Vorwort zur 8. Auflage meiner Gedichte

[9] Indem ich Dir, lieber Leser und schöne Leserin, zum achten Male meine innersten Gefühle und Gedanken vorlege, hoffe ich, daß keine so große Pause zwischen dieser und der neunten Auflage eintreten wird, wie zwischen der siebenten und der heutigen.

Freilich bestand die siebente Auflage, welche Ende des Jahres 1894 erschienen ist, aus mehreren tausenden Exemplaren und mehrere Kriege: der Spanisch-Amerikanische, der Chinesische, der Transvaalkrieg und mancherlei Bürgerkriege, gehässige, ja blutige, füllten während dieser Zeit die Welt und zogen ihre Blicke von der schönen Literatur ab, um sie auf das wilde Element des Streites und der Parteilichkeit zu lenken. Auch an anarchistischen Meuchelmorden, konfessionellen und religiösen Wirren und Verleumdungen fehlte es nicht in dieser Zeit und sie beschäftigten zur Genüge die Leser; ja die beiden Ungeheuer: Unglaube und Aberglaube, die sich leider um die Herrschaft der Welt streiten, hielten die Gemüter fern von der harmlosen reinen Freude der Poesie, um sie in Angst und Spannung zu versetzen.

Es war eine böse, widerwärtige Zeit und die Ueberzeugung der Verfasserin von der Vortrefflichkeit der menschlichen Natur an und für sich, welche sie in ihrem »Büchlein von der Menschheit«1 ausgesprochen, hatte so manchen Stoß erlitten. Das war nicht die Welt, die sie im Rahmen ihrer Mutter gesehen und träumen lernte, das war kein Abglanz jener Menschen liebenden Größen,[10] die ihr schon in der Kindheit und in frühester Jugend begegneten, nichts von den Anschauungen Herrmann Wilhelm und Marie Boedekers, da war keine Spur von der uneingeschränktesten Toleranz der beiden opferfreudigen Priester Franz und Anton Marson, kein Schatten von den selbstlosen, ja großmütigen Ansichten Nees von Esenbeck, der die Brüderlichkeit praktisch einführen und Preußen die Leopoldinisch-Carolinische Akademie der Naturforscher trotz allem nicht entziehen wollte, und keine Aehnlichkeit von der weisen, attischen Klarheit des großen Boeckh und seiner Tochter, Frau Professor Gneist. Es war eine harte Zeit der Unliebe. Damals schrieb sie ihre Broschüre »Ein Wort in harter Zeit«2 und mißmutig, wie s. Z. Grillparzer, zog sie sich in die Einsamkeit zurück und manchmal sagte sie zu sich selber: »Wie schwer wird es einem gemacht, das Gute zu tun.« Aber verzagt hat sie nicht, weder an der Menschlichkeit noch an der Erreichung des Guten und niemals an der Gnade Gottes, der sie das große Ziel zum Wohle aller, welches sie trotz mancher Stürme verfolgte, und das sie für ihr eigenes Wohl und Wehe fast unempfindlich macht, ganz nach ihrer Ueberzeugung erreichen lassen wird. Das walte Gott.

Nun, lieber Leser und schöne Leserin, überreiche ich Dir mit dieser neuen Ausgabe auch mehrere neue Gedichte, auch sie kommen von Herzen, wie alle meine Gedichte und werden Dir daher, wie ich hoffe, auch zu Herzen gehen.

Möge mit ihrem Erscheinen auch eine ideellere, wahrhaft humane Zeit eintreten.

Friederikenhof, den 1. März 1903.


Die Verfasserin.

1

Verlag von Paul Grüger-Berlin.

2

Zu beziehen durch die Verlagsbuchhandlung.

Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. IX9-XI11.
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