Viertes Kapitel

Vom Erzfeind

[391] Fr. Wer sind deine Feinde, mein Sohn?

Antw. Napoleon, und solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen.

Fr. Ist sonst niemand, den du hassest?

Antw. Niemand, auf der ganzen Welt.

Fr. Gleichwohl, als du gestern aus der Schule kamst, hast du dich mit jemand, wenn ich nicht irre, entzweit?

Antw. Ich, mein Vater? – Mit wem?

Fr. Mit deinem Bruder. Du hast es mir selbst erzählt.

[391] Antw. Ja, mit meinem Bruder! Er hatte meinen Vogel nicht, wie ich ihm aufgetragen hatte, gefüttert.

Fr. Also ist dein Bruder, wenn er dies getan hat, dein Feind, nicht Napoleon, der Korse, noch die Franzosen, die er beherrscht?

Antw. Nicht doch, mein Vater! – Was sprichst du da?

Fr. Was ich da spreche?

Antw. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

Fr. Wozu haben die Deutschen, die erwachsen sind, jetzt allein Zeit?

Antw. Das Reich, das zertrümmert ward, wiederherzustellen.

Fr. Und die Kinder?

Antw. Dafür zu beten, daß es ihnen gelingen möge.

Fr. Wenn das Reich wiederhergestellt ist: was magst du dann mit deinem Bruder, der deinen Vogel nicht fütterte, tun?

Antw. Ich werde ihn schelten; wenn ich es nicht vergessen habe.

Fr. Noch besser aber ist es, weil er dein Bruder ist?

Antw. Ihm zu verzeihn.

Quelle:
Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Band3, Berlin und Weimar 1978, S. 391-392.
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