16. Kapitel
Klage Christus all deine Not und fleh um Gnade zu ihm!

[224] 1. Der Mensch: Herr, der du an Liebenswürdigkeit und an Liebe gegen uns alles, was liebenswürdig ist und lieben[224] kann, unvergleichbar übertriffst! Sieh, ich möchte dich jetzt andächtig empfangen; du kennst meine Schwachheit und meine Not; du siehst mich, wie ich in Sünden und im Elende daliege, niedergedrückt, angefochten, verwirrt, befleckt! Um Hilfe komme ich zu dir, um Trost und Erleichterung flehe ich zu dir. Zu dir rede ich, der du alles weißt, dem all mein Innerstes bekannt ist, der allein mich vollkommen trösten, der allein mir helfen kann. Du kennst das Gute, das ich vor allem haben sollte; du siehst, wie arm an Tugend ich bin.

2. Sieh, arm und nackt stehe ich vor dir und weine um Gnade und schreie um Barmherzigkeit. Erquicke deinen hungrigen Bettler, entzünde mein kaltes Herz durch das Feuer deiner Liebe und erleuchte meine Blindheit durch das helle Licht deiner Gegenwart. Laß mir alles Irdische bitter werden; lehre mich alles, was mich drückt und kränkt, geduldig tragen, alles Niedere und Geschaffene verachten und vergessen. Erhebe mein Herz gen Himmel zu dir hinauf und laß es nicht umherirren auf Erden. Du allein sollst von nun an mein höchstes Gut in alle Ewigkeit bleiben; denn du allein bist meine Speise und mein Trank, du meine Liebe und meine Freude, du meine Lust und meine ganze Seligkeit.

3. Daß ich durch deine Gegenwart ganz entzündet, alles Unreine in mir verzehrt, mein ganzes Wesen in dein Bild gestaltet würde! Ein Geist mit dir möcht ich werden durch die brennende Liebe, die alles Harte in mir erweichen, die mich gnädig ganz mit dir vereinigen kann! Laß mich nicht hungrig und kraftlos von deinem Tische gehen. Handle mit mir nach deiner Barmherzigkeit, wie du mit so vielen Heiligen nach deiner wundervollen Güte gehandelt hast. Du bist ja ein Feuer, das immer brennt und nimmer abnimmt; du bist ja die Liebe selbst, die das Herz reinigt und den Verstand erleuchtet; wäre es denn ein Wunder, wenn auch ich durch dich in eine lebendige Flamme verwandelt würde und alles eigene Leben in mir erstürbe?[225]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 224-226.
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