§. 9.

[42] Die Beständigkeit der gemeinen Aussage nimmt der Schookius ziemlicher maßen rum / worauff sich doch Erichius mit Fleiß beruffet. Denn man kan dieselbe nicht allemahl schlechter Dings verwerffen. Unwarheiten bleiben selten beständig. Und kan man einem gemeinen Geschrey wohl Glauben beymessen / wenn alte Leute dererselben Zeugen seyn. Die Fama irret nicht allezeit / sondern sie lieset auch zuweilen was[42] warhafftiges auf. Unterdessen siehet man doch nicht so bloß hin nur auf die Beständigkeit der gemeinen Aussage / sondern hauptsächlich auf die Fundamenta und præsidia solcher Beständigkeit. Wie leicht hat nicht können diese Historie von einem Seculo zum andern und aus einer Hand in die andere propagiret werden? Der Schookius sucht zwar auf allerhand Weise Ausflüchte und könnte man hier einen Spatziergang mit ihm vornehmen / und seine Nichtigkeit zeigen. Allein wir habens nicht nöthig / daß wir der Worte so mißbrauchen / man lese die angezogene monumenta. Er führet ja selbsten an / daß vor einigen Seculis eine Müntze geschlagen / auf welcher der unglückliche Ausgang dieser Kinder gar artig repræsentiret worden. Wer würde sich doch unterstehen von gemeinen Volcke eine solche Müntze zu schlagen /sein Leben müste ihn nicht lieb seyn / denn Müntze zu schlagen stehet keinen Menschen ohne grossen Herren zu. Lässet ja eine Stadt Müntze schlagen / so hat sie die Freyheit von ihnen. Judicire nun iederman / wem man solche Müntze soll zulegen / [43] warlich keinen gemeinen Mann / sondern der gantzen Hamelischen Stadt. Es confirmiret solche Geschicht sattsam das am Fenster in der Kirchen am Marckt gelegenen Bildniß / welches auch schon gnung seyn kan diese Historie zu propagiren / maßen es deutlich die Sache nebst einer Inscription beschreibet / wie solches Anno 1572. Fridericus Poppendix Bürgermeister daselbst hat procuriren lassen nach Büntingii Zeugniß in seiner Braunschweigische Chronicke. Der Schookius ist hier abermahl um die Zeit bekümmert / da man die Fenster zu mahlen hat angefangen. Und läugnet gäntzlich / daß zur selben Zeit die Fenster mit artigen Farben zu coloriren sey im Gebrauch gewesen. Bringet aber keinen Beweiß / sondern nur blosse Wort. Wir wollen hier dieses zu untersuchen keine Zeit verderben / sondern so lange affirmiren / daß die Fenster zu der Zeit bemahlet / biß so lange der Schookius das contrarium erweiset. Es wird ohngefehr ein Seculum seyn / da man diese Sache hat behalten dürffen / da hat es ja der Vater dem Sohne / der Sohn seinem [44] Enckel beybringen können. Was saget aber der Schookius hierzu? Er kömmet wieder nach seiner Gewohnheit mit den Mönchen angestochen / dieselben spricht er seyn fabelhaffte Mahler gewesen. Es ist aber sein eigenes Gedichte. Denn wer wolte doch glauben / daß diese einige Sache / welche so wohl an der Kirche als andern öffentlichen Gebäuden abgemahlet zu finden /die Leute zu betriegen nur abgebildet sey? Gewiß /wenn dem so gewesen wäre / die Vornehmsten der Stadt würden ja solch eine öffentliche Lügen nicht toleriret haben / vielweniger repariret / sondern vielmehr destruiret. Aber sie wustens aus unwiedertreiblichen Gründen wohl / daß es ein warhafftiges Geschicht und keine Fabel war. Eine ander Bewandniß hat es mit den statuis und fabelhafften picturis derer Papisten / derer sie in den verwichenen beyden Seculis und zehlich viel erdacht / und alle Kirchen damit beschmieret. Allein weg mit diesen. Unter Fabeln und Historien ist kein grosser Unterscheid. Eine Historie /schreibt Reusnerus in Append. Hist. wenn sie gleich[45] noch so just nach allen Umständen erwogen / so machet doch dieselbe erst recht veritabel die genaue Bestimmung des Orts und der Zeit / und erläutert dieselbe also / daß man nicht allein ein blosser Hörer der erzehlten Sachen / sondern auch gleichsam ein Spectator zu seyn scheinet. Und kan man die Hameler nicht allein vor Auditores, sondern auch vor Spectatores passiren lassen. Die Gasse / dadurch der Hauffe dieser Kinder ist geführet worden / hat ab eventu den Nahmen / bekommen / daß sie auch / welches billig zu verwundern / noch auf diese Stunde die bunge loose Straß genennet wird / weil man in derselben Gasse darff keine Trommel oder Paucke rühren. Welche Straße / je näher sie am Thor gelegen / je beqvemer sie dem Verführer gewesen. Den Gerichts oder Scheddel-Berg / welcher nicht ferne von der Stadt gegen Morgen gelegen / haben sie immer im Gesicht gehabt / welchen sie auch / nemlich die Hameler noch betreten / ehe sie auf die rechte Land-Straße kommen / wenn sie nach Hannover wollen. Woselbst zwey grosse Steine in Form eines Creutzes [46] eingegraben /einer zur Rechten / und einer zur Lincken / welche von denen Majoribus zum ewigen Andencken dieser That sollen auffgerichtet seyn. Um die Zeit darff bey uns kein Zweiffel entstehen / maßen es mehr als zu glaublich / daß auch diesen unerhörten Unglück-Fall eine jedwede Privat-Person wird aufgezeichnet haben. Und warum solten wir uns hier aufhalten? Haben nicht die coætanei und andere im nechsten Seculo drauf lebende diese traurige Geschicht denen Nachkömmlingen sattsam eingepräget? Haben sie nicht so viel monumenta aufrichten lassen / die diese Geschicht wohl haben propagiren können? Was hätten sie es denn nöthig gehabt in Holtz / Steine / in Fenster / auf Müntze und dergleichen abzubilden / wenns nicht wahr wäre? Was brauchten sie es / die Annales, Chronicka und andere Bücher damit anzufüllen und so heilig aufzuheben? Wer hier noch nicht die Augen aufthun will / der ist entweder Stahrblind oder hat gerne Lust zu zancken. Mehr antworte ich auf des Schookii drittes Argument nicht.

Quelle:
[Meister, Johann Gottlieb:] M. Theodori Kirchmayeri Curiöse Historia von den unglücklichen Ausgange der Hamelischen Kinder. Aus dem Lat. ins Teutsche übers. von M. M. [d.i. Johann Gottlieb Meister], Dresden, Leipzig 1702, S. 42-47.
Lizenz:
Kategorien: