Zweites Buch
1.

[264] Der Präsident hoffte durch Vorstellungen des Unschicklichen und durch freundliche Begegnung Ernsten von seinem Vorsatz abzubringen; aber an der Ruhe, der Kälte, womit dieser darauf beharrte, sah er wohl, daß er damit nichts ausrichten würde. Er schmeichelte sich indes, der beschränkte, einförmige Aufenthalt würde dem jungen Menschen bald lästig werden; doch auch hierin irrte er sich. Ein Tag verfloß nach dem andern, und er sah in dem Gesichte des Jünglings keine Spur des Verlangens oder der Unbehaglichkeit; er bemerkte nicht die sanfte Melancholie, welche Ernst in seinem Busen darüber nährte, daß er durch seinen Brief Hadems Entfernung veranlaßt hatte. Es schien, als hielte er seinen Schmerz für einen geheimen Schatz, der an seinem Werte verlöre, wenn er ihn einem menschlichen Auge zeigte. Diese Stärke, diese Ruhe wirkten auf den Präsidenten, und in den ersten Tagen bewunderte er sogar dieses Betragen; da aber Ernst ohne weitere Äußerung immer dabei beharrte, so setzte sich ein bitterer, tiefer Unwille in dem Herzen seines Oheims fest, der nur eine neue stärkere Veranlassung zu erfordern schien, um in unauslöschlichen Haß überzugehen. Jetzt sah er sich von seinem Neffen einem Fremden nachgesetzt, von einem Knaben verachtet und beleidiget, und um so mehr beleidiget, da er alles zu dessen Bestem getan zu haben glaubte und für alle seine Bemühungen nichts als Beweise eines störrischen, undankbaren Gemüts entdeckte, das, durch eine Schimäre verzerrt, keines einzigen natürlichen und vernünftigen Verhältnisses unter Menschen achtete.

Ferdinand sah in den ersten Tagen den Entschluß seines Freundes als etwas Heroisches an, und es gefiel ihm ungemein; aber bald merkte Ernst, daß sein lebhafter Gesellschafter sehnende Blicke nach der Ferne warf, daß er den im Garten Spazierenden verlangend nachsah. Er bat ihn, in Gesellschaft zu gehen und ihn allein zu lassen.[264]

Ferdinand antwortete:

»Ich sollte dich verlassen, ich, der ich schuld an deinem Kummer und an Hadems Entfernung bin? ich, der ich dich angefeuert habe, den Brief zu schreiben?« –

Ernst legte seine Hand auf seine Brust:

»Sieh, dieses allein ist schuld – und war es ein Fehler, so muß ich wohl dafür leiden. Hadem verzeiht mir ihn gewiß. Laß du mich nur immer allein; es scheint ja doch nur so, als sei ich allein.«

Er konnte Ferdinand auf keine Weise bewegen, ihn zuzeiten zu verlassen. Dieser gestand ihm geradezu, er fände ihre freiwillige Gefangenschaft wohl langweilig, aber er würde es anderwärts, ohne ihn, noch unerträglicher finden. »Es würde mir gehen«, setzte er hinzu, »wie damals, als du krank warst. Lief ich auch einen Augenblick in den Wald, so hörte und sah ich doch nichts anders als dein schweres Atemholen, dein im Fieber glühendes Gesicht.«

Ernst drückte ihm die Hand und rechnete ihm in seinem Herzen das Opfer um so höher an.

Ernstens Geistesstimmung schildert sich am besten in den Bruchstücken von Briefen an Hadem, die er niederschrieb, während daß Ferdinand schlief, und dann sorgfältig aufbewahrte.


Ernst an Hadem

Ich habe meinen Oheim gebeten, Ihnen schreiben zu dürfen; er antwortete mir, Sie hätten ihm Ihr Wort gegeben, weder einen Brief von mir anzunehmen, noch zu beantworten. Das Vergehen Ihres Schülers muß sehr groß sein, da Sie gar nichts von ihm hören, ihn vielleicht ganz vergessen wollen. Doch vergessen können Sie ihn nicht, lieber Hadem; verlassen mußten Sie ihn und konnten gewiß nicht anders. Sie mußten, und vermutlich mußten Sie auch Ihr Wort geben, mir nicht zu schreiben; sonst wäre es nicht geschehen, sonst konnten Sie es nicht tun. Und der Grund, der Sie dazu nötigte, muß ebenso gerecht als zwingend sein; denn, lieber Hadem, was sollte aus mir werden, wenn ich dieses[265] nicht glaubte! Ich glaube daran wie an die Tugend, und darum will ich Ihnen auch gar nicht sagen, wie weh mir dies alles tut, damit es Ihnen nicht wehe tue, damit Sie mich nicht allzu sehr bedauern. Wie schmerzlich müßte es Ihnen nicht sein, mich verlassen zu haben, wenn Sie wüßten, in welchem Zustande ich bin! Aber was wollte ich Ihnen doch schreiben? Dieses war es wenigstens nicht. Es geht mir so wunderlich durch den Kopf – durch das Herz, wollt ich sagen – daß ich gar nicht weiß, wovon ich reden will und soll. Ja, das war es!

Warum mußten wir den stillen, ruhigen Aufenthalt meiner glücklichen Kindheit verlassen? warum die hohen Felsen, die sprudelnden Quellen, die blühenden Täler mit ihren guten freundlichen Bewohnern, den rauschenden Strom, den dunkeln Eichenwald – die Wiege Ihres Schülers, verlassen? Nun dringt mein trauriger, gebeugter Geist immer dahin; wir sitzen unweit des Stroms auf einer Anhöhe – die kühle Abendluft umsäuselt uns – wir sehen die untergehende Sonne auf goldnen Wolken ruhen – ihr Glanz verklärt Ihr Angesicht, und Ihre Gedanken bei diesem Schauspiele, die alle Keime meines innern Wesens entfalteten, steigen wieder in meinem Herzen auf. Ich fühle dann die Luft, die dort wehte, an meinen Wangen; ich höre das Säuseln der Bäume – die Schalmei unsrer Hirten – den Gesang, das frohe Gelächter unsrer Mädchen – und alles, was ich dachte und fühlte, steigt in meinem Busen lebendig auf. – Und erwache ich aus diesen süßen Träumen, so frage ich ängstlich: »Warum haben wir dieses verlassen? Darum, daß erfolge, was mir widerfahren ist?« Mir antwortet keiner, lieber Hadem; und ich vermag es ja nicht, da mir alles dunkel ist.


