53. Kapitel
Ein anderes ist Gnade des Himmels, ein anderes Weisheit der Erde.

[173] 1. Der Herr: Mein Sohn, es ist ein köstliches Ding um meine Gnade. Sie läßt sich mit äußeren Dingen und irdischem[173] Troste nicht vermischen. Du mußt also alle Hindernisse der Gnade aus dem Wege schaffen, wenn du wünschst, daß sie frei in dein Herz fließen soll. Suche dir einen verschwiegenen Ort aus und lebe da einsam mit dir; suche nicht mit Menschen zu reden; laß dein Herz sich vielmehr vor Gott in einem andächtigen Gebet ergießen, damit dein Gewissen rein und dein Gemüt stets weich und offen für himmlische Eindrücke bleibt.

Lerne die ganze Welt für nichts zu achten und den inneren Herzensumgang mit Gott allem, was außer dir ist und dich außer dir umhertreibt, vorzuziehen. Denn dein Herz kann nicht zugleich mit mir Umgang haben und den vergänglichen Dingen mit Lust anhangen. Dein Herz soll sich von allen Freunden und Bekannten entfernen; soll sich losmachen von zeitlichem Troste. In diesem Sinne ermahnt der Apostel Petrus (1. Petr. 2, 11) die ersten Christen, daß sie sich als Fremdlinge und Pilger auf Erden bewahren sollen.

2. Oh, wenn den Sterbenden keine Neigung an die Erde anheftet, wie frei muß sein Herz, wie groß seine Zuversicht sein! Aber ein krankes Gemüt hat keinen Sinn für die Gesundheit, die darin besteht, daß das Herz sich los und rein hält von aller Anhänglichkeit ans Vergängliche, und der Sinnenmensch versteht nicht die Freiheit des geistigen Menschen. Und doch bleibt es ewig wahr: Wer das wahre, geistliche Leben in sich haben will, muß sich losmachen von allen ungeordneten Neigungen für alle übrigen Dinge, nah und fern, und muß sich vor niemandem sorgsamer hüten als vor sich selbst. Denn, wenn du dich vollkommen besiegt hast, wirst du alles Übrige ganz leicht unters Joch bringen. Sich selbst besiegt haben, ist der vollendete Sieg. Denn wer es in Selbstbeherrschung so weit gebracht hat, daß seine Sinnlichkeit der Vernunft und die Vernunft mir in allen Dingen gehorcht, der ist der wahre Sein-Selbst-Besieger und der rechte Herr der Welt.

3. Wenn du diese Höhe zu ersteigen dich sehnst, so mußt du mit dem Mute eines Mannes anfangen, mußt die Axt an[174] die Wurzel legen, mußt ausrotten und austilgen alle verborgenen ungeordneten Neigungen zu dir selbst und zu allen Gütern, die vergänglich sind und deine törichte Eigenliebe reizen können. Aus dieser Sünde, das ist aus der ungeordneten Liebe, mit welcher der Mensch an sich selbst hangt, sproßt jede andere Sünde hervor, die in ihrer Wurzel zerstört werden muß. Und wer diese Wurzel alles Bösen in sich unterdrückt und zerstört hat, der wird beständig Friede und Ruhe in vollem Maße genießen. Aber weil so wenige Menschen sich vollkommen absterben und mit allem Ernste von sich selbst Weggehen wollen, eben deswegen bleiben sie in sich und können sich nie über sich selbst emporschwingen. Wer aber in wahrer Freiheit mit mir wandeln will, der muß alle bösen und ungeordneten Neigungen in sich ertöten und keinem Geschöpfe mit Eigenliebe und begierlich anhangen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 173-175.
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