22. Kapitel
Von der Betrachtung des menschlichen Elends.

[42] 1. Sei, wo du willst, und wende dich, wohin du immer willst: wenn du dich nicht zu Gott hinwendest, so bist du überall ein elender und beklagenswerter Mensch. Warum wirst du sogleich uneins mit dir, wenn die Dinge einen anderen Gang nehmen, als du wünschst? Wer ist der Mensch, dem alles nach seinem Sinne geht? Ich nicht und du nicht und kein Mensch auf Erden. Kein Mensch ist ohne Plage und Trübsal auf der Welt, er sei König oder Papst. Wer hat es wohl besser? Sicherlich nur der, welcher gut und groß genug ist, für Gott etwas leiden zu können.

2. Da klagen die Schwachen und Unmündigen, und ihrer sind viele: »Sieh! dieser läßt sich's recht wohl sein, ist reich und groß und mächtig, und steht überall obenan!« Schau du aber nur mit festem Blick auf die Güter des Himmels hin, und du wirst klar sehen, daß alle diese Güter der Erde nicht die rechten Güter des Menschen sein können. Sie sind ja so unsicher, und mehr Plagen als Güter, die ihren Besitzer wahrhaft plagen mit tausend Furchten und Sorgen.

Überfluß in zeitlichen Gütern haben, das ist die Seligkeit des Menschen nicht. Der Mensch ist reich genug mit mittlerem Maß. Recht betrachtet, ist es doch ein Elend, auf Erden zu leben. Und gerade für den, der mehr nach dem heiligen[42] Gesetze seines Geistes leben will, gerade für den hat dieses Leben mehr Bitterkeit als für andere; denn er empfindet es besser als andere und sieht es klarer ein, was es für ein schwaches und gebrechliches Ding um einen Menschen in diesem Leben ist. Denn essen, trinken, wachen, schlafen, ruhen, arbeiten und den übrigen Bedürfnissen der körperlichen Natur hingegeben sein, das ist doch alles nur Plage, und keine geringe Plage für einen Menschen, der den Umgang mit Gott bereits gekostet hat und nun gern unabhängig von allem Drucke der Natur und rein von aller Sünde sein möchte.

3. Die Bedürfnisse des Leibes drücken in diesem Leben den inneren Menschen doch sehr. Ein Prophet (Ps. 25, 17), der von alledem gern frei gewesen wäre, bat darum voller Andacht: Herr! rette mich von diesem Druck! Aber wehe denen, die ihr Elend nicht erkennen, und zweimal wehe denen, die dieses elende und gebrechliche Leben noch lieben können! Es fehlt nicht an Leuten, die, ob sie sich gleich nur den notdürftigen Unterhalt, und diesen kaum mit Handarbeit oder mit dem Bettelstab erwerben können, doch mit ihrem Herzen so fest an diesem Leben hängen, daß sie auf Gottes Reich gern Verzicht tun würden, wenn sie nur ewig hier bleiben könnten.

4. Die Toren! Die Ungläubigen! So tief kann ein Mensch im Schlamm der Erde versinken, daß er nur noch für das Irdische Sinn und Empfindung behält! Am Ende aber werden sie, die Unglücklichen, es wohl hart empfinden, wie gering und nichtig das war, was sie geliebt haben. Ganz anders die Heiligen Gottes und alle edlen frommen Freunde Christi! Sie sahen nicht auf das, was dem Fleische zusagte, noch was zu ihren Zeiten glänzte, sondern all ihr Hoffen und Trachten war aufwärts gerichtet, zu dem, was gut ist, und gut bleibt – ewig. Ja, aufwärts, gen Himmel, zu dem Bleibenden und Unsichtbaren, flog all ihr Verlangen, damit sie nicht etwa von der Liebe zum Sichtbaren und Vergänglichen ergriffen und zur Erde herabgezogen werden möchten.[43]

5. Lieber Bruder, nichts soll dir die Zuversicht aus dem Herzen stehlen können, daß auch du noch im wahren Leben des Geistes weiter kommen wirst. Noch hast du Zeit und Stunde. Aber warum immer so gezögert und das Wichtigste von heute auf morgen verschoben? Steh auf, und fang in diesem Augenblicke an, und sprich zu dir: Jetzt ist es Zeit zum Handeln, Zeit zum Streiten, jetzt hat die Stunde zu meiner Besserung geschlagen! Ist dir nicht wohl zumute und kommt eine Plage über dich, nun, das ist die rechte Zeit, dich eines besseren, seligen Lebens würdig zu machen. Du mußt noch zuvor durch Feuer und Wasser hindurch, ehe du in das Land der Erquickung kommen kannst. Und, wenn du dir selbst nicht Gewalt antust, so wirst du deine Fehler nie besiegen.

Solange wir in diesem gebrechlichen Leibe wohnen, können wir nicht ohne Sünde, nicht ohne Plage und Überdruß durchkommen. Wer möchte nicht gern frei von allem Elende sein? Aber, nachdem wir die Unschuld durch die Sünde verloren haben, ist nun auch die wahre Seligkeit für uns dahin, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als Geduld zu haben mit uns selbst, und auf das Erbarmen Gottes zu warten, bis das Reich der Sünde zerstört, bis die Sterblichkeit selbst vom Leben verschlungen sein wird.

6. Wie groß ist doch die Gebrechlichkeit des Menschen, wie geneigt zur Sünde unsere Natur! Heute bekennst du deine Sünde, und morgen tust du wieder die nämliche Sünde, die du heute bekannt hast! Jetzt fassest du den männlichen Vorsatz, dich vor aller Sünde zu hüten, und nach einer Stunde handelst du so, als wenn nie ein Vorsatz in deine Seele gekommen wäre. Wir haben also Ursache genug, demütig zu sein und uns selbst für gering zu halten, weil wir gar so gebrechlich und wandelbar sind. Es kann auch durch Nachlässigkeit schnell wieder zugrunde gerichtet werden, was nach vieler Mühe endlich kaum durch Gottes Gnade erworben ist.

7. Was wird am Ende unseres Lebens noch aus uns werden,[44] die wir schon am Morgen alles Feuer auf unserm Herde haben ausgehen lassen? Weh uns, wenn wir schon so frühe beruhigt die Waffen weglegen wollen, als wenn schon Friede und Sicherheit im Lande wäre, da wir doch noch keine einzige Spur der Heiligkeit auf unserem Lebenswege hinterlassen haben! Es wäre nötig, daß wir wieder von vorne anfingen und uns, wie gute Anfänger, von neuem zu einem heiligen Leben anleiten ließen. Vielleicht wäre Hoffnung, daß wir künftig unsere Fehler verbesserten und im Geistigen weiter vorankämen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 42-45.
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