Ja dort, da kannte ich keinen Kummer, keine Veränderung; da stand der Tempel des Glücks und der Freude auf jeder Stelle, denn das unschuldige Herz bauete ihn überall auf. Wütete auch zuzeiten ein Sturm, so geschah es nur, die Gegend um uns her erhaben-schauerlicher zu machen; und beleuchtete das Licht sie wieder, so lag sie vor uns in neuer, erfrischter Herrlichkeit. Wir bebten staunend und schaudernd bei den Blitzen, den Schlägen[266] des Donners, bewunderten die Macht der Natur in ihren großen, erschütternden Erscheinungen, und süße Freude durchströmte uns, wenn wir nach der Gefahr die einsame Lilie unverletzt im Tale wiederfanden. Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen einmal kindisch sagte, als die dicken Tropfen des nächtlichen Sturmregens von den noch leise schwankenden Pappeln auf unsre Häupter fielen: »Hadem, die Pappeln weinen vor Freude, daß sie den gewaltigen Sturm überstanden haben und noch grünen, noch leben.« Ich kann dieses nicht von mir sagen – der Sturm, der mich überfiel, dauert fort – und noch lebe ich – es ist der erste, Hadem, und ich bin noch zu jung. Noch hat die Zeit den Stamm, auf dem mein Wipfel ruhen soll, nicht abgehärtet. Die Stütze, deren ich bedarf, sank weg; mein Licht verschwand mir plötzlich und kehrt nicht wieder. Vor meinen Augen liegt nun eine Dämmerung wie die Dämmerung meiner Höhle, wenn ein plötzlicher düsterroter Fackelschein die dunkelsten Winkel derselben erleuchtet. Kaum entdecke ich meine Göttin in dieser Dämmerung, und nur dann werde ich sie wieder in ihrer ganzen, reinen Klarheit sehen, wenn ich da sein werde, wo sie mir zum erstenmal erschienen ist. Und wenn sie mir nicht wieder erschiene! Hadem, wenn auch sie mich verlassen hätte, da der mich verlassen hat, der mir die Wolke öffnete, die sie mir verbarg!


Ich las einmal in einem Buche von einem frommen Jünglinge: es habe diesem frommen Jünglinge geträumt, ein schöner, glänzender Engel küsse ihn im Schlafe. Dieser Kuß habe auf seinen Lippen einen solchen unauslöschlichen, süßen Eindruck zurückgelassen, daß er ihn sein ganzes Leben hindurch gefühlt, sich nie von einem Sterblichen die Lippen mehr berühren lassen und nie ein unreines oder sündliches Wort gesprochen habe. Hadem, Sie sagten, es sei sonst ein sehr einfältiges Buch, aber diese einzige Stelle enthalte einen so tiefen Sinn, daß er alles andere Törichte reichlich bezahlte, und Sie möchten diese Stelle lieber geschrieben haben als das gelehrteste Werk. Ich verstehe jetzt diesen Sinn![267]

Was habe ich nicht alles erfahren, seitdem wir den Ort verlassen haben, wo ich an Ihrer Seite wandelte! wo die schönsten Blüten des Geistes von Ihren Lippen auf mich herabregneten und Ihre Empfindungen und Gedanken mir immer so erschienen, als wären sie mir aus einer vergangenen Zeit, aus einem fernen Lande her bekannt, deren Erinnerung Sie bloß erweckten und auffrischten!


Aber was ich sagen wollte, Hadem! Ihre letzten Worte! – Ich muß es Ihnen sagen, und sollte ich Sie auch ängstigen – denn mich überfällt eine unbeschreibliche Angst, wenn ich sie höre – und ich höre sie immer – im Schlafe – im Wachen – ich höre sie im leisen Winde, der durch den Kastanienbaum vor meinem Fenster mich anweht. – Warum unterbrach Sie mein Oheim mitten in Ihrer Rede? – Sollte die Tugend das sein, was Sie mir sagten – was soll dann aus mir werden? Zerstückelt, in Teile zerstückelt, die vor meinem Geiste zerrissen schweben – nach Maße gemessen, nach Regeln gezogen – nach Verhältnissen abgewogen soll ich sie in Rücksicht meiner und der Menschen denken? Das einzige Gute, das einzige Wahre, die Tugend, leide keine Übertreibung? Was heißt hier Übertreibung? So soll ich das nie in seiner ganzen Kraft und Stärke ausüben können, was meine Brust ausfüllt, was mir allein der Mittelpunkt von meinem und der Menschen Dasein zu sein scheint? So ist sie zu erhaben für den Menschen, um sie ganz zu besitzen, um sie ganz auszuüben? Ihre Worte, Hadem, nicht die meines Oheims, von jenem unglücklichen Abend auf einen so glücklichen Tag, erzeugen quälende Zweifel in meinem Geiste; und doch scheint es, daß sie genau mit den Ihrigen zusammenhangen. Hadem, wenn es so ist – wenn es ganz so ist, so geben mir die Worte meines Oheims über einen mir so dunkeln, so weit entlegenen Gegenstand mehr Licht als ich je zu sehen wünsche, als ich je ertragen kann. So sprengte er zwischen mir und der Welt eine Kluft auf, in die ich mich stürzen muß, die ich nicht überspringen kann, weil Sie mir fehlen, nachdem Sie dieselbe so weit auseinandergerissen haben, daß sich meine Haare vor ihrem klaffenden Schlunde sträuben.[268]

Verstehen Sie, was ich sagen will? Ich empfinde wohl, daß ich dunkel rede, so dunkel, wie ich fühle; aber dies ist eben mein Unglück, dies ist es, worüber ich klage, was für mich so ängstlich ist – da eben liegt die Qual, daß ich das Dunkel nicht erleuchten, nicht durchdringen kann, in das mein Oheim mich geführt, in das Sie mich tiefer gestoßen und dann verlassen haben. Mich, einen siebzehnjährigen Jüngling! mich, Ihren Schüler, Hadem! Ich fühle wohl, daß ich den ganzen Kampf bloß meinem Herzen überlassen sollte, daß ich da gewiß Grund finden würde; aber, Hadem, kann ich auch die Gespenster in die Flucht schlagen, in deren Mitte mich mein Oheim gestellt hat und die nun mit ihren verzerrten Larven meine Einbildungskraft schrecken?


