6. Kapitel
Von ungeordneten Neigungen.

[16] 1. Sobald irgendeine Begierde des menschlichen Herzens aus der Ordnung tritt, wird der Mensch uneins mit sich. Der Hochmütige und der Geizige haben nie Ruhe; wer aber die wahre Demut und die rechte Armut des Geistes besitzt, der hat unerschöpflichen Reichtum des Friedens in sich. Wer in[16] sich noch nicht ganz abgestorben ist, der ist schnell versucht und schnell überwunden; jede Kleinigkeit und geringfügige Dinge überwinden ihn. Wer schwach im Geiste ist, noch unter dem Gebot des Fleisches steht, noch von dem Hange zu sinnlichen Dingen gemeistert wird, für den ist es ein schweres Stück Arbeit, sich von irdischen Begierden ganz und auf immer loszumachen. Deshalb macht er ein finsteres Gesicht, wenn er sich selber etwas Angenehmes versagen soll, und bricht leicht in Zorn aus, wenn ihm ein anderer widersteht.

2. Hat er aber Begehrtes erreicht, so straft ihn das schuldige Gewissen auf der Stelle. Denn er hat nun seine Leidenschaft befriedigt, aber diese Befriedigung kann ihm nicht im geringsten zum Frieden verhelfen, den er gesucht hat. Also nicht dadurch, daß du deinen Begierden nachgibst, sondern dadurch, daß du ihnen Widerstand leistest, findest du den wahren Frieden des Herzens. Kein Friede also in einem Herzen, das dem Gesetze des Fleisches dient oder äußerlichen Dingen ergeben ist, sondern nur in dem Menschen ist Friede, welcher dem Gesetze des Geistes dient und das heilige Feuer auf seinem Herde nicht ausgehen läßt.

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Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 16-17.
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