15. Kapitel
Von den Werken, die aus Liebe geschehen.

[28] 1. Und wenn du die ganze Welt gewinnen könntest, und um keines Menschen willen darfst du Böses tun. Aber aus Liebe zu deinem Nächsten, der Hilfe nötig hat, darfst du hie und da ein gutes Werk kühn und frei unterlassen, oder das geringere in ein besseres verwandeln. Denn wenn du deinem Nächsten zu Hilfe kommst, so wird dadurch das gute Werk nicht zerstört, sondern in ein besseres verwandelt.

Ohne innere Liebe ist alles äußere Werk nichts nütze. Was aber aus Liebe geschieht, das ist groß, das bringt große Frucht – so gering und ungeachtet es im Auge des Menschen immer sein mag. Denn Gott sieht mehr auf das, was dich zum Tun treibt, als auf das, was du wirklich tust.

2. Wer viel Liebe hat, der wirkt viel. Wer seine Dinge recht tut, der wirkt viel. Wer lieber der Gemeinschaft als[28] seinem Eigenwillen dient, tut wohl. Oft scheint Liebe zu sein, was doch eitel Fleisch und Blut ist. Denn natürliche Zuneigung, Eigenwille, Hoffnung auf Wiedervergeltung, Trieb zu Bequemlichkeit, die mischen sich fast immer in unsere guten Werke.

3. Wer die wahre, vollkommene Liebe hat, der sucht in keiner einzigen Sache sich selbst; nur die Ehre seines Gottes will er in allen Dingen gefördert sehen. Er beneidet auch keinen Menschen; denn er jagt nach keiner Freude, die nur er für sich genießen könnte. Auch ist das, was ihm Freude macht, nicht er selbst; sondern hoch über alle Güter schwingt sich sein Geist hinauf und will nur in Gott selig sein. Er schreibt keinem Geschöpfe etwas Gutes zu, sondern führt alles Gute ungeteilt wieder auf Gott zurück. Denn Gott ist ihm der Brunnquell, aus dem alles Gute quillt, Gott ist ihm der Endpunkt, in dem alle Heiligen Ruhe finden und die höchste Seligkeit. Wenn jemand nur ein Fünklein der wahren Liebe in sich hätte, er würde sich des lebendigen Gefühls nicht erwehren können, daß alles Irdische voll Eitelkeit ist.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 28-29.
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