Es ist schrecklich! – Lesen Sie nur und sagen Sie mir geschwind, was daraus für mich werden soll. Beinahe fange ich an zu begreifen, daß solche Männer wie Sie und der Kammerrat, und wie ich durch Sie einer werden sollte, dem Gespenste meines Oheims zuwider sind, weil es durch sie als das erscheint, was es wirklich ist, was es nicht sein sollte. Bin ich auf der Spur? auf der rechten Spur? Nun, meine Göttin, so nimm du den verlaßnen Jüngling in Schutz! – Hadem, ist jenes Wesen ein Popanz, von Menschen zusammengesetzt, um Kinder und Schwache zu schrecken? Ist es ein falscher Götze, den seine Priester auferzogen, wohlgepflegt und dann in das Dunkel hinter dem Altar gestellt haben, damit keiner von den Anbetern den Betrug entdecke? Sagen Sie mir das! beantworten Sie mir nur dieses schnell! Muß es so sein? Vertragen es die Menschen nicht anders? Warum sagten Sie mir denn, die stillste, geräuschloseste Leitung der Menschen auf Erden sei die beste und weiseste, sie müsse einem Sommerregen gleichen, der die Erde befruchte, ohne daß man ihn höre?

Ich dachte, das Leben und Tun der Menschen unter- und gegeneinander sei so freundlich, ihre wechselseitige Not schlinge ein Band um sie alle, dem sich keiner entziehen möchte, das jeder gern fester zusammenzöge, und der beste und auch der glücklichste unter ihnen sei der, welcher am meisten Gutes tun könnte, auch[269] sei er der Beliebteste und Willkommenste. Und ist es nicht so? Darf es keiner auf seine Weise? Auf die gerade, die rechte Weise?


Auch für den guten Kammerrat ist es mir, wie es scheint, nicht gelungen. Mein Oheim sagt überdies, ich hätte mich lächerlich bei dem Fürsten gemacht. Lächerlich? Desto schlimmer für den Fürsten, wenn man sich mit solchen Erinnerungen bei ihm lächerlich macht! Oder liegt das Lächerliche nur in dem Neuen für ihn, oh, so ist es noch schlimmer! Was forderte ich denn von ihm? – Die Geschichte des Kammerrats ist mir nun so klar – übte nicht auch er die Tugend mit seiner ganzen Kraft, ohne alle Rücksicht auf sich, aus? Er ging ja nicht mit dem Maße in der Hand an das Werk, er berechnete ja sein Tun und Wirken nach keinen Regeln, folgte ja nur der Weisung seines guten, menschenfreundlichen Herzens! – Und darum? darum? – Von seiner Geschichte begann alles, was mir widerfahren ist; aus ihr entsprangen in meinem Kopfe die ersten ängstlichen Gedanken über das Wesen der Menschen – und was darauf erfolgte, entwickelte und verwirrte sie immer mehr. So liegt denn das Ding, das mein Oheim System nennt, wie ein Joch auf dem Nacken aller? und jedem, der es trägt, ist seine Furche so scharf abgezeichnet, daß er seinem Herzen und Geiste völlig entsagen muß, um, solange er es trägt, die einmal gezogene Linie, ohne auszutreten, auf und ab zu ackern? – Hadem, reden Sie doch! Ich fordere in meiner Not Ihren Geist auf, der um mich ist. Er schweigt, alles schweigt um mich; ich sehe die Sichel des Mondes am gestirnten, ruhig erhabenen Himmel, höre nichts als das Lispeln des Windes in dem Baume vor mir und das leise Atemholen meines schlafenden, glücklichen Freundes. Er ist es, Hadem; er weiß, er ahndet nicht, was mich quält, und er soll es nie erfahren. Genug, daß einer leidet. Und weiß ich, ob er es ertrüge wie ich? ob es nicht noch schlimmre Wirkung auf ihn hätte als es auf mich hat? – Gute Nacht, Hadem. Ich vernehme Ihre freundliche Antwort nicht mehr wie sonst, kann Ihnen nicht mehr nachsehen, wie Sie sich langsam nach Ihrem Zimmer begeben,[270] sich nochmals umwenden, mir noch zum letztenmal zuwinken. Ach, jetzt scheine ich mir ganz allein auf der Erde lebend, allein wachend. Die von der Nacht umschleierte Erde liegt vor mir wie ein düster geschmücktes Grab; die flimmernden Sterne und der helle Mond sind die Lichter, welche diesen Kirchhof mit ihrem sanften Scheine beleuchten. Ich rufe in der Einsamkeit über dieses Grab, und keiner anwortet mir, keiner löset meine Zweifel. Soll ich mir allein trauen? mich befragen? Ist die Zeit, die ich jetzt lebe, eine Prüfungszeit, so früh mir aufgelegt, mein Herz und meinen Verstand zu üben? Dieser Gedanke kommt jenseits dieses Grabes her; er kommt von Ihnen, Hadem. Ich will ihn fassen und mich fest daran halten.


Wir leben recht glücklich, und ich sehne mich nach meinem Vater, den wir in kurzem erwarten. Was wird er sagen, wenn er Sie nicht findet? Wie wird er seinen Sohn bedauern, der Sie verloren hat! Indes arbeiten wir so fort, als wenn Sie bei uns gegenwärtig wären. Wir lesen in den Ihnen bekannten Büchern von den Stellen an, wo wir mit Ihnen stehengeblieben sind. Bei schweren fragen wir Sie um Rat; und wenn Sie dann schweigen – es ist wahr, einigemal füllten sich meine Augen mit Tränen bei Ihrem Schweigen, aber ich suche sie vor Ferdinand zu verbergen, um ihn nicht zu bekümmern. Denken Sie, der Freundliche opfert sich mir zuliebe so weit auf, daß ich ihn nicht überreden kann, das Zimmer zu verlassen; und Sie begreifen leicht, was dieses dem Lebhaften kosten muß. Haben Sie einen Freund, Hadem? Möchten Sie doch einen haben! Sie würden weniger leiden, daß Sie mich verlassen mußten; denn ich weiß, ich fühle ja, wie weh es Ihnen tut, daß Sie mich haben verlassen müssen.


