5. Kapitel
Wie man die heiligen Schriften lesen soll.

[15] 1. Wahrheit muß man in den heiligen Schriften suchen, Wahrheit, nicht Beredsamkeit. Jede heilige Schrift soll in dem Geiste gelesen werden, in dem sie verfaßt worden ist.[15] Es muß dir weit mehr um das Heilsame der Lehre als um die Feinheit des Ausdruckes zu tun sein. Und ein Buch, das noch so schlicht und kunstlos, dabei aber mit Andacht geschrieben ist, sollst du ebenso gern lesen als ein anderes, in dem alles tief und erhaben gedacht ist.

Nie soll dich das Ansehen eines Schriftstellers irremachen; nie sollst du darauf acht haben, ob die großen Gelehrten ihn für ihresgleichen halten oder nicht. Die Liebe zur reinen Wahrheit, und nur diese Liebe soll dich zum Lesen treiben. Frage nicht lange, wer das gesagt hat, sondern sieh nur immer auf das, was da gesagt wird.

2. Die Menschen, die heute lehren, sind morgen nicht mehr; aber die Wahrheit des Herrn bleibt ewig. Der Herr redet auf mancherlei Weise zu uns, ohne alles Ansehen der Person.

Was uns im Schriftlesen so oft im Wege steht, das ist unsere Neugier und unser Fürwitz. Wir wollen da noch grübeln und begreifen, wo wir weiter nichts als einfältig vorbeigehen sollten. Wenn dich das Lesen wirklich besser machen soll, so lies mit Demut, mit Einfalt, mit Treue, und laß dich die eitle Lust nicht anfechten, ein großer Schriftgelehrter zu heißen.

Frage gern und höre schweigend, was die heiligen Männer lehren. Laß es dich auch nicht verdrießen, auf die Gleichnisreden der Alten zu horchen. Denn sie sind nicht ohne Grund da.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 15-16.
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