Vor Nees von Esenbecks Bildnis

[144] Stillschweigend ruht der Blick auf der Geschichte

Menschlichen Treibens, menschlich Müh'n,

Und düster wie vorüber zieh'n,

Den bittern Unmut im Gesichte; –


Nur gleich Oasen in verbrannter Wüste,

Und kräftig schmucken Blättergrün,

Und wie die Meteore glüh'n

An Nordpols eisig rauher Küste.


So einzeln steht im Blatte der Geschichte

Das Große da auf seinen Höh'n –

Wir bleiben lange vor ihm steh'n,

Gleich wie beim Sonnenaufgangslichte! –
[144]

So stehn wir lange, Nees, vor Deinem Bilde,

Und stolzer unsre Wangen glühn,

Und unsre Blicke Funken sprühn,

Dir, hoher Meister, groß und milde!


Laut schlägt das Herz hier unter Deiner Büste

Horch, allen, allen – ungestillt –

Schön wie gigantisch Säulenbild,

In Thebens prächt'ger Tempelwüste!


Doch stauntest Du, wenn Deinem sonn'gen Blicke,

Entgegen niedre Sklavenschar?

Es folgt die Schnecke nicht dem Aar,

Sie klebt an ihres Staubes Stücke. – –


Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. CXLIV144-CXLV145.
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