Mein Oheim sagte mir, er würde dem Kammerrat Kalkheim eine Stelle geben, die ihm reichlich die verlorne ersetzen sollte. Nun spricht er, der Kammerrat habe sie ausgeschlagen und äußere sich, er ziehe seine jetzige Lage jeder vor, selbst der ehemaligen. »Du siehst also«, setzte er hinzu, »für wen ihr den unbesonnenen Streich gemacht habt, daß man die Menschen erst[271] kennen muß, bevor man etwas zu ihrem Besten unternimmt. Erst hättet ihr bedenken sollen, ob der Tor des Dienstes bedurfte oder wert war. Du siehst also, Neffe, daß sich Hadems letzte Worte besser bewähren als seine Handlungen, daß die gute Absicht bei einer Handlung nicht genug ist, daß man dich durch Täuschung zu einer schlechten gegen deinen nächsten Blutsverwandten reizte und daß der, um dessentwillen sie geschah, dir nicht einmal Dank dafür weiß.«

Seine schrecklichen Worte durchdrangen tief meine Seele. Was sollte ich ihm antworten! Ich wußte es in diesem Augenblick wirklich nicht; denn das Gefühl, daß ich durch diesen Schritt, der selbst dem, für den er geschah, unnütz scheint, Sie, meine Ruhe, alles verloren hätte, preßte mein Herz zusammen. Habe ich mich nicht selbst aus dem Paradiese vertrieben, in welchem ich, an Ihrer Seite, in Unschuld, Sicherheit und Unwissenheit einherging? Wenn meine erste gut gemeinte Tat so ausfällt – solche Folgen für mich hat – mir solche Lehren aufdringt, mir solche Aussichten in die Zukunft eröffnet – Hadem, was soll ich von der Zukunft hoffen, was von der Welt denken, in welcher ich bald tätig auftreten soll! Wenn ich bei jeder Tat, die mein Herz für gut und gerecht erkennt, so verfahren soll, so wägend und berechnend – wird dann auch nur eine so kräftig und rein aus ihm hervorspringen, wie sie sein muß, um diesen Namen ganz zu verdienen? Wird bei diesem Wägen und Rechnen, bei dieser Rücksicht auf die Verhältnisse um mich her, deren Umriß kein Auge erreicht, mein Blick sich nicht nach und nach auf mich selbst zurückziehen? Und dann? Ja dann, wenn ich einmal angefangen habe, die Tugend zu zerstückeln, um gerade so viel zu tun, daß auch nicht das mindeste mehr geschehe als eben die Verhältnisse erlauben – dann, Hadem, ist es mit mir und der Tugend aus. Dann bin ich ein recht guter Handelsmann, der sein Kapital wohl anzulegen versteht, aber kein Mensch, wie Sie einen aus mir bilden wollten. Meinen Geist schwindelt es vor diesem leeren, starrende Kälte aushauchenden, sich immer weiter aufreißenden Abgrund – und ich fürchte, die Gedanken, die ihr in mir erweckt habt, entfernen meine Göttin so weit von mir, daß[272] ich sie nicht mehr werde erreichen können. Um mich ihr auf den Flügeln meines Geistes nachschwingen zu können, muß ich wieder fest glauben, daß sie mit der einen Hand den glänzenden Sitz des Ewigen berührt und mit der andern das Menschengeschlecht. Nach meinem dunkeln Eichenwalde! nach meinem rauschenden Strome! meinen blühenden Tälern! meinen schroffen Klippen, aus denen der einsame Adler zur Sonne emporsteigt! Wenn ich dann seinem kühnen Fluge nachsehe, und die Lerche aus der Saat aufsteigt und über meinem Haupte wirbelt, und diese Stadt, mit allem, was ich darin erfahren habe, aus meinem Geiste verschwunden ist, und die freundlichen, glücklichen Landleute mich wieder anlächeln als den künftigen Wohltäter ihrer Kinder – dann wird die Kluft verschwinden, die vor mir ist, dann erst wird mir der Sinn, der in dem Kusse des frommen Jünglings liegt, recht klar werden. Und sind nicht Sie mein Schutzengel? Küßten Sie mich nicht bei dem plötzlichen Abschiede? begleiteten Sie nicht Ihren Kuß mit einem Blicke, der meine Seele so durchdrang wie der Kuß des Engels die Lippen des träumenden Jünglings? Hadem, dieser Ihr letzter Blick verlöschte in etwas den Eindruck Ihrer Worte. Er sagte mir: »Verharre in der Lehre, die ich dir gegeben!« Und ich setze hinzu: die Tugend muß das sein, was ich mir dachte, oder das ganze Menschengeschlecht wäre längst zerfallen, es hätte sich längst zerstreuet, es hätte sich in diesem gefährlichen Zustande, in dem es mir zu schweben scheint, ohne sie nicht erhalten können. Sie ist ihm von dem Ewigen zur Erhalterin und Beschützerin gegeben, und sie führt es wieder zu ihm zurück. Sie ist uns, was die feste Ordnung der um uns rollenden Welten ist, die Sie uns so klar und schön beschrieben haben. So wenig als die regellosen Kometen ihren fest bestimmten Lauf nicht stören können, ebenso wenig vermögen die Toren und Bösen gegen die Tugend. Sie bezeugen ihr Dasein, da sie durch allen ihren Wahnsinn, alle ihre Bosheit das Band nicht lösen können, womit sie das Menschengeschlecht an den Thron des Ewigen gebunden hat. Ja sie beweisen die Macht der Tugend wie jene Kometen die Allmacht Gottes. Und was würde aus diesen Unglücklichen werden, wenn sie nicht wäre! wenn alle[273] ihres Glaubens würden! Hadem, sie erhält selbst die, deren Herz sie nicht erkennt, deren Wahnsinn gegen sie arbeitet. Und ich sollte nicht an sie glauben?

Hadem, der Mann, der um ihrentwillen leidet, gleicht dem Märtyrer, dessen vergossenes Blut den Glauben weiter ausbreitete, der selbst seinen Henker der heiligen Sache gewann, für welche er soeben starb.


2.

Einige Zeit nach Hadems Abreise brachte der Buchbinder Ernsten eine Anzahl Bücher. Als Ernst sie in Empfang nahm, fand er vier französische Bände, die er ihm nicht gegeben hatte. Er gab sie dem Buchbinder zurück und sagte ihm: »Diese Bücher gehören vermutlich einem andern zu.« Der Mann erklärte ihm, Herr Hadem habe sie ihm Donnerstag abends gebracht und ihm anbefohlen, sie seinem Zögling Ernst von Falkenburg mit den andern zu übergeben.

Es war der Tag der Abreise Hadems, und Freude floß aus Ernstens Herzen nach seinen Wangen, in seine Augen. Er drückte die Bücher an seine Brust; und als ihm der Mann sagte, Herr Hadem habe auf die Gegenseite des Titels vor dem ersten Bande etwas geschrieben, eröffnete er ihn schnell. Er erkannte Hadems Hand und küßte die Schriftzüge. Dann trat er auf die Seite und las leise:

»Der Jüngling, der keinen Führer hat, wähle diesen. Er wird ihn sicher durch das Labyrinth des Lebens leiten, ihn mit Stärke ausrüsten, den Kampf mit dem Schicksal und den Menschen zu bestehen. Diese Bücher sind unter der Eingebung der lautersten Tugend, der reinsten Wahrheit geschrieben, sie enthalten eine neue Offenbarung der Natur, die ihrem Liebling ihre heiligsten Geheimnisse zu einer Zeit entschleierte, da die Menschen sie bis auf die Ahndung verloren zu haben schienen.«

»Du siehst, Ferdinand«, rief Ernst entzückt, »daß Hadem uns nicht verlassen hat, daß er uns nicht verlassen konnte. In diesem Buche muß sein Geist leben, und er wird zu mir reden, ich werde ihn wieder hören.«[274]

Er schlug den Titel um und las: Emil.

Es war das erste Buch unsers Jahrhunderts, das erste Buch der neuern Zeit. Der Mann, der es schrieb, faßte den erhabenen Gedanken, die durch Üppigkeit, Selbstigkeit, Witz, überfeinerte Ausbildung, durch eine Philosophie voller Sophismen, eine alles zerstörende, sich selbst dadurch endlich auflösende Regierung erwürgte moralische Kraft in seinen Zeitgenossen wieder aufzuwecken. Dieses tat er so wahr und kühn, als er es fühlte, und mit der Stärke der Beredsamkeit, deren nur derjenige fähig ist, in dessen Brust und Geist diese moralische Kraft in ihrer ganzen Fülle wohnt. So tief wie er sah keiner die Gebrechen der Gesellschaft, so tief wie er fühlte keiner, daß wahre Menschen in derselben keine Stelle mehr finden können, auf welcher sie es ohne Gefahr verbleiben dürfen. Sein scharfes Auge, sein forschender Geist, sein zartes, verwundetes Herz entdeckten die Wurzeln des Übels; und mit kühner Hand riß der Begeisterte die sich im Dunkel windenden Gänge auf, in denen sie vergraben lagen, und verjagte die Gespenster, welche Stolz, Wahn, Eigenliebe und Gewalt zu ihren schreckenden Wächtern bestellt hatten. Offen legte er das Gift dar, welches das Edle und Wahre im Menschen zernagt, und nichts konnte ihn bestechen, nichts ihn zurückhalten. Je mächtiger, je glänzender, je höher diejenigen dastanden, welche dieses Gift erzeugten und unterhielten, desto schonungsloser, desto kühner griff er sie an. In weissagendem Geiste sagte er den Vergiftern, was ihnen bevorstände und wie eben das Gift, das sie ausstreuten, am Ende sie selbst verzehren würde. Sie verschlossen ihm ihre Ohren. Er empfing von seinen Zeitgenossen den Lohn, der jeden erwartet, welcher den Menschen die Wahrheit sagt; aber eben dadurch legten sie bei der Nachwelt ein Zeugnis ab, daß er der einzige Mann seines verderbten Zeitalters war, der ihnen den Spiegel der Wahrheit treu vorhielt und sie vor dem Abgrunde warnte, den sie in ihrem Taumel und Wahn selbst aufgruben.

Nach vielen Leiden und Verfolgungen ist er in das Land zurückgekehrt, in welchem er hier im Geiste wohnte: in das idealische Land, über welches der Witzling spottet, an das der Eigennützige[275] nicht glaubt und dessen Ahndung, dessen Anerkennen unsern Ursprung und unsre Bestimmung allein beweisen. Und trügen uns die schnellen Flügel des Geistes nicht dahin, wenn der Druck der Gewalt, das Hohnlachen der Spötter, das Schauspiel der Torheit und Bosheit uns drängt, verfolgt und empört – wo sollten wir Zuflucht vor ihnen finden? wie die marternden Zweifel, die bittern Empfindungen, die aufrührerischen Gedanken heilen?

In jenem Lande ist unsre Zuflucht, dieser Mann sprengte die goldnen Pforten unsers Vaterlandes auf, und vor dem Eingange rollte die Finsternis weg, welche die Menschen davor gezogen hatten.

Ernst verschloß die Bücher sorgfältig und sagte in seinem Herzen: »Da du mir von Hadem geschenkt bist, so wirst du in diesem Hause nicht willkommen sein; du sollst mich ja lehren, woran sie nicht zu glauben scheinen. Ich verschließe dich vor meinem Oheim und jedem, wie ich ihnen meine Brust verschließe. In der Nacht will ich dich öffnen und den Geist aus dir hervorrufen, der den Mann beseelte, welcher dich der Welt gegeben hat.«

Da Ernst in dem Französischen noch nicht sehr stark war, so enthüllte er mit vieler Mühe die ersten Worte dieses Buches: sie sind gleichsam die Inschrift an diesem Tempel der Natur, den ihr Liebling dem Menschengeschlecht wieder geöffnet hat.

»Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt; alles artet unter den Händen des Menschen aus. Er zwingt ein Land, die Erzeugnisse des andern zu nähren, einen Baum, die Früchte des andern zu tragen. Er vermischt und verwirrt die Himmelsstriche, die Elemente, die Jahrszeiten, verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven, er verkehrt, entstellt alles; er liebt die Mißgestalten, die Ungeheuer und will nichts, wie die Natur es gemacht hat, selbst den Menschen nicht: man muß ihn für ihn zurichten wie ein Schulpferd, ihn nach seiner Weise biegen wie den Baum seines Gartens.« (»Emile« 1. B.) Kaum hatte Ernst den Sinn dieser Worte gefaßt, als ihm ein lauter Schrei entfuhr, der Ferdinand aus dem Schlafe weckte. Er beruhigte diesen und legte sich dann in das Fenster. Seine[276] Brust dehnte sich aus, seine Augen durchflogen den gestirnten Himmel vom Niedergang zum Aufgang:

»Also ist sie nur des Menschen Werk, diese Verzerrung, diese Ungestalt, dieser Mißklang mit mir! Und du bist, bist ganz wie ich dich dachte, fühlte und sah! Diese Worte sagen mir es deutlich; ihr Sinn durchbebte meine Seele, und aus dem Zittern entsprang ein Lichtstrahl des Himmels. Die Menschen konnten ihre Bestimmung nur dadurch aus den Augen verlieren, daß sie das schönste, erhabenste Werk der Schöpfung in sich und den Gegenständen um sich her verunstalteten, verstümmelten und zerstörten. Und wie sie dieses bewirkten, wodurch sie so unglücklich wurden und wie sie glücklich werden können, das soll mich dieser dein Priester lehren, heilige Natur! Schon stehe ich vor den Geheimnissen; der Vorhang ist aufgezogen, und der Geist meines Hadems steht mir zur Seite.«

Mit eben der Anstrengung und Heftigkeit, mit welcher ein Durstiger in der Wüste Afrikas arbeitet, den feuchten Boden aufzusprengen, unter dem er eine Quelle wittert, sein kochendes Blut zu erfrischen, arbeitete Ernst an der Enthüllung der Worte, welche die Gedanken und Empfindungen verschleierten, von denen er die Ruhe seiner Seele erwartete. Er stand vor dem Buche wie der Unglückliche vor der begeisterten Priesterin zu Delphos, die ihm von ihrem Dreifuß einen Rat erteilt, dessen Sinn er nicht ganz begreift. Seine beschränkte Kenntnis dieser Sprache reichte nicht hin, den Mann zu fassen, der so viel mit wenigen Worten sagt. Auch wagte er es nicht, eine Zeile zu verlassen, deren Sinn er nicht hell begriffen hatte, aus Furcht, seinen neuen Führer zu mißdeuten. Über seiner Anstrengung ging die Sonne auf; er überblickte den erworbenen Gewinn neuer Ideen und Gefühle, verschloß seinen Priester der Natur, wie er ihn nannte, und freuete sich auf die nächtliche Zusammenkunft mit ihm.


3.

[277] Der Präsident gab sich indessen Mühe, für Ernsten einen Hofmeister zu finden, der das alles zu verbessern und zurechtzusetzen imstande wäre, was Hadem nach seiner Meinung verdorben hatte. Er fand bald alles, was er wünschte, in einem Schweizer namens Renot. Eine empfangene Beleidigung, welche er an einem jungen Manne aus einer großen und mächtigen Familie in Frankreich zu gewaltsam und auffallend gerächt hatte, brachte ihn in diese Gegenden. Er mußte fliehen, um der Bastille zu entwischen.

Dieser Renot nun besaß in den Augen des Präsidenten alle mögliche Eigenschaften: Ton, Mut, Bekanntschaft mit den Gebräuchen der feinen Welt, Geschmeidigkeit im Umgange und tiefe Achtung für das, was Stände und Menschen so scharf unterscheidet und trennt. Den Angriff gegen einen Mann von hohem Stande verzieh ihm der Präsident als Offizier und vergaß darum, daß er nur ein Bürgerlicher war. Dieser Renot war seit einiger Zeit bei ihm eingeführt, aß oft an seiner Tafel, und je mehr der Präsident ihn sah und hörte, desto mehr überzeugte er sich, es sei der Mann für seinen Neffen. Er sprach von diesem mit ihm, erwähnte seiner Schimäre und hörte mit innigem Wohlgefallen Renots Äußerung hierüber. Dieser sagte:

»Der vorige Hofmeister hat höchstwahrscheinlich Ihres Neffen lebhaftes, versprechendes Gefühl der Ehre und der Ruhmbegierde nach einem Gegenstande geleitet, welcher ihm, als einem Manne, der die Welt und die Menschen nur aus Büchern kennt, bekannter war als jene. Diese Verzerrung, Ew. Exzellenz, ist nicht neu; es ist eine alte Krankheit aller derjenigen sogenannten aufgeklärten Leute, die ihre Lage und ihr Stand auf immer von der Rolle ausschließen, welche Leute von Geburt und Macht mit Recht sich ausschließlich zugeeignet haben. Auch ist es natürlich, vielleicht gar verzeihlich, daß ihr gekränkter Stolz, ihre zurückgedrückte Eigenliebe einigen Trost in dem Gedanken findet, sie besäßen etwas, das denjenigen fehlte, welche so weit über sie erhaben sind. Aber wenn sie dieses Leuten von Geburt, Ansprüchen[278] und Stand beibringen wollen und von diesen zu fordern wagen, daß sie das, was sie wirklich besitzen, für Schimären austauschen sollen, da muß man ihnen Einhalt tun, und ich sehe, daß Sie es zu rechter Zeit getan haben. Sie werden vermutlich dieselbe Krankheit an einigen neuen Schriftstellern Frankreichs bemerkt haben; die Teutschen, die diesen immer so gerne nachahmen, wollen auch hier nicht zurückbleiben. Diese Schimäre verschwindet aber leider sehr schnell, wenn man einmal selbst auf diesen Schauplatz tritt und die Menschen in ihrem tätigen Wirkungskreise handeln sieht. Gnädiger Herr, hätte ich die Kur eines solchen Jünglings zu übernehmen – wissen Sie, was ich tun würde? – Ich würde eine luftige Schimäre durch eine andere vertreiben, die gewisse Leute nur darum so nennen, weil sie, wie gesagt, der edelste Teil des Volks, vermöge Geburt und Stand, ausschließend in Anspruch genommen hat und sich mit Recht in dem Besitze behauptet.«

PRÄSIDENT: Und das wäre?

RENOT: Wovon ich soeben sprach: die Ehre, der Ruhm, der point d'honneur, den das erleuchtetste Volk zu einer Feinheit, einer Zartheit, einer Höhe und Bestimmtheit gebracht hat, daß er bei ihm alle andern Tugenden ersetzt, ja die einzige Tugend der Gesellschaft geworden ist.

Leiten Sie die Einbildungskraft Ihres Neffen auf diese Göttin, zeigen Sie ihm diese Tugend unsers verfeinerten Zeitalters in ihrem ganzen Glänze, beweisen Sie ihm, wie alle andren einen Mann von Stande zierenden Tugenden aus dieser allein entspringen, durch sie allein geltend werden, und ich stehe Ihnen dafür, er wird der phantastischen Göttin, welche sein grämlicher Hofmeister vor seine Augen gezaubert hat, bald den Abschied geben.

