5. Kapitel
Sieh auf dich!

[63] 1. Wir dürfen uns selbst nicht zu viel trauen, denn oft fehlt uns die Gnade und der gerade Blick für die Dinge. Es flimmert ein kleines Licht in uns, und dieses kleine Licht ist bald ausgelöscht, wenn wir es nicht mit besonderer Treue pflegen. Oft nehmen wir auch nicht einmal wahr, daß wir im Innern gar so blind sind. Oft tun wir Böses und machen das Böse, das wir getan haben, durch Entschuldigung noch böser. Oft treibt uns Leidenschaft, und wir glauben, es sei frommer Eifer, was uns bewegt. Geringe Fehler tadeln wir an andern sehr scharf und lassen große Fehler an uns ungestraft. Was wir von andern auszustehen haben, das empfinden wir schnell und rechnen es schwer an. Aber, was andere von uns auszustehen haben, das fassen wir nicht zu Herzen. Wer das Seine immer recht und gerecht abwägen würde, dem würde alle Lust vergehen, das Fremde hart zu richten.

2. Wer in sich zu leben weiß, der setzt die Sorge, in sich zu leben, allen anderen Sorgen vor. Und wer auf sich selbst ein wachsames Auge hält, dem wird es nicht schwer, bei fremden Fehlern stumm zu sein. Du wirst nie in dir und für Gott leben lernen, nie ein innerlicher, frommer Mensch werden, wenn du nicht zu allem, was dich nichts angeht, schweigst und nicht auf dich selbst siehst. Wenn aber dein ganzes Gemüt am liebsten nur in sich hinein und zu Gott aufschaut, dann wird das, was du von draußen wahrnimmst, einen schwachen Eindruck auf dich machen. Sage mir, wo bist du denn, wenn du nicht bei dir selbst daheim bist? Und wenn du alle Welt durchlaufen und dein Heil darüber versäumt hast, was nützte dir all dies Laufen und Rennen? Wenn du Frieden und wahres Einswerden haben willst, so mußt du alles übrige gehen lassen und dich allein im Auge behalten.

3. Du wirst viel, viel gewinnen, wenn du allen zeitlichen[63] Sorgen Abschied geben und dich in dieser Abgeschiedenheit von allen zeitlichen Sorgen bewahren kannst. Wenn du aber etwas Zeitliches deiner Sorge würdig achtest, so wirst du sehr nachlassen. Nichts soll in deinen Augen groß, nichts erhaben, nichts lieblich, nichts angenehm sein, außer Gott allein, oder was von Gott kommt. Halt allen Trost, den dir ein Geschöpf bieten kann, für eitel und vergänglich. Eine Seele, die ihren Gott lieb hat, hält alle Dinge für nichts. Gott allein, der Ewige, der Unermeßliche, der Allerfüllende, Gott allein ist der wahre Seelen-Trost, er allein die wahre Freude des Herzens.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 63-64.
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