1. Kapitel
Vom inneren Leben des Menschen.

[56] 1. Das Reich Gottes ist in euch, spricht der Herr (Luk. 17, 21). Wende dich zu dem Herrn, und wende dich von ganzem Herzen zu ihm; verlaß diese elende Welt, und deine Seele wird Ruhe finden. Lerne das Äußerliche verschmähen; lerne hochschätzen, was dich in dir selbst zurechtsetzen kann, und du wirst das Reich Gottes in dein Herz kommen sehen. Denn das Reich Gottes ist Friede und Freude im heiligen Geiste, und dies Reich ist kein Reich für die Gottlosen.

Gewiß kommt Christus zu dir und läßt dich seine Tröstungen genießen, wenn du ihm im Innern eine würdige Wohnstätte wirst zubereitet haben. All seine Schönheit und Herrlichkeit kommt aus dem Inneren, und dort hat er sein Wohlgefallen. Den innerlichen Menschen sucht Christus gern heim, hält mit ihm freundliche Gespräche, schenkt ihm lieblichen Trost und hohen Frieden und geht so vertraulich mit ihm um, daß sich Himmel und Erde nicht genug darüber verwundern können.

2. Wohlan, treue Seele! bereite dein Herz für diesen Bräutigam, denn er will zu dir kommen und in dir Herberge nehmen, wie er selbst (Joh. 14, 23) sagt: Wer mich lieb hat, der hält mein Wort, und wir werden zu ihm kommen, und Herberge bei ihm nehmen.

So mache denn Platz für Christus, und damit er Platz habe, wehre allen übrigen Dingen den Eingang in dein Herz. Hast du ihn selbst, so bist du reich, und hast genug an ihm. Er wird für dich sorgen und in allen Dingen dein treuer Sachwalter[56] sein, daß du nicht erst nötig hast, auf Menschen zu bauen. Denn schnell ändert sich des Menschen Sinn, und der Mensch ist schnell dahin. Christus aber bleibt ewig und bleibt dein treuer Freund bis an dein Ende.

3. Auf einen Menschen, er sei dir noch so lieb oder nützlich, mußt du kein großes Vertrauen setzen, denn er ist ein Mensch, gebrechlich und sterblich. Auch sollst du dir's nicht so tief zu Herzen gehen lassen, wenn dir zuweilen ein Mensch widerspricht und zuwider handelt. Die heute für dich stehen, können morgen wider dich auftreten, und umgekehrt. Die Menschen ändern sich ja wie der Wind.

Baue du deine ganze Zuversicht auf Gott. Er sei deine Furcht, er sei deine Liebe. Er wird für dich antworten, er wird alles wohl machen, wie es für dich am besten sein wird. Hier hast du doch keine bleibende Stätte, und wo du immer sein magst, bist du ein Fremdling, ein Pilger und wirst nirgends Ruhe finden, als in der innigsten Vereinigung mit Christus.

4. Was siehst du hier viel umher? Es ist hier kein Land der Ruhe für dich. In himmlischen Dingen sollst du deine Ruhestätte haben und alle irdischen Dinge nur wie im Vorbeigehen ansehen. Denn sie vergehen alle, und du mit ihnen. Sieh zu, daß du nicht am Vergänglichen haftest, sonst wirst du daran hangen bleiben und darin zugrunde gehen. Dein Gedanke sei bei dem Allerhöchsten, und dein Gebet höre nicht auf, bei Christus anzuklopfen.

Kannst du deinen Geist nicht erheben zu himmlischen, hohen Betrachtungen, so ruhe im Leiden Christi und wohne gern in seinen heiligen Wunden. Denn sobald du im lautern Triebe der Andacht zu den kostbaren Wundmalen Jesu deine Zuflucht nimmst, wirst du darin wider alle Leiden, die dich mutlos machen könnten, neue Stärke finden, und mit neuer Kraft die verachtenden Blicke der Menschen nicht mehr so hart empfinden und ihre beißenden Worte leicht ertragen.

5. Christus ward in der Welt von den Menschen auch verachtet und war in seiner größten Not, unter Spott und Hohn,[57] von allen seinen Bekannten und Freunden verlassen. Christus wollte leiden, Christus wollte sich verachten lassen. Und du wagst es, über deine geringen Leiden zu klagen? Christus hatte seine Gegner und Widersacher, und du willst alle Menschen zu Freunden und Wohltätern haben? Wofür sollte wohl deine Geduld gekrönt werden, wenn sie nichts Widriges zu erdulden hätte? Wenn du nichts Unangenehmes leiden willst, wie kannst du dann ein Freund des leidenden Christus werden? Lerne vielmehr mit Christus und für Christus leiden, wenn du mit Christus herrschen willst.

6. Wärest du nur einmal in Jesu Innerlichkeit tief genug eingedrungen, hättest du nur ein Fünklein von seiner brennenden Liebe in deinem Herzen aufgefangen, es würde dir nicht mehr um deinen eignen Vorteil oder Nachteil zu tun sein; du würdest viel mehr Freude haben, dich um des Guten willen lästern zu lassen. Denn die Liebe Jesu lehrt den Menschen sich selbst zu verachten.

Wer Jesus und die Wahrheit liebt, wer in sich wohnt und von allen ungeordneten Neigungen frei geworden ist, der kann sich ungehindert zu seinem Gott erheben, kann sich über sich selbst im Geiste emporschwingen, kann im Genusse Gottes Ruhe finden.

7. Wer so weise ist, daß er alle Dinge für das halten kann, was sie sind, und nicht für das, wofür sie von anderen gehalten und ausgegeben werden, der hat die rechte Weisheit und hat seine Weisheit mehr von Gott als von Menschen gelernt.

Wer von innen her zu wandeln weiß und die Dinge von außen unschwer zu nehmen, der fragt nicht nach besonderen Orten und wartet nicht auf besondere Zeiten, um sich in den Empfindungen der Andacht zu üben. Ein innerlicher Mensch sammelt sich geschwind wieder in sich, weil er sich nie ganz an die Dinge außer sich verloren und ausgegossen hat. Ihn stört keine äußere Mühe und Beschäftigung. Wie die Dinge kommen, so weiß er sich in die Dinge zu schicken.

Wer inwendig fest steht und wohl geordnet ist, den zerstreut[58] das törichte und verkehrte Treiben der Menschen nicht. Der Mensch wird von den Dingen nur soweit gehindert und zerstreut, als er die Dinge an sein Herz heranzieht.

8. Wenn es gut um dich stünde und du rein genug wärest, so müßten dir alle Dinge zum Guten dienen und zum Fortschritte im Guten helfen. Nur deshalb findest du überall so viel Widriges und gerätst du so leicht in Verwirrung, weil du dir noch nicht vollkommen gestorben und von allem Irdischen noch nicht ganz los geworden bist. Nichts befleckt und verwickelt das Herz des Menschen so sehr, als seine unlautere Liebe zu Geschöpfen. Wenn du den äußern Tröstungen Abschied geben würdest, so könntest du himmlische Dinge schauen und oftmals jubeln im Innern.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 56-59.
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