16. Kapitel
Fremde Fehler muß man tragen.

[29] 1. Was der Mensch an sich oder an andern nicht bessern kann, das muß er mit Geduld tragen, bis es Gott anders macht. Denke nur, daß es so vielleicht besser ist, indem es helfen kann, deinen Sinn zu bewähren und dich in der Geduld zu üben, ohne welche unsere guten Werke nicht sonderlich viel Gewicht an sich haben. Da mußt du aber bei allem, was dir hinderlich im Wege liegt, zu Gott bitten, daß er dir zu Hilfe komme, damit du es mit stillem, sanftem Gemüte tragen lernst.

2. Hast du deinen Nachbar ein- oder zweimal ermahnt und mit deiner Ermahnung nichts ausgerichtet, so laß dich[29] mit ihm in keinen Zank ein, sondern stelle die ganze Sache Gott anheim, daß sein Wille geschehen und seine Ehre in allen seinen Dienern gefördert werden möge. Denn er weiß ja auch das, was böse ist, zum Guten zu lenken. Lerne Geduld haben mit fremden Fehlern, und alle Schwachheiten, wie sie immer heißen, tragen. Denn sieh! du hast auch viel an dir, was andere tragen müssen. Du kannst aus dir selbst nicht den Menschen schaffen, den du gern aus dir machen möchtest: wie wirst du denn einen andern nach deinem Kopf umschaffen können? Wir sähen es gern, daß die andern keine Fehler hätten, aber die eignen lassen wir ungebessert.

3. Wir sähen es gern, daß andere in strenge Zucht genommen würden; an uns aber soll die strenge Zucht keine Hand anlegen dürfen. Wir haben großes Mißfallen daran, daß anderen so vieles, was sie wider die Ordnung begehen, gestattet wird, und können es nicht leiden, daß uns das Geringste, das wir haben wollen, versagt wird. Wir wünschen, daß andere durch schärfere Verordnungen im Zaume gehalten werden, und können es nicht ertragen, daß unsere Freiheit nur im geringsten beschränkt wird. Da wird's denn offenbar, wie selten wir unseren Nächsten mit denselben Augen ansehen, mit denen wir uns anschauen. Wenn alle Menschen um dich her vollkommen wären, was hätte dann einer von dem andern für die Sache Gottes zu leiden?

4. Nun aber hat es Gott so geordnet, daß einer die Bürde des andern tragen lernen soll (Gal. 6, 2). Denn ohne Fehler ist keiner, keiner ohne Bürde, keiner sich selbst genug; keiner weiß sich in allem selbst zu raten, einer muß den andern ertragen, einer den andern trösten, stützen, unterweisen, ermahnen. Wie groß aber deine Stärke ist, das offenbart sich viel heller in Widerwärtigkeiten. Denn die Gelegenheiten machen den Menschen nicht erst schwach und gebrechlich, sondern sie zeigen nur, wie schwach und gebrechlich er schon ist.[30]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 29-31.
Lizenz:
Kategorien: