15. Kapitel
Die Gabe der Andacht wird auf dem Wege der Demut und Selbstverleugnung gefunden.

[223] 1. Der Herr: Die Gnade der Andacht mußt du mit anhaltendem Eifer suchen, mit ernstem Verlangen begehren, mit Geduld und Zuversicht erwarten, mit frohem Danke annehmen, in Demut bewahren, in aller Treue ihr nacharbeiten, und Zeit und Maß der himmlischen Heimsuchung Gott anheimstellen, bis er kommt. In den Zeiten der Dürre, die entweder nur ein schwächliches Gefühl der Andacht in dir aufkommen oder dich gar ohne alles Gefühl der Andacht öde liegen lassen, ist die Beugung deines Herzens vor Gott am rechten Orte. Demütig mußt du sein, aber nicht verzagt und nicht tief bekümmert. Denn Gott gibt oft in Einem Nu, was er dir lange Zeit nicht gegeben, gibt manchmal am Ende deines Gebetes, was er dir am Anfange des Gebetes versagt hat.

2. Würde uns die Gnade immer auf der Stelle gegeben, oder stünde sie dem Menschen ganz nach seinem Wunsche zu Gebote: ich denke, wir Menschen wären jetzt zu schwach, eine so große Seligkeit zu tragen. Deshalb ist es für uns am besten, daß wir in Hoffnung, Demut und Geduld auf die Gabe der Andacht warten lernen, bis sie gegeben wird, und wenn sie nicht gegeben, oder schnell wieder zurückgenommen wird, die Ursache in uns selbst und in unseren Fehltritten aufzusuchen.

Oft ist es etwas Geringes, was den Einfluß der Gnade hemmt oder ihr Licht unserem Blicke entzieht: wenn anders man gering nennen darf und nicht vielmehr groß nennen muß, was uns um ein so großes Gut bringt. Es sei aber gering oder groß, was das Kommen der Gnade hindert: wenn du es entfernt hast, wird dir gleich gegeben, was du haben wolltest.

3. Denn sobald du, statt dieses oder jenes nach deinem[223] Eigendünkel zu wünschen, dich ganz und ohne Vorbehalt und aus dem innersten Grunde deines Herzens an deinen Gott ergeben, dich ganz und alle deine Wünsche in die Hand Gottes niedergelegt hast, von diesem Augenblick an wirst du dich ruhig und eins mit Gott finden, kein anderes Ding ist dir so schmackhaft, so wohlgefällig als Gottes Wohlgefallen.

Wer also seinen Sinn in Einfalt des Herzens zu Gott emporschwingt und sich von aller ungeordneten Liebe oder Abneigung zu irgend einem erschaffenen Ding losmacht, der ist vor allen anderen fähig und würdig, die Gabe der Andacht zu empfangen. Denn wo der Herr leere Gefäße findet, da legt er seinen Segen hinein. Und je vollkommener jemand sein Herz von der Liebe zum Vergänglichen losmacht und sich selbst durch gründliches Sein-Selbst-Verachten abstirbt, desto schneller kommt die Gnade, desto tiefer dringt sie ein, desto höher hebt sie das freie Herz des Menschen empor.

4. Dann gehen dem Menschen die Augen auf; dann staunt er voll Entzücken; dann wird sein Herz weit; denn die Hand des Herrn ist mit ihm, und er hat sich ganz und für die ganze Ewigkeit in die Hand des Herrn gelegt. Sieh, so wird der Mensch gesegnet, der den Herrn von ganzem Herzen sucht und seinen Geist nicht an vergängliche Dinge hängt. Ein solcher Mensch macht sich beim Empfange des heiligen Abendmahles der großen Gnade würdig, mit Gott vereinigt zu werden. Denn er sieht nicht auf eigene Andacht und Tröstung, sondern über alle Andacht und Tröstung auf Gottes Ehre.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 223-224.
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