerechten, aber jeder Schlag ist Gerechtigkeit und Liebe.

5. Ich danke dir, daß du meiner Sünden nicht geschont, sondern meinen harten Sinn mit herben Schlägen weich und mürb gemacht hast, indem du viele schmerzhafte Leiden über mich und mich selbst in ein Angstgedränge, innen und außen, hast kommen lassen. Es ist doch nichts unter der Sonne, das mich trösten könnte. Du allein, mein Gott, kannst mich trösten; du bist der himmlische Seelen-Arzt; du schlägst und heilst, du führst in die Grube hinab und wieder herauf; deine Hand, die mich züchtigt, schwebt noch über mir, und deine Zuchtrute wird meine beste Lehrmeisterin sein.

6. Liebster Vater! Sieh her, ich bin in deiner Hand; tief gebeugt unter deiner Rute unterwerfe ich mich deiner Züchtigung. Schlage auf meinen Rücken und Nacken, bis sich mein starrsinniger, unbeugsamer Wille endlich ganz deinem Willen ergeben hat. Laß nicht ab, an mir zu bilden, bis du mich zu einem frommen, demütigen Schüler ausgebildet hast, der dir auf jeden Wink gehorcht. Ich gebe mich und all das Meine ohne Ausnahme in deine Schule, damit du alles besser machst, als es ist. Denn es ist wahrhaftig besser, hier in deine Zucht genommen zu werden, als dort in der Ewigkeit.

Du weißt alles und jedes, und das Verborgenste im Gewissen[169] der Menschen ist unverborgen vor dir. Was kommen wird, das liegt hell vor deinem Blick, ehe es kommt, und du hast nicht nötig, daß dir jemand etwas von dem, was auf Erden geschieht, erzählt oder in dein Gedächtnis bringt. Du weißt, was mir im Guten weiter forthilft und wieviel die Trübsal beiträgt, den Rost meiner Sünden zu tilgen. So mach es denn mit mir nach deinem heiligen Wohlgefallen und sieh mit dem Blicke deiner Gnade herab auf mein Leben, das voll Sünden und in seiner ganzen Sündhaftigkeit dir am besten bekannt ist.

7. Lehre mich, o Herr, das wissen, was ich wissen, das lieben, was ich lieben soll; das loben, was deinen Beifall hat; das hochachten, was in deinen Augen hochachtungswert, das verachten, was in deinen Augen verächtlich ist. Laß mich nicht nach dem bloßen Augenschein urteilen und auch nicht nach dem Hörensagen unerfahrener Leute irgend ein Urteil nachsprechen; lehre mich vielmehr nach der Wahrheit über den Wert des Sinnlichen und des Verständigen urteilen, und vor allem, deinem heiligen Willen überall nachforschen.

8. Denn der Sinn des Menschen betrügt sich oft in seinem Urteil. Die Freunde der Welt sind der Täuschung preisgegeben, weil sie nur das Sichtbare lieben. Ist der Mensch deshalb besser, weil andere ihn höher schätzen? Der Falsche betrügt den Falschen, der Eitle den Eitlen, der Blinde den Blinden, der Kranke den Kranken, wenn er ihn lobt und obenansetzt. Ein falscher Lobspruch schafft eigentlich wahre Verwirrung. Kurz: was der Mensch in Gottes Augen ist, das ist er, und mehr ist er nicht, sagt der demütige, heilige Franziskus.[170]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 167-171.
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