4. Kapitel
Lauterkeit und Einfalt.

[61] 1. Zwei Flügel erheben den Menschen über das Irdische: Einfalt und Lauterkeit. Einfalt soll in der Absicht, Lauterkeit in der Neigung sein. Die Einfalt sucht Gott, die Lauterkeit[61] findet ihn. Die Einfalt zielt nach Gott, die Lauterkeit genießt ihn.

Das Gute, das du im Äußeren zu tun hast, kann dich nicht um die Freiheit des Geistes bringen, wenn dich im Inneren keine ungeordnete Neigung darum gebracht hat. Suchst du nichts anderes, als nur Gott zu gefallen und deinem Nächsten zu nützen, dann wirst du die rechte Freiheit des Geistes genießen können.

Wäre dein Herz ohne Falsch, dann würde jedes Geschöpf ein Spiegel des Lebens und ein Buch heiliger Lehre für dich sein. Es ist kein Geschöpf so klein und unbedeutend, daß es nicht eine Spur von der Güte Gottes an sich trüge.

2. Wärest du im Innern gut und rein, dann hättest du einen hellen ungetrübten Blick und würdest alles recht sehen und leicht verstehen. Ein reines Herz dringt durch Himmel und Hölle. Wie jeder in sich selbst beschaffen ist, so urteilt er von den Dingen außer sich.

Ist irgend eine wahre Freude auf Erden, so ist sie nur in einem reinen Herzen zu finden. Und gibt es Angst und Plage auf Erden, so weiß ein böses Gewissen am besten, was Angst und Plage ist.

Wie ein Eisen im Feuer seinen Rost verliert und ganz glühend wird: so verliert ein Mensch, der sich ganz zu Gott bekehrt, das Erdhafte seiner Natur und wird in einen neuen Menschen umgewandelt.

3. Wenn der Mensch anfängt lau zu werden, so scheut er auch die geringe Mühe und hat es gern, wenn ihm etwas Trost von außen gereicht wird. Aber, wenn er einmal angefangen hat, sich vollkommen zu überwinden und mannhaft auf dem Wege Gottes zu wandeln, dann dünkt ihm alles leicht, was er vorher schwer gefunden hat.[62]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 61-63.
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