23. Kapitel
Sterblicher, denk ans Sterben!

[45] 1. Schnell wird es mit dir hienieden geschehen sein. Sieh also, wie es jetzt um dich steht. Heute noch ist der Mensch, und morgen ist er nicht mehr. Und ist er einmal aus den Augen, so ist er auch schnell aus dem Gedächtnis der Menschen dahin. Wie ist doch das Herz des Menschen so hart und so stumpf, daß er immer so fest hangt an der Gegenwart und nicht hinausblickt auf die Zukunft!

Alles, was du denkst und tust, alles soll so gedacht und getan werden, als wenn du heut noch sterben müßtest. Wenn du wirklich ein gutes Gewissen hättest, so würdest du nicht sonderlich vor dem Tode zittern. Immer besser, die Sünde meiden, als den Tod fürchten.

Wenn du heut nicht bereit bist, wie willst du es morgen sein? Der morgige Tag ist ein ungewisser Tag, und wer hat es dir denn verbürgt, daß du ihn noch erleben wirst?

2. Was nützt es dir, lange zu leben, wenn dein Eifer, besser zu werden, von so kurzer und von so geringer Wirkung ist? Ach! ein langes Leben macht den Menschen nicht immer besser, macht vielmehr die Zahl seiner Schulden oft noch größer. Hätten wir doch hier auf Erden auch nur Einen Tag recht und gut gelebt![45]

Es gibt Leute, die von ihrer Bekehrung an die Jahre fleißig zählen; aber die Frucht der Bekehrung ist doch oft sehr gering. Wenn es für dich so schrecklich ist, zu sterben, so ist es vielleicht noch gefährlicher, länger zu leben.

Selig, wer die Stunde des Todes immer vor Augen hat und sich täglich zum Sterben rüstet! Wenn du einen Menschen sterben siehst, so sprich zu dir: Diesen Weg muß auch ich gehen!

3. Wenn der Morgen kommt, so rechne damit, daß du vielleicht den Abend nicht mehr erleben wirst. Und, wenn der Abend da ist, so wage es nicht, dir noch den Morgen zu versprechen. So sei immer bereitet, und lebe so, daß dich der Tod nie unbereitet finden kann. Es sterben doch so viele plötzlich und ehe sie es vermuten. Der Menschensohn kommt ja auch in diesem Sinn zur Stunde, wo man es nicht glaubt. Wenn diese letzte Stunde gekommen sein wird, dann wirst du dein ganzes vergangenes Leben in einem völlig anderen Lichte sehen, und es wird dir dein Herz zerreißen, daß du im Guten so nachlässig und lau gewesen bist.

4. Wie glücklich und klug ist doch der Mensch, der keine andere Sorge kennt, als so zu leben, wie er im Tode wünschen wird, gelebt zu haben! Die Welt standhaft schmähen, in allen Tugenden mit Eifer vorwärts dringen, Zucht und Ordnung lieb haben, in strenger Buße und schnellem Gehorsam, in Verleugnung seiner selbst und in Erduldung alles Widrigen aus Liebe zu Christus ausharren: das gibt Mut und Zuversicht, selig zu sterben.

In gesunden Tagen kannst du viel Gutes tun; was du aber in kranken Tagen ausrichten wirst, davon habe ich keinen Begriff. Kranksein macht wenig Menschen besser – Wallfahrten wenige heilig.

5. Vertrau nicht auf Freunde und Verwandte, und schieb die Sorge um dein Heil nicht in die Zukunft hinaus. Die Menschen werden deiner doch viel früher und schneller vergessen, als du es jetzt glauben kannst. Es ist ungleich besser, jetzt, da du noch Zeit dazu hast, dein Geschäft mit aller[46] Vorsicht in Ordnung zu bringen und gute Werke vorauszuschicken, als auf fremde Hilfe zu warten. Wenn du jetzt für dich selbst so unbesorgt dahinlebst, wer wird in Zukunft für dich besorgt sein? Jetzt ist die Zeit kostbar, jetzt sind die Tage des Heils, jetzt ist die Zeit der Gnade. Aber wehe, daß du diese Zeit, in der du dir einen Schatz sammeln könntest, von dessen Früchten du die ganze Ewigkeit zu leben hättest, nicht besser anwendest! Du wirst vielleicht bald um die Frist Eines Tages, Einer Stunde bitten, um nicht ungebessert dahinsterben zu müssen, und wer weiß, ob du sie bekommen wirst.

6. Sieh doch, lieber Bruder, nimm es doch zu Herzen, wie groß die Gefahr, wie peinlich die Furcht ist, von der dich nur die ernsteste Vorbereitung auf den Tod freimachen kann! So lerne denn jetzt leben, und so leben, daß dir die Todesstunde mehr Freude als Schrecken bringen möge!

Lerne jetzt der Welt sterben, damit du im Tode mit Christus ewig fortleben kannst. Lerne jetzt alles Vergängliche verschmähen, damit du dann, frei von allen Banden, zu Christus heimgehen kannst. Laß jetzt deinen Leib die Züchtigung der Buße fühlen, damit du einst voll Zuversicht bist.

7. O du Tor! was schmeichelst du dir mit der Hoffnung, lange zu leben, da du auch nicht auf Einen Tag sicher rechnen kannst? Wie viele haben sich betrogen und mußten unverhofft von dieser Welt scheiden! Wie oft hast du erzählen hören: dieser ist erstochen worden, jener ertrunken; dieser fiel vom Dache und brach sich den Nacken, jener starb am Tische, der beim Spiele; einen tötete das Feuer, den andern das Schwert, einen dritten die Seuche; einen vierten ermordeten Räuber! So sterben alle dahin, und das Leben des Menschen geht wie ein Schatten plötzlich vorüber.

8. Wer wird deiner nach dem Tode noch gedenken? Wer für dich beten? O Freund, jetzt, jetzt lege die Hand ans Werk und tu, was du tun kannst. Denn du weißt nicht, wann du sterben wirst, und was mit dir nach dem Tode geschehen[47] wird. Jetzt, da du noch Zeit hast, jetzt sammle dir unsterblichen Reichtum. Dein Heil sei dein einziger Gedanke, was Gottes ist, deine erste Sorge. Jetzt mache dir die Heiligen Gottes zu Freunden, das heißt, verehre sie und lebe wie sie, damit sie dich bei deinem Scheiden vom Leben in die ewigen Gezelte aufnehmen.

9. Sei du immer wie ein Fremdling und Gast auf Erden und halte die Dinge der Welt für Geschäfte, die dich nichts angehen. Halte dein Herz frei und in steter Richtung nach oben zu Gott; denn es ist für dich hienieden keine bleibende Stätte. Dorthin sende täglich deine Tränen, Gebete und Seufzer, damit ihnen einst nach dem Tode dein Geist selig nachfolgen und zum Herrn heimgeholt werden möge! Amen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 45-48.
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