11. Kapitel
Der Leib Christi und die heilige Schrift tun der gläubigen Seele am meisten not.

[214] 1. Der Mensch: Wie selig ist doch die andächtige Seele, die mit dir, der du die Lieblichkeit und die Liebe selbst bist, Jesus Christus, unser Herr, an deinem Tische ißt! Dort wird ihr keine andere Speise vorgelegt, als du, ihr Einzig-Geliebter, nach dem als ihrem höchsten Gut sich all ihr Sehnen unablässig sehnt. Auch für mich wäre es ein Vorgeschmack himmlischer Süßigkeit, in deiner Gegenwart aus der Fülle der innigsten Empfindungen weinen und mit der Sünderin Magdalena, die bei dir Gnade fand, deine Füße mit Tränen benetzen können. Aber wo nehme ich diese Andacht, wo die heilige Tränenflut her? Wahrhaftig, vor deinem Angesicht[214] und vor deinen heiligen Engeln sollte in meinem Herzen glühen die Liebe und aus meinem Auge fließen die Tränen der Freude. Denn ich habe dich wahrhaft gegenwärtig im Sakrament, obgleich unter fremder Gestalt verborgen.

2. Denn dich, wie du bist, in deiner eigenen göttlichen Klarheit, dich in deinem Lichte anzuschauen – das hielten meine Augen nicht aus; die ganze Welt müßte vor dem Glanze deiner Majestät unterliegen. Um also meine Schwachheit zu schonen, verbirgst du dich hier unter dem Sakrament. Ich aber habe dich und bete dich an, den die Engel im Himmel anbeten; noch habe ich dich vorerst im Glauben, jene aber schauen dich ohne Schleier, von Angesicht zu Angesicht. Ich muß mich indessen mit dem Lichte des wahren Glaubens begnügen, muß nach der Weisung dieses Schimmers fortgehen, bis einst anbricht der Tag der ewigen Herrlichkeit, bis vorübergegangen sind die Schattenbilder der Zeit. Ist aber einmal das Vollkommene da, dann hört auch der Gebrauch der Sakramente auf. Sakramente sind Arzneien, und die Seligen bedürfen im Lande der Herrlichkeit keiner Arznei mehr. Sie schauen Gott in seiner Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht und freuen sich vor ihm ohne Ende; sie werden von Klarheit zu Klarheit verwandelt in das Bild der unergründlichen Gottheit; ihr Genuß ist Gottes Wort, das Fleisch geworden ist, das vom Anbeginn war und in alle Ewigkeit bleibt.

3. Wenn ich aber an diese Wunder deiner Liebe auch nur denke, so wird mir auch jeder Trost ein Mißtrost. Denn bis ich meinen Herrn in seiner Herrlichkeit ohne Schleier und Schatten sehen kann, bis dahin halte ich alles, was ich in dieser Welt sehe und höre, für nichts. Du bist mein Zeuge, du mein Gott, daß mich kein Ding trösten, kein Geschöpf befriedigen kann, außer dir, mein Gott, den ewig zu schauen ich mich sehne. Zwar ist dies unmöglich, solange ich diesen Rock der Sterblichkeit tragen muß. Aber eben deswegen muß ich mich mit großer Geduld rüsten, muß mich und all mein Verlangen dir unterwerfen. Denn auch deine Heiligen, Herr,[215] die jetzt schon in deinem Reiche mit dir Freude haben, auch sie mußten in ihrem Erdenleben der Offenbarung deiner Herrlichkeit im stillen Glauben und in großer Geduld entgegenharren. Was sie geglaubt haben, das glaube auch ich; was sie mit Zuversicht erwartet haben, das erwarte auch ich; wohin sie endlich gekommen sind, dahin werde ich durch deine Gnade auch kommen, das ist meine Zuversicht. Bis dahin will ich im Glauben wandeln, gestärkt durch die Beispiele der Heiligen. Inzwischen habe ich die heiligen Bücher als Spiegel meines Lebens und als Quelle der Erquickung, und vor allem habe ich dein Fleisch und Blut zur einzigartigen Belebung und Stärkung.

