6. Kapitel
Prüfung der Liebe.

[92] 1. Der Herr: Mein Sohn! deine Liebe hat noch nicht Licht und Kraft genug.

Der Mensch: Herr! warum nicht?

Der Herr: Ein geringes Hindernis läßt dich die Bahn, die du betreten hast, gleich wieder verlassen. Du läufst auch noch viel zu hitzig nach allem, was dir Trost verheißt. Die kraftvolle Liebe steht fest in allen Versuchungen und traut den listigen Eingebungen des Feindes nicht. Wie ich ihr in heiteren Tagen gefalle, so mißfalle ich ihr in trüben Stunden nicht.

2. Die erleuchtete Liebe sieht nicht so sehr auf die Gaben dessen, der liebt, als auf die Liebe dessen, der gibt. Sie schätzt mehr das Herz, das von Liebe überfließt, als den[92] Gewinn, der aus der Liebe fließt, und der Geliebte ist ihr weit über alle Gaben. Die edle Liebe findet ihre Ruhestätte in keiner Gabe, sondern schwingt sich über alle Gaben und ruht in mir, dem Geber.

Deshalb ist aber nicht gleich alles verloren, wenn dein Denken und Empfinden von mir oder von meinen Heiligen nicht immer so hell und rein ist, als du es gern haben möchtest. Denn jene liebliche und heilige Empfindung, die hier und da dein Inneres durchströmt, kommt von stärkeren Zuflüssen der himmlischen Gnade her und ist ein Vorgeschmack von den Seligkeiten des himmlischen Vaterlandes. Aber auch auf diese liebliche Empfindung mußt du nicht sonderlich bauen; denn sie kommt und geht wieder. Kämpfen wider alle Regungen des Bösen, die du in dir wahrnimmst, und die Eingebungen des Teufels mit Verachtung zurückweisen, das ist das sicherste Wahrzeichen der Tugend und sehr verdienstlich.

3. Laß dich durch fremde Gaukelbilder nicht verstören, woher sie auch in dich kommen. Sei mannhaft, bleib deinem Vorsatze treu, und behaupte die gerade Richtung deines Herzens zu Gott. Und wenn deine Freude an Gott manchmal in hohe Entzückung übergeht und dein Herz bald darauf zu seinen alten Torheiten zurückkehrt, so mußt du deine Tugend deshalb nicht gleich für eine Täuschung halten. Denn der freie Wille leidet in der Tat mehr bei jenen Schwachheiten, als daß er selbst mitwirkt. Und solange sie dir mißfallen und dein Wille sich tapfer dagegen wehrt, so lange hast du nur gewonnen und nichts verloren.

4. Vergiß die Warnung nie: Dein alter Feind sucht im Grunde nichts anderes, als deine Sehnsucht nach dem Guten zu hindern und dich von allen Übungen der Andacht abzulocken. Er will es dahin bringen, daß du weder das Ehrwürdige an meinen heiligen Freunden mehr ehren, noch an meine Leiden in stiller Liebe denken, noch deine Sünde in heilsame Erwägung ziehen, noch dein eigenes Herz bewahren, noch den gefaßten Entschluß, im Guten voran zu[93] kommen, erneuern möchtest. Er bestürmt dich mit allerlei bösen Gedanken, um dir Ekel und Überdruß des Guten zu schaffen und dir alles Beten und Lesen in heiligen Schriften zu verleiden. Ein demütiges Bekenntnis deiner Sünden ist ihm ein Dorn im Auge, und, wenn er könnte, würde er dich auch von dem Tische des Herrn auf immer fernhalten. Glaube seinem Worte nicht, und fürchte seine List nicht, wenn er dir auch noch so oft Fallstricke legt. Ihm schreibe es zu, wenn er Böses und Unlauteres in deine Einbildungskraft legt.

Sprich zu ihm: Fort mit dir, du unreiner Geist! Schäme dich, Elender! du mußt ein sehr unreiner Geist sein, weil du mir solches in die Ohren trägst. Weiche von mir, du schlechtester aller Verführer! du sollst keinen Teil an mir haben. Denn Jesus ist für mich als tapferer Streiter, du mußt zu Schanden werden. Lieber will ich sterben, lieber alle Peinen ausstehen, als Eines Sinnes mit dir werden. Schweige, verstumme, ich habe kein Ohr mehr für deine Stimme. Du magst noch so viele Plagen auf mich wälzen: der Herr ist mein Licht, mein Heil, wen soll ich fürchten? Wenn sich ganze Kriegsheere wider mich lagern sollten, mein Herz zittert nicht. Der Herr ist meine Hilfe, der Herr ist mein Erlöser.

5. Kämpfe wie ein tapferer Streiter, und wenn du manchmal aus Schwachheit fällst, so steh wieder mutig auf, und sammle neue, größere Kräfte; erwarte mit Zuversicht von mir neue, größere Gnaden, und bewahre dich sorgsam vor eitler Selbstgefälligkeit und aller Hoffart. Die Selbstgefälligkeit und Hoffart treiben viele Menschen von Irrsal zu Irrsal und machen sie vollends blind, und ihre Blindheit wird nach und nach fast unheilbar. Dieser Sturz der Hochmütigen, die mit blindem Frevel auf sich selbst bauen, sei dir eine Schule der Wachsamkeit und Demut, und in dieser Schule harre aus bis ans Ende.[94]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 92-95.
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