58. Kapitel
Forsche nicht in den unerforschlichen Tiefen der göttlichen Entschlüsse!

[185] 1. Der Herr: Mein Sohn, zerbrich dir den Kopf nicht mit eitlem Forschen und Wortwechseln über die geheimen Gerichte Gottes. Warum dieser so arm und verlassen, jener so selig und in Gnade aufgenommen, dieser so tief erniedrigt, jener hoch erhöht wird. Denn alles dieses liegt über dem Gesichtskreise der menschlichen Vernunft. Kein menschliches Nachforschen kann die Ratschlüsse Gottes erforschen; keine gelehrte Streitrede kann sie erörtern. Wenn dir also dein Feind solche Gedanken in die Seele legt oder neugierige Menschen darüber Aufschluß von dir haben möchten, so antworte du nur mit dem Propheten (Ps. 119, 137): Gerecht bist du, o Gott, und gerecht sind alle deine Ratschlüsse. Und: Die Urteile des Herrn sind Wahrheit und bewähren sich selbst als Wahrheit. Denn meine Gerichte sind da, um einen heiligen Schauer über die Menschen-Herzen zu verbreiten, und nicht, um von den Menschen-Köpfen untersucht und gerichtet zu werden.

2. Grüble und disputiere auch nicht über die Verdienste der Heiligen, wer etwa heiliger als andere, wer im Reiche Gottes der Größere sein mag. Das Dichten und Forschen dieser Art erzeugt oft unnützes Gezänk, nährt Eitelkeit und Stolz, weckt Neid und Zwietracht, da einer diesen, ein anderer jenen Heiligen über alle andere hochmütig erhebt. Dergleichen Dinge wissen und erforschen wollen, schafft keinen Nutzen und mißfällt den Heiligen sehr, weil ich kein Gott der Zwietracht, sondern ein Gott des Friedens bin, und dieser Friede mehr in wahrer Demut als eigener Erhöhung besteht.[185]

3. Einige haben mehr Neigung zu diesem oder jenem Heiligen, aber bei dieser Neigung läuft mehr Menschliches als Göttliches mit unter. Ich bin's, der alle Heiligen geschaffen; ich habe ihnen Gnade geschenkt; ich habe ihnen Herrlichkeit zugeteilt, ich kenne ihre Verdienste; ich bin ihnen mit den Segnungen meiner Liebe zuvorgekommen; ich habe sie, die Geliebten, von Ewigkeit her gekannt; ich habe sie mir von der Welt ausgesucht, nicht sie mich. Ich habe sie durch meine Gnade gerufen, durch meine Erbarmungen zu mir gezogen, durch mancherlei Prüfungen hindurch geführt. Ich habe sie mit den süßesten Tröstungen heimgesucht; ich habe ihnen die Gabe der Beharrlichkeit geschenkt und ihrer Geduld die Krone aufgesetzt.

4. Ich kenne den ersten und letzten, ich liebe sie alle mit unvergleichbarer Liebe. Mich soll man in allen meinen Heiligen loben, mich über alles preisen, mich in jedem ehren; denn ich habe sie groß und herrlich gemacht und vorherbestimmt zur Herrlichkeit ohne alles vorhergegangene Verdienst.

Wer also Einen von meinen Geringsten verachtet, der ehrt auch den Großen nicht; denn ich habe den Kleinen und den Großen geschaffen. Und wer Einen von den Heiligen verkleinert, der verkleinert auch mich und alle übrigen im Reich der Himmel. Alle Heiligen sind eins durch das Band der Liebe; Eines fühlen, Eines wollen sie alle; alle lieben einander, als wenn sie Einer wären.

5. Und, was noch mehr ist: Alle lieben mich ungleich mehr als sich selbst und ihre Verdienste. Ganz außer sich und über alle Eigenliebe erhaben sind sie nichts als lauter Liebe zu mir und wollen nichts als Liebe, und diese Liebe ist ihr Genuß, ihre Ruhe. Nichts kann sie von mir abwendig machen, nichts kann sie niederdrücken, denn sie sind voll von der ewigen Wahrheit und durchglüht vom Feuer der unauslöschlichen Liebe. Verstummen sollen also die Fleisches- und Sinnen-Menschen, sie sollen es nicht wagen, auch nur ein Wort zu reden von dem Leben der Heiligen, denn sie kennen[186] keine Freude als die der Eigenliebe und keine Liebe als die zu sich selbst. Sie geben und nehmen nach ihren Neigungen, nicht nach dem Maßstabe der ewigen Wahrheit.

