§. 1.

Ob man schlechter Dinge alle Historien und Fabeln verwerffen soll?

[20] Es bedecket sich zum öfftern die Lügen mit den Mantel der Warheit / und weiß sich denselben so artig zu appliciren / daß man drauf schweren solte / es wäre pur lautere Wahrheit. Nichts destoweniger ist der Betrug doch leichte an ihr wahrzunehmen / und wäre zu wünschen / daß man die Wahrheit so leicht erfinden konte / als die ertapte Lügen wiederlegen. Doch werden nicht zu aller Zeit die Lügen offenbahr / und kömmt auch nicht ohne sondere Mühe die Wahrheit zum Sonnen-Lichte / man muß sichs öffters lassen sauer werden / damit man die scheinende und blendende Larve einem Dinge abdrecke / damit man den Koth vom Golde separiren könne. Nun ist zwar das nicht allezeit eine [20] Fabel / welche euserlich eine scheinet / die Historici erzehlen manchmahl Sachen / die fast nicht wohl zu glauben / aber deswegen auch nicht gleich als inania zu rejiciren seyn. Und würde man einen solchen vor einen ungeschickten Menschen halten / der ohne Probe so schlechter Dinges hin eine Sache verwürffe / und hingegen wieder was ihn beliebete gläubte. Noch Schöpfenhafftiger würde der handeln / der gar keinen Dinge wolte Glauben beymessen. Man muß die Mittel-Strasse halten. In Prüfung derer Historien muß man dem artigen Ausspruche Aristotelis Raum geben: οὔτε πᾶσι, πιςεύοντες, οὔτε πᾶσιν ἀπιςοῦντες, man muß kein Kind oder ein alter Narre seyn / nicht alles leicht hinglauben / auch nicht alles schlecht weg verwerffen. Sehr fein redet hiervon der gelehrte Franciscus Balduinus in Institut. Hist. In Historien lesen muß man das judicium wohl adhibiren / u. nicht confuse vera cum falsis wegwerffen /noch temere falsa cum veris annehmen. Denn wie viele Leichtgläubigkeit sehr schädlich / also auch allzugrosse Ungläubigkeit / welche gar keiner Historie Glauben geben will / und kömmt einen recht unverschämten [21] und bäurischen Gemüthe zu / ein Ding /welches noch probabiliter proponiret wird / boßhafftig verwerffen / und doch dabey nicht sagen können /warum man es verwerffe.

Quelle:
[Meister, Johann Gottlieb:] M. Theodori Kirchmayeri Curiöse Historia von den unglücklichen Ausgange der Hamelischen Kinder. Aus dem Lat. ins Teutsche übers. von M. M. [d.i. Johann Gottlieb Meister], Dresden, Leipzig 1702, S. 20-22.
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