2. Kapitel
Sei gering in deinen Augen!

[10] 1. Es ist des Menschen Natur, viel wissen zu wollen: aber noch so viel wissen und dabei den Herrn nicht fürchten – wozu nützt denn das? Wahrhaftig, besser ein demütiger[10] Bauer, der seinem Gott dient, als ein stolzer Philosoph, der sich und den Weg seines Heils außer acht läßt und dafür den Lauf der Sterne mißt.

Wer sich wahrhaft kennt, der hält sich selbst für gering und kann keine Freude daran haben, wenn ihn die Menschen loben.

Verstünd ich alles, was in der Welt ist, und hätte die Liebe nicht, was nützte mir all dies vor Gott, der mich nach meinem Tun richten wird?

2. Laß ab von überspannter Wißbegier: denn es ist viel Zerstreuung und Trug dabei. Die viel wissen, wollen gern gesehen werden, und sie hören es gern, wenn man von ihnen sagt: Sieh! das sind weise Männer!

Es gibt so viele Dinge in der Welt, deren Erkenntnis der unsterblichen Seele nichts oder gar wenig nützt. Und auf etwas anderes sinnen, als was für das Heil der unsterblichen Seele dienlich ist – dazu gehört wahrhaftig ein großes Maß von Torheit.

Viel Worte machen, das stillt den Hunger der Seele nicht. Aber gut sein, und recht tun – das ist Labsal für unsern Geist, und ein reines Gewissen schafft uns große Zuversicht auf Gott.

3. Je mehr du weißt und je besser du's einsiehst, desto strenger wirst du darob gerichtet werden, wenn dein Leben nicht heiliger war. Darum trag du den Kopf deshalb nicht höher, weil du diese oder jene Kunst oder Wissenschaft besitzest. Daß dir so viel Erkenntnis gegeben ist, das soll dich mehr furchtsam als stolz machen. Wenn es dir in den Kopf steigen will, daß du so viele Dinge weißt und so gründlich verstehst: so vergiß nicht, daß es noch ungleich mehr Dinge gibt, von denen du nichts weißt und nichts verstehst. Sei nicht verstiegen, sondern bekenne lieber deine Unwissenheit. Wie magst du dich auch nur über einen einzigen Menschen erheben? Es werden doch noch viele in der Welt sein, die gelehrter sind als du und die das Gesetz besser verstehen.

Willst du etwas Rechtes lernen und wissen, so lerne die[11] große Kunst, gern unbekannt zu sein und für nichts gehalten zu werden.

4. Sich selbst wahrhaft erkennen und nach Verdienst verachten können, das ist die erhabenste Wissenschaft, das ist die heilsamste Lektion. Von andern stets gut und edel denken, und aus sich nichts machen, das ist große Weisheit und Vollkommenheit. Und, wenn du einen andern öffentlich fallen und grobe Verbrechen begehen sähest, so dürftest du dich deshalb nicht für besser halten als ihn. Denn sieh! du weißt ja nicht, wie lange du selbst noch im Guten feststehen wirst. Gebrechlich sind wir alle, aber gebrechlicher als du sei in deinen Augen keiner.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 10-12.
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