11. Kapitel
Wie man Frieden in sich haben und voller Eifer werden kann.

[21] 1. Wir könnten viel Ruhe und Frieden haben, wenn wir uns Kopf und Herz nicht so sehr marterten mit dem, was andere reden und tun, und was doch unser Gewissen gar nicht berührt. Wie kann der lange in Frieden leben, der sich gerne in fremde Geschäfte mischt, der von außen soviele Anlässe zur Unruhe aufsucht, der sich so selten oder nur flüchtig in sich sammelt? Selig, die die rechte Einfalt des Herzens besitzen, denn sie werden viel Frieden haben!

2. Warum sind einige Heilige zu einer so reinen Vollkommenheit und zu einer so hohen Beschauung emporgekommen? Weil sie sich von allen irdischen Begierden loszumachen strebten; deswegen konnten sie mit dem Innersten ihres Herzens Gott allein anhangen und frei für sich bleiben. Die Leidenschaften[21] in uns geben dem armen Herzen so viel zu schaffen, und die vergänglichen Dinge außer uns halten dasselbe Herz in steter Bewegung. Wir erkämpfen selten auch nur über ein einziges Laster einen vollkommenen Sieg, und es fehlt uns durchaus am heiligen Eifer, täglich besser zu werden; deshalb bleiben wir immer so lau oder werden auch kalt.

3. Wären wir uns selbst ganz abgestorben, wäre unser Innerstes nicht im geringsten in das geheime Spiel der Neigungen verflochten und darin befangen, dann könnten auch wir göttlicher Dinge innewerden und von der himmlischen Beschauung hier schon einen Vorgeschmack bekommen. Das größte, oder besser, das einzige Hindernis sind wir selbst: wir sind nicht frei von Leidenschaft und Begehrlichkeit und versuchen nicht einmal, die vollkommene Bahn der Heiligen zu betreten. Es darf nur eine kleine Plage an unserer Tür anklopfen: sogleich ist all unser Mut dahin und wir sehen uns wieder nach menschlichen Tröstungen um.

4. Hätten wir den entschlossenen Mut, wie tapfere Kriegsmänner auf dem Schlachtfelde zu stehen, schnell würden wir die Hilfe des Herrn vom Himmel kommen sehen. Denn er will denen, die streiten und auf seine Gnade trauen, Hilfe senden, so gewiß er uns Anlaß zum Streite werden ließ, damit wir siegen lernen sollten. Wenn wir unsere Religiosität, unser Fortschreiten im Guten, nur in jene äußerlichen Übungen setzen, so wird unsere Frömmigkeit ein schnelles Ende nehmen. Die Axt müssen wir an die Wurzel anlegen, damit wir einmal von den ungeordneten Neigungen rein werden und einen stillen Sinn, einen ungetrübten Seelenfrieden bekommen.

5. Wenn wir in jedem Jahre nur Ein Laster ausrotteten, so würden wir bald vollkommen werden. Aber jetzt zeigt sich nicht selten das Gegenteil; wir spüren, daß wir in den ersten Tagen unserer Bekehrung besser und reiner waren als jetzt, nach vielen Jahren offenen Bekenntnisses. Der Eifer im Guten und das Gute selbst sollte mit jedem Tage in uns zunehmen,[22] aber jetzt wird es schon als eine große Seltenheit angesehen, wenn jemand nur noch einen Funken des ersten Eifers in sich erhalten konnte. Wenn wir uns anfangs nur ein wenig Gewalt antun würden, so würden wir in der Folge alles noch einmal so leicht und mit Freude tun.

6. Es ist schwer, wider seine Gewohnheit zu handeln; aber noch schwerer ist es, wider seinen eigenen Willen anzugehen. Doch wenn du geringe, leichte Hindernisse nicht überwinden kannst: wie willst du große, schwere Hindernisse aus dem Wege schaffen? Leiste deinen Neigungen Widerstand, gleich bei ihrem Entstehen, und mache dich durch frühe Entwöhnung von aller bösen Gewohnheit los, damit aus einer geringen Beschwernis nicht nach und nach eine größere wird. O könntest du begreifen, wie viel du selbst an innerem Frieden gewinnen und was für große Freude du andern bereiten würdest, wenn du von ganzem Herzen gutsein und rechttun würdest – ich glaube, du würdest mehr Sorge darauf wenden, immer größere Fortschritte im geistlichen Leben zu machen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 21-23.
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