13. Kapitel
Widersteh den Versuchungen!

[24] 1. Solange wir auf dieser Erde leben, können wir nicht ohne Trübsal und Versuchung durchkommen, wie es bei Hiob (7, 1) heißt: Versuchung ist des Menschen Leben auf Erden. Deshalb soll jeder bei allem, was ihn zum Bösen reizen kann, sorgsam und im Gebete wachsam sein, damit der Teufel nicht Raum gewinne, ihn zu hintergehen; denn dieser Feind schläft nicht, sondern geht umher und sucht, wen er verschlinge.

Es ist kein Vollkommener so vollkommen, kein Heiliger so heilig, daß er nicht manchmal noch zum Bösen versucht würde. Ein Mensch sein, und ohne alle Versuchung bleiben, das ist schlechterdings nicht möglich.

2. Doch verschaffen die Versuchungen dem Menschen große Vorteile, wenn sie ihm auch noch so lästig und beschwerlich sind. Denn sie tun ihm den dreifachen Dienst: sie demütigen, sie reinigen, sie unterweisen ihn in mancherlei Gutem.[24]

Alle Heiligen mußten sich durch viel Trübsal und Anfechtungen durchkämpfen, und sie sind nur in dieser großen Kampfschule so gut und groß gereift. Die aber den Versuchungen nicht standhalten konnten, sind von Gott als unbewährt verworfen worden.

Es ist kein Stand so heilig, kein Ort so abseits, daß Versuchung oder Trübsal nicht Eingang fänden.

3. Der Mensch ist nie ganz sicher vor Versuchungen, so lange er hier lebt. Denn wir tragen den Keim der Versuchung in uns selber, weil wir in Begehrlichkeit geboren sind. Ist eine Versuchung oder Trübsal überstanden, so kommt eine zweite, der ersten oft auf dem Fuße, nach; und zu leiden gibt es für uns immer etwas. Denn das große Gut unserer Seligkeit ist uns verloren gegangen. Viele wollen den Versuchungen entfliehen und fallen nur noch tiefer hinein. Durch bloße Flucht können wir nicht siegen; Geduld und Demut, die machen uns stärker als alle unsere Feinde.

4. Wer nur so von außen den Versuchungen aus dem Wege geht und nicht an die Wurzel in sich die Axt anlegt, der richtet im Grunde wenig aus; denn die Versuchungen werden nur desto schneller wieder zu ihm kommen, und die letzten Dinge dann ärger als die ersten sein. Nach und nach, in Geduld und Langmut, wirst du, gestützt auf Gottes Hilfe, leichter überwinden als mit Ungestüm und mit starrem Sinn.

Bist du in Versuchung, so frage um Rat; ist aber dein Bruder in Versuchung, so kehre ja nicht die rauhe Seite gegen ihn heraus; mild, gelinde, sanft sei dein Blick, dein Wort, deine Gebärde; sinne darauf, wie du ihn ermuntern, trösten könntest, und tu ihm alles, wie du wünschtest, daß man dir täte, wenn du an seiner Stelle wärest.

5. Die Unbeständigkeit des menschlichen Gemütes und das geringe Zutrauen zu Gott sind der Anfang aller Versuchungen zum Bösen. Denn, wie ein Schiff ohne Steuermann von den Wellen hin und her getrieben wird: so wird ein schwacher Mensch, der seinen Vorsatz verlassen hat, von allerlei Versuchungen hin und her geworfen. Das Feuer prüft das[25] Eisen, die Trübsal den Gerechten. Oft wissen wir selbst nicht, was wir können, aber die Versuchung macht offenbar, was wir sind.

Wachen, wachen müssen wir, besonders im Anfange der Versuchung. Denn, wenn der Feind nicht zur Tür herein gelassen, sondern noch vor der Türschwelle bei dem ersten Anklopfen zurückgeschlagen wird, so hat es mit dem vollkommenen Siege nicht mehr soviel Schwierigkeiten. Daher jemand (Ovidius) sagte: Am Anfang leiste Widerstand; ist einmal die Krankheit durch längere Zeit übermächtig geworden, so kommt alle Arznei zu spät. Anfangs ist es ein einfacher Gedanke, der dich angreift; hernach kommt eine lebhafte, mächtige Vorstellung dazu; zur Vorstellung gesellt sich die Lust, zur Lust die Begierde; jetzt sagt der Wille ja dazu. So nimmt der Feind nach und nach die ganze Festung ein, wenn man ihm nicht gleich anfangs Widerstand leistet. Und je länger du säumst, Widerstand zu leisten, desto schwächer wirst du, desto übermächtiger dein Feind.

6. Einige leiden im Anfange ihrer Bekehrung große Versuchungen, andere am Ende ihrer Laufbahn. Wieder andere haben ihr ganzes Leben durch hart zu kämpfen. Einige werden von den Versuchungen schonend und fast freundlich behandelt – alles nach der Weisheit und Güte der heiligen Vorsehung, die den Stand und das Vermögen der Menschen wägt und alles zum Heile der Auserwählten vorherbestimmt.

7. Darum dürfen wir, wenn wir versucht werden, den Mut nicht sinken lassen, sondern müssen mit neuem Eifer zu Gott flehen, daß er uns in aller Trübsal zu Hilfe kommen, und, nach dem Worte des Apostels Paulus (1. Kor. 10, 13), den Gang der Versuchung lenken und uns einen Ausweg schaffen wolle. Laßt uns also bei jeder Trübsal und Versuchung, im Gefühle unseres Elendes, unser Herz erniedrigen unter die allmächtige Hand Gottes; denn er wird die Demütigen erretten und erhöhen.

8. Versuchungen und Trübsale sind der Prüfstein, der über die Fortschritte des Menschen im Guten entscheidet, sind die[26] Feuerprobe, die der Tugend neuen Wert verschafft und das verborgene Gute an das helle Tageslicht bringt.

Wenn der Mensch nichts hat, das ihn drückt und beschwert, dann ist es nichts Großes, andächtig und voll Glut im Geiste sein. Aber, in den Tagen des Unglücks geduldig sein und sich in Geduld bewahren können, das läßt große Fortschritte in allem Guten hoffen. Es gibt auch Menschen, die vor großen Versuchungen bewahrt und doch in den täglichen, kleinen Gefechten oft überwunden werden, damit sie aus den geringen Niederlagen Demut lernen und in großen Versuchungen nicht zu viel auf sich trauen mögen, da sie bei geringen Angriffen so viele Schwächen haben blicken lassen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 24-27.
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