4. Denn zweierlei hab ich hienieden nötig, ohne das mir dieses elende Leben durchaus unerträglich wäre. Hier in diesem Leibes-Kerker bedarf ich erstens Speise, zweitens Licht. Nun hast du mir, um meiner Schwachheit zu Hilfe zu kommen, deinen heiligen Leib zur Speise gegeben, zur Stärkung meiner Seele und meines Leibes, und dein Wort zur Leuchte für meinen Fuß. Ohne diese zwei könnte ich nicht wohl leben; denn das Wort Gottes ist das Licht und dein Sakrament das Lebensbrot für meine Seele. Man kann auch sagen, daß dies die zwei Tische sind, die in der Schatzkammer der Kirche Gottes aufgestellt sind. Der hier ist der Tisch des heiligen Altars: auf ihm liegt das heilige Brot, das ist der kostbare Leib Jesu Christi. Der dort ist der Tisch des heiligen Gesetzes; auf ihm liegt die heilige Lehre, die uns im rechten Glauben unterweist und uns bis in das Innerste, das hinter dem Vorhange, in das Allerheiligste hineinweist. Dank dir, du Licht vom ewigen Lichte, unser Herr, Jesus Christus, Dank dir für den Tisch der heiligen Lehre, die du uns durch deine Diener, die Propheten und Apostel und anderen heiligen Lehrer dargereicht hast!

5. Dank dir auch, du Schöpfer und Erlöser der Menschen, Dank dir, daß du, um der ganzen Welt deine Liebe zu beweisen, ein großes Abendmahl bereitet hast, in welchem uns nicht ein vorbildendes Oster-Lamm (wie das des alten Bundes),[216] sondern dein heiliges Fleisch und Blut zur Speise dargereicht wird; indem du selbst in diesem heiligen Gastmahle alle deine Gläubigen erfreust und du selbst sie alle mit dem Kelche des Heiles tränkst, darin alle Freuden des Paradieses enthalten sind. Auch die heiligen Engel essen mit uns von diesem Mahl; aber ihr Genuß ist lauter Seligkeit und übertrifft an Süßigkeit den unseren.

6. O wie groß und ehrwürdig ist das Amt der Priester, denen es gegeben ist, den Herrn der Herrlichkeit mit den heiligen Worten zu konsekrieren, mit ihren Lippen zu preisen, mit ihren Händen zu halten, mit ihrem Munde zu genießen und anderen zum Genuß darzureichen! O wie rein sollen ihre Hände, wie lauter ihre Lippen, wie heilig ihr Leib, wie unbefleckt ihre Herzen sein, da der Urheber aller Reinheit so oft bei ihnen Herberge nehmen will! Aus dem Munde des Priesters, der so oft das Sakrament Christi empfängt, soll wahrhaftig kein anderes Wort hervorgehen, als ein heiliges und erbauendes und nützliches.

7. Sein Auge, das den Leib Christi zu schauen pflegt, soll rein und einfältig sein; rein und aufgehoben zum Himmel die Hand, die den Schöpfer des Himmels und der Erde so oft berührt. Das Wort des Gesetzes (3. Mos. 19, 2; 1. Petr. 1, 15) paßt ganz besonders auf die Priester: Seid heilig, weil ich, euer Gott und Herr, heilig bin.

8. Allmächtiger Gott, laß uns deine Gnade zu Hilfe kommen, daß wir Priester dir in aller Reinheit des Gewissens, würdig und voll Andacht, nach unserm Berufe, dienen können. Und wenn wir die so hohe Stufe des heiligen Wandels noch nicht erreicht haben, so schenk uns die Gnade, daß wir unsere Sünden im Geiste der Demut von ganzem Herzen beweinen und dir nach dem ernsten Vorsatze unseres guten Willens in Zukunft eifriger dienen mögen. Amen.[217]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 214-218.
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