Der Präsident, höchst zufrieden mit den Gesinnungen Renots, erkundigte sich nun sorgfältig nach seinen Umständen und Verhältnissen; seine Kenntnisse glaubte er genug geprüft zu haben. Alles sprach zu Renots Vorteil, bis auf seine Kasse; doch eben auf diesen letzten Umstand bauete der Präsident die Erfüllung seines Wunsches. Er ließ ihm die Erziehung der jungen Leute[279] antragen und ihn versichern, daß er ihm am Ende derselben durch seinen Einfluß eine ehrenvolle Bestimmung verschaffen wollte, die ihn gewiß für dieses Opfer entschädigen würde. Renot nahm nach vielen Schwierigkeiten den Antrag endlich an, bewies aber dem Präsidenten sehr weitläuftig, welch ein Opfer er seinem einmal gewählten Stande hierdurch brächte.

Nun bereitete der Präsident seinen Neffen darauf vor. Dieser versicherte ihm gelassen, er brauche keinen Führer mehr, Hadem habe ihm einen zurückgelassen, und der Führer, den ihm die Natur gegeben, werde ihm bald in seinem geliebten Vater zurückkehren.

Der Präsident ließ sich hierauf nicht ein; er erzählte, es sei ein Mann von Ehre und Verdienst, ein Offizier, und rühmte unter andern, wie vortrefflich er französisch spreche, wie er den ganzen Reichtum, die ganze Feinheit und Gewandtheit dieser Sprache in seiner Gewalt habe. – »Und du weißt, Neffe«, setzte er hinzu, »wie nötig uns Leuten von Stande diese Sprache ist.«

ERNST: Ja, Oheim, diese Sprache ist mir nun sehr notwendig; ich fühle es nur zu sehr, wie wenig ich bisher Fortschritte darin gemacht habe – und darum, wenn er mir in dieser Sprache Unterricht geben will, soll er mir willkommen sein. Ob ich ihn als Führer brauchen kann – ob ich seiner dazu bedarf, davon sind mir andere Beweise nötig, als Sie mir von ihm gegeben haben. Ich weiß nur allzu sehr, was es bedeutet, einen Menschen zu erziehen, und was es von beiden Seiten voraussetzt.

Der Präsident glaubte, Ernst wollte wieder in seine alten Grillen verfallen. Er schwieg darüber und dachte, er habe für jetzt genug gewonnen und könne nun das übrige dem gewandten Renot überlassen.

Er freute sich noch mehr, als Ernst ihm sagte: »Schicken Sie ihn noch heute, ich möchte noch heute etwas von ihm lernen.«

Der Oheim liebkoste ihm und sagte:

»Ich hoffe, lieber Neffe, er wird dich bald zu uns bringen und du wirst uns allen wieder der willkommne Gast sein, den wir so lange vermißt haben.«

»Oheim«, antwortete Ernst, »glauben Sie, ich würde Sie so sehr[280] beleidigen, daß der Fremde von mir erhalten könnte, was ich Ihnen nicht gewähren konnte? gewiß nicht konnte, sonst würde ich es längst getan haben.«

PRÄSIDENT: Ich danke dir für die Feinheit der Empfindung. Behalte sie bei und du wirst bald können, was ich so sehnlich wünsche. Bedenke nur, mit welchem Kummer dein guter Vater das sonderbare Verhältnis bemerken wird, in welchem du in seines Schwagers Hause lebst. Wird er an mir, dem lang Erprobten, zweifeln? Wird er daran zweifeln, daß alles, was geschah, nur zu deinem Besten geschah? Was konnte mich anders bestimmen, so zu handeln, als dein Bestes? die Liebe zu dir, die Sorge für dich? Glaubst du, daß du die nie gestörte Eintracht zwischen deinem Vater und mir zerrütten könntest? Oder willst du es? willst du Verwandte trennen, die sich brüderlich lieben? in unsern Jahren trennen? – Ernst, ich habe durch dich meine einzige geliebte Schwester verloren – denn du weißt ja wohl, daß sie an den Folgen der Niederkunft mit dir starb – willst du mir nun auch die Freundschaft des Mannes rauben, mit dem ich durch sie verbunden bin? willst du mich bei ihm anklagen?

Tränen der Rührung traten in Ernstens Augen:

»Oheim, ich klage nur mich an, niemand anders; und – warum haben Sie mir dieses nicht längst gesagt, warum nicht längst so mit mir gesprochen? Ich fühle es wohl, ich bin ganz verkannt und werde es wohl immer bleiben; denn ward nicht er es? – Aber ich kenne ihn, und ich hoffe, auch ich werde mich immer erkennen. – Und, Oheim, noch heute sollen Sie mich an Ihrem Tische sehen, wenn Sie mich annehmen wollen.« –

Der Oheim küßte ihn, nannte ihn seinen lieben guten Neffen und sagte, er eile nun, seinen Kindern die Freude schnell mitzuteilen, da sie sich schon so lange nach ihrem Vetter sehnten.

Ernst wendete sich zu Ferdinand: »Ich danke dir für deine Treue, dein Ausharren und werde es nie vergessen.«

Ferdinand lobte seinen Entschluß, freuete sich der Veränderung und konnte, wie er Ernsten geradezu gestand, kaum den Augenblick erwarten, die Treppe hinunterzufliegen.

Ernst sprach von dem neuen Hofmeister (denn so nannte er ihn,[281] wie er Hadem nie genannt hatte) und sagte bedenklich: »Das einzige, was ich von ihm fürchte, ist, daß er die Einrichtung unsrer Zeit stören wird; und ich kann den Gedanken gar nicht ertragen, ihn an der Stelle sitzen zu sehen, wo Hadem zu sitzen pflegte.«

FERDINAND: Aber du kennst ihn ja noch nicht!

ERNST: Ich kenne ihn, Ferdinand; denn gliche er Hadem nur in etwas – glaubst du wohl, daß er dem Oheim gefallen hätte? Und gliche er ihm auch, so wäre es doch er nicht – er! – Doch um eines willen, und um deswillen, wird es Hadem mir gewiß vergeben; aber auf seiner Stelle soll er nicht sitzen. Wir wollen in dem Nebenzimmer lernen, die Bücher wechseln, und das Französische soll mit ihm unsre Hauptsache sein.


