11. Kapitel
Viel Christen – und wenig Freunde Christi und seines Kreuzes.

[75] 1. Jesus hat jetzt viele Jünger, die im himmlischen Reiche gern mit ihm herrschen möchten, aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen wollen. Viele hat er, die Trost, wenige, die Trübsal verlangen. Viele findet er, die mit ihm essen und trinken möchten, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Alle möchten mit ihm Freude haben, aber wenige wollen für ihn leiden. Viele folgen Jesus nach bis zum Brotbrechen am Abendmahle, aber wenige bis zum Trinken aus dem Leidenskelche. Viele ehren seine Wundertaten, aber wenige teilen mit ihm die Schmach des Kreuzes. Viele lieben Jesus, solange sie nichts zu leiden haben. Viele loben und preisen ihn, solange sie Tröstungen von ihm empfangen. Aber, wenn Jesus sich verbirgt und sie auch nur eine kurze Weile allein läßt, da klagen sie gleich oder verlieren gar den Mut.

2. Die aber Jesus seinet- und nicht ihres Trostes wegen lieb haben, die loben ihn in den Tagen der heißesten Angst, wie in den Stunden der höchsten Tröstung. Und wenn er ihnen auch nie Trost geben wollte, so würden sie ihn doch immer loben, ihm allzeit danken.

3. Oh, die reine Liebe zu Jesus, die kein Eigennutz und keine Eigenliebe trübt, wie viel vermag sie! Wie kann man die, die nur immer nach Tröstungen haschen, anders nennen als Lohnknechte? Wenn sie immer auf ihren Nutzen, auf ihren Gewinn sinnen, beweisen sie denn nicht, daß sie sich selbst mehr als Jesus lieben? Wo findest du einen Menschen, der seinem Gott umsonst dienen will?

4. Ein Mensch, der so ganz nach dem Geiste lebt, daß er nackt und bloß von allem wäre, ist der seltenste Fund auf Erden. Das heißt: recht arm im Geiste sein und frei von aller Anhänglichkeit an irgend ein Geschöpf. Wo findest du einen solchen? Er ist wie eine kostbare Perle, die nur von[75] den fernsten Ländern mit dem größten Aufwande herbeigeschafft wird.

Wenn der Mensch all seine Habe daran gibt, so ist es noch so viel als nichts. Wenn er die strengste Buße tut, so ist es noch sehr wenig. Wenn er alle Wissenschaften erfaßt hätte, so wäre er noch fern. Und wenn er große Tugend und glutvolle Andacht hätte, so fehlte ihm noch vieles, nein, nicht vieles, nur Eines fehlte ihm, aber gerade das Eine Notwendige. Was ist denn aber das Eine Notwendige? Dieses ist's: Nachdem du alles andere schon verlassen hast, mußt du dich selbst ganz verlassen, ganz von dir selbst Weggehen und alle Eigenliebe aufgeben. Und wenn du alles getan hast, was du nach deiner Erkenntnis tun solltest, so mußt du doch so gesinnt sein, als hättest du nichts getan.

5. Nichts muß der Mensch groß achten, wenn es gleich groß geachtet werden könnte, sondern sich in Wahrheit für einen unnützen Knecht halten, wie uns die Wahrheit (Luk. 17, 10) lehrt: Wenn ihr alles getan habt, was euch geboten ist, so sagt weiter nichts, als: wir sind unnütze Knechte. Dann kann der Mensch recht arm und bloß im Geiste sein und mit dem Propheten (Ps. 25, 16) sprechen: Ich bin arm und allein. Desungeachtet ist niemand reicher, niemand mächtiger, niemand freier als der Mann, der sich und alle Dinge verlassen, sich an die unterste Stelle hinsetzen kann.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 75-76.
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