Grab-Lied

[98] Weh dir! daß du gestorben bist.

Du wirst nicht mehr Auroren sehn

Wenn sie vom Morgen Himmel blickt

In rother Tracht, mit güldnem Haar;

Und die bethauten Wiesen nicht,

Auch nicht im melancholschen Hayn

Die Sonn im Spiegel grüner Fluth.

Der Veilchen Duft wird dich nicht mehr

Erfreun, und das Gemurmel nicht

Des Bachs, der Rosen-Büsche tränckt,

Auf dem vor Zephirs sanftem Hauch

Die kleinen krausen Wellen fliehn.[98]

Auch wird dich Philomele nicht

Mehr rühren, durch der Töne Macht,

Auch meines Krausens1 Laute nicht

Die Philomelen ähnlich seufzt.


Allein, du wirst auch nicht mehr sehn,

Daß sich der Tugendhaffte qvält,

Sich seiner Blöse schämt und darbt

Und seine Lebenszeit verweint;

Indeßen daß in Seid und Gold

Der Bösewicht stolzirt und lacht.

Du wirst nicht sehn, daß ein Tyrann

Die Ferse, freygebohrnem Volck

In den gebognen Nacken setzt,

Das ihm Tribut und Steur bezahlt,

Nicht für den Schutz, nein, für die Luft.

Kein Narr, kein Höfling wird dich mehr

Mit dummer Falschheit peinigen,

Und keine Rachsucht sieht auf dich

Mit scheelen Blicken eines Wolfs.

Nicht Ungewitter, Pestilenz

Und Erderschütterung und Krieg

Erschreckt dich mehr. Der Erde Punckt

(Samt Pestilenz und Krieg und Noth)

Flieht unter deinen Füßen fort,

In Dunst und Blitz gewickelt. Sturm

Und Donner ruft weit unter dir,

Und Ruh und Freude labt dein Herz

In Gegenden voll Heiterkeit.

Wohl dir, daß du gestorben bist!

Fußnoten

1 Verfaßer der Schrift von der musicalischen Poesie, ein so vollkommner praktischer als theoretischer Ton-Künstler.


Quelle:
Ewald Christian von Kleist: Sämtliche Werke. Stuttgart 1971, S. 98-99.
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