6. Viele fehlen hierin aus Unwissenheit; besonders die, welche noch nicht erleuchtet genug sind. Die haben vielleicht in ihrem ganzen Leben nie eine lautere, vollkommene, wahrhaft geistliche Liebe gegen irgendeinen Menschen gefühlt. Es ist weiter nichts als natürliche Neigung und bloß menschliche Freundschaft, was sie zu diesem oder jenem Heiligen hinzieht. Und ihr irdischer Sinn für das, was irdisch ist, mischt sich unvermerkt auch in ihr Urteil von dem, was überirdisch ist. Aber wer wird ihn messen, den unermeßlichen Abstand zwischen dem, was die Unvollkommenen denken, und zwischen dem, was die Erleuchteten im vollen Lichte höherer Offenbarung schauen?

7. Darum hüte dich, mein Sohn, von alledem vor- und aberwitzig zu reden oder zu schreiben, was dein Wissen übersteigt; strebe, ringe vielmehr danach, daß du einst wenigstens als der Geringste im Reiche Gottes kannst befunden werden. Und wenn jemand auch gewiß wüßte, wer im Reiche Gottes an Heiligkeit und Größe obenan stünde, was würde ihm dies Wissen nützen, wenn es ihn nicht zuerst vor mir in den Staub niederwürfe und dann wieder aufrichtete zur größeren Verherrlichung meines Namens? Ungleich gottgefälliger handelt der, welcher die Größe seiner Sünden und die Kleinheit seiner eigenen Tugend mißt und den Abstand seines Wandels von der Vollkommenheit der Heiligen tief beherzigt, als der, welcher die größeren oder kleineren Verdienste der Heiligen in gelehrten Streitreden auseinandersetzt. Besser, die Heiligen mit heißen Gebeten und Tränen in Demut und Andacht des Herzens um ihre Fürbitte anflehen, als was von ihrer Herrlichkeit für uns im Dunkel liegt, mit verlorenem Forschen aufhellen zu wollen.

8. Die Heiligen sind gar wohl zufrieden; wenn es nur die Menschen auch wären und ihrem windigen Geschwätze einmal ein Ende machten! Sie suchen keinen Ruhm in ihren[187] eigenen Verdiensten, weil sie sich selbst nichts Gutes, weil sie alles Gute mir zuschreiben, mir, der ich ihnen alles Gute aus grenzenloser Liebe geschenkt habe. Ihre Freude an Gott und ihre Liebe zu Gott ist so überfließend groß, daß ihnen nichts mangelt und nichts mangeln kann von alledem, was herrlich und selig macht. Je größer ihre Herrlichkeit, desto größer ihre Demut; je größer ihre Demut, desto näher und lieber sind sie mir. Deshalb heißt es auch, daß sie ihre Kronen niederlegten vor Gott und fielen auf ihr Angesicht vor dem Lamme und beteten an den Ewiglebendigen.

9. Viele fragen, wer der Größte im Himmelreiche sei, und wissen nicht, ob sie selbst gut genug sein werden, einst auch nur die Stelle des Geringsten einzunehmen. Es ist schon etwas Großes, auch der Geringste im Himmel zu sein, weil alle Kinder Gottes heißen und sind.

Es wird sich so recht in der Gemeinde der Heiligen erfüllen, was Jesaias (60, 22) sagt: Der Geringste soll zu Tausenden werden, der Kleinste zu einem starken Volke. Und von den Sündern gilt es, was der nämliche Prophet (65, 20) sagt: Fluch und Tod kommen über den Sünder von hundert Jahren.

Als seine Jünger Christus fragten (Matth. 18, 3), wer denn der Größere im Himmelreiche wäre, bekamen sie die unerwartete Antwort: Wenn ihr nicht ganz umgeändert und wie die kleinen Kinder werdet, so könnt ihr nicht in das himmlische Reich eingehen. Wer also sich verdemütigt, wie dieser Kleine da, der wird der Größere im Himmelreiche sein.

10. Wehe denen, die zu groß sind, um freiwillig mit Kleinen klein zu werden; denn die Tür des Himmels ist niedrig und nicht groß genug, um so große Menschen einzulassen! Wehe auch den Reichen, die ihren Himmel hier auf Erden haben, denn sie werden draußen stehen müssen und heulen, indes die Armen in das Reich Gottes eingehen werden! Darum freuet euch, ihr Demütigen, jauchzet, ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer, ist euer, wenn ihr in der Wahrheit wandelt.[188]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 185-189.
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