4.

Renot glaubte, in Ernsten einen träumenden Phantasten oder störrischen, mißmutigen jungen Menschen zu finden, und ward etwas betroffen, als ihm ein heiterer, schöner Jüngling frei und offen entgegentrat, ihn anständig grüßte und seinen Antrag zu erwarten schien. Er gab sich zu erkennen und sagte, es sei zwar bisher nicht sein Geschäft und seine Bestimmung gewesen, sich mit der Erziehung abzugeben, wie sie an seiner Kleidung wohl sehen würden; aber er hätte unmöglich dem Wunsche des Herrn Präsidenten widerstehen können. Es erfreue ihn nun, da er ihn und seinen Freund sehe, daß der Herr Präsident ihn der Ehre würdig gehalten, etwas zu der Bildung so vielversprechender Jünglinge beizutragen. »Das Opfer«, setzte er hinzu, »das ich etwa dadurch bringe, kann mir nun selbst nicht anders als zur Ehre gereichen!«

ERNST: Gereicht es nur zu Ihrem Vergnügen und zu unserm Vorteil, so gönnen wir Ihnen das gerne, was Sie so hoch anschlagen. Aber ich wünschte nicht, daß es ein Opfer wäre; denn ein Opfer kostet so viel, und man wagt so viel dabei, daß Sie mich dauern sollten, wenn es wirklich nur ein Opfer wäre.[282]

Renot empfand den abgewogenen Sinn dieser Worte recht gut und sah etwas verwundert den Rosenmund an, aus dem sie so sanft flossen. Er antwortete:

»Freilich wage ich es nicht, mir zu schmeicheln, den Verlust, welchen Sie in Ihrem vorigen Hofmeister erlitten haben, zu ersetzen« –

ERNST: Oh, mein Herr, er war mein Freund. Nennen Sie ihn nicht so – denn eben in diesem Worte liegt ja, was ich vorhin sagen wollte.

RENOT: Glauben Sie denn, ich würde dieses Geschäft übernommen haben, wenn ich mir nicht mit der angenehmen Hoffnung schmeichelte, ihn ersetzen zu können?

Eine leichte Röte flog auf Ernstens Wangen. Sein Herz klopfte – seine Augen konnten den Eindruck der schmerzlichen Erinnerung nicht verbergen. Hadems männliche, feste Gestalt, sein ruhiger, seelenvoller Blick, seine ernste, gedankenvolle Stirne, von sanfter Freundlichkeit gemildert, sein lockiges, ungepudertes braunes Haar, das sich um seinen Nacken ringelte und seine Schläfe beschattete, der volle schöne Laut seiner Stimme, der nie durch Unwillen, Zorn oder andre Leidenschaften in Mißton überging – dies alles stellte sich in diesem Augenblicke lebendig vor Ernstens Seele. Er sah ihn, hörte ihn, verglich mit ihm das zuversichtliche, anspruchsvolle Wesen und Betragen des vor ihm Stehenden, seine glatte, wie ein Spiegel glänzende Stirne, die nichts von dem zu verraten schien, was sie verbarg – seine süße Lieblichkeit, seine lispelnde Aussprache, sein mit Sorgfalt gekräuseltes und weiß gepudertes Haar, seinen hastig lebhaften Blick, dem er zu gebieten strebte; und er fühlte tief, wie unersetzlich sein erlittner Verlust sei. Sein Geist sagte ihm: »Dieser kennt den Weg zu deinem Tempel nicht!«

Renot beobachtete ihn genau, ohne es sich merken zu lassen. Sein Blick schien auf Ferdinand um so mehr zu verweilen, je mehr er mit Ernsten beschäftiget war. Auch tat seine Gegenwart eine bessere Wirkung auf jenen, wozu sein Rock und das Neue, Glänzende, Versprechende und Feine seines Betragens sehr viel beitrugen.[283]

Ernst erwachte aus seinem tiefen Nachsinnen und sagte zu Renot: »Mein Oheim hat mir Ihre Stärke in der französischen Sprache gerühmt. Ich freue mich sehr darüber, und Sie können auf meinen Dank rechnen – Sie können mich sehr glücklich machen, wenn Sie mich den kürzesten, leichtesten Weg zur Kenntnis dieser Sprache führen. Aber ich muß sie in ihrem ganzen Umfange kennenlernen – Sie müssen mir die ganze Stärke ihrer Ausdrücke, alle ihre Eigenheiten und Wendungen recht deutlich machen. Ich bedarf es, den Wert, die Kraft der Worte so kennenzulernen, daß ich mich in keinem irre, daß ich ja den Sinn eines jeden recht fasse – keines zu mißdeuten Gefahr laufe. Dieses halte ich für das Allerschlimmste – für das Allerschwerste.« –

Renot freute sich über Ernstens heiße Begierde, eine so wichtige Sprache in ihrem ganzen Umfange lernen zu wollen, er sagte laut, dies sei ein gutes Zeichen; und nun ließ er sich in ein weitläuftiges Gespräch über diesen Gegenstand ein. Er entdeckte sehr bald, daß Ernst die Hauptschwierigkeiten schon besiegt hatte; und um so wichtiger machte er jetzt das, was ihm noch zu tun übrig bliebe. Er bewies, daß ihm dieses nur ein Mann beibringen könne, der lange in der Hauptstadt von Frankreich gelebt habe. Und nun erfolgte ein großes, glänzendes Lob des französischen Volkes. Vorzüglich rühmte er dessen zartes, feines Gefühl für die Ehre und vergaß nicht, seine eigne Geschichte damit zu verweben. Weitläufig bemerkte er, wie viel er diesem Gefühle aufgeopfert und wie er die glänzendsten Aussichten nun aufgegeben hätte; »dafür aber«, fuhr er mit gefälligem Lächeln fort, »kann ich mich nun in meinem Unglücke mit dem Gedanken trösten, der Ehre genug getan zu haben. Mein Name wird in Frankreich wie bei meinem Regimente gewiß unvergeßlich sein.« Indem er sich so den Jünglingen bedeutend machen wollte, suchte er ihnen zu gleicher Zeit die glänzende Schimäre in der Ferne zu zeigen, deren Anbetung von nun an der Hauptgegenstand ihrer Erziehung sein sollