19. Kapitel
Von den Übungen eines frommen Religiosen.
(Für alle Christen in und außer den Klöstern.)

[34] 1. Das Leben eines guten Religiosen muß mit allen Tugenden im Innern geziert sein, damit er genau das sei, was er im Äußern zu sein scheint. Und nicht nur das: Es soll in seinem Innern noch weit mehr Gutes sein, als im Äußern erscheint. Denn unser Gott schaut in unser Inneres, und zu diesem unserm Gott müssen wir überall in tiefer Ehrfurcht aufblicken, und vor seinem Angesichte müssen wir rein wie Engel wandeln.

Jeden Tag müssen wir unseren ersten Entschluß erneuern und uns zu neuem Eifer erwecken lassen, als wenn wir uns erst heut zu Gott bekehrt hätten; jeden Tag müssen wir zu ihm rufen: Steh du, lieber Herr und Gott, steh du mir bei in meinem Vorhaben und in deinem heiligen Dienste! Stärke du mich, daß ich heut einmal recht anfange; denn alles, was ich bisher getan habe, ist nichts.

2. Wie unser Vorsatz, so ist der Lauf unserer Besserung. Und, wer immer noch besser werden will, muß immer sehr fleißig sein. Wenn nun aber der, welcher einen starken Vorsatz gefaßt hat, doch wieder oft im Guten schwach wird: was muß aus dem werden, der sich selten, oder nur schwankend zwischen Wollen und Nichtwollen, etwas Gutes vorsetzt? Auf mancherlei Weise werden wir indessen unserem Vorsatz untreu, und selten können wir auch nur eine geringe Übung im Guten unterlassen, ohne uns selbst Schaden zu tun. Die Gerechten wollen in ihren Vorsätzen lieber unter dem Regimente der Gnade als unter dem Einfluße ihrer eigenen Weisheit stehen. Gott allein ist es auch, auf den sie stets vertrauen in allem, was sie unternehmen. Denn der Mensch denkt, aber Gott lenkt, und des Menschen Weg liegt in seiner Hand.

3. Wenn du deine Übung hier und da aus gottseligen Absichten[34] oder um deinen Brüdern nützlich zu sein, unterlässest, so kannst du sie leicht nachholen. Aber wenn du aus Überdruß oder aus Nachlässigkeit von deinen Übungen abgehst, so ist das sehr gefehlt, und du wirst schon bald empfinden müssen, daß es dir auch geschadet hat.

Wir dürfen wohl tun, was wir können: wir werden doch oft genug, schon bei geringen Anstößen, Fehltritte tun. Unsere Vorsätze müssen immer auf etwas Bestimmtes gerichtet sein, und vor allem gegen das, was uns am meisten im Wege liegt. Wir müssen unser Inneres und Äußeres strenge durchforschen und gewissenhaft ordnen; denn beides hilft uns auf dem Wege zum Guten weiter.

4. Wenn du dich nicht immer in dir sammeln kannst, so sammle dich doch hier und da, wenigstens einmal im Tage, am frühen Morgen oder am Abend. Am Morgen erwecke dich zu einem guten Vorsatz; am Abend durchforsche deinen Wandel, wie den Tag über deine Gedanken, deine Worte, deine Handlungen beschaffen gewesen sind. Vielleicht hast du darin öfter wider Gott und wider deinen Nächsten gesündigt. Rüste dich, wie ein Kriegsmann, gegen die List des Teufels. Besiege das unbezähmte Gelüsten nach Speise und Trank, und du wirst dir dadurch den Sieg über die Lust des Fleisches schon sehr erleichtern. Sei nie ganz müßig, sondern lies oder schreib, oder bete, oder betrachte, oder arbeite etwas zum Nutzen der Gemeinde. Doch bei leiblichen Übungen mußt du besonders vorsichtig zu Werke gehen; es sind nicht alle solche Übungen allen Menschen im gleichen Maße anzuraten.

5. Was nicht gemeinsame Übung ist, das stelle vor anderen nicht zur Schau. Denn, was besonders und für dich allein ist, das wird auch sicherer im Stillen geübt. Du mußt aber deshalb nicht träge zu gemeinsamen, und vorschnell zu besonderen Übungen werden. Erst wenn du die Pflichten, welche dir mit anderen gemein sind, genau und treu erfüllt hast, dann gehörst du ganz dir und magst, wenn noch Zeit übrig ist, dich deiner besonderen Andacht überlassen.[35]

Es taugt nicht jede Übung für alle Menschen. Diese ist jenem, jene diesem angemessener. Auch sind, nach Unterschied der Zeit, einige Übungen anziehender für uns als andere, einige an Festtagen, andere an gemeinen Tagen schmackhafter. Anderer Übungen bedürfen wir in den Stunden der Versuchung, anderer in den Tagen des Friedens und der Ruhe. Andere Gedanken sind uns willkommen, wenn uns ein Herzeleid die Flügel bindet, andere, wenn wir in Freude vor dem Herrn dahinwandeln.

6. Um die vornehmsten Festtage des Jahres sollen alle unsere guten Übungen neues Leben gewinnen und die Fürbitten der Heiligen mit mehr Inbrunst angefleht werden. Unsere guten Entschließungen sollten immer so, von einem Feste zum andern hin, gefaßt werden, gerade als wenn wir den nächsten Festtag nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel begehen und daselbst schon den ewigen Feiertag mitfeiern würden. Eben deshalb sollten wir uns in den heiligen Tagen sorgsam vorbereiten, sollten sie mit mehr Andacht zubringen, sollten alle Regeln weit genauer beobachten als an andern Tagen, indem es uns zu Gemüt sein sollte, als ob wir in Kurzem den Lohn für unser Tagwerk von Gott empfangen würden.

7. Wenn der Herr den Zahltag für uns aber weiter hinausschiebt, so dürfen wir nur denken: wir waren zum Feste noch nicht hinlänglich gerüstet gewesen, noch nicht würdig der großen Herrlichkeit, welche zur bestimmten Zeit sich an uns offenbaren wird. Wir müssen uns also zum Heimgang noch besser vorbereiten. O selig, sagt der Evangelist Lukas (12, 43), selig der Knecht, den der Herr bei seiner Ankunft wird wachend finden! Ich sage Euch: Er wird ihn mit Vollmacht über alle seine Güter setzen.[36]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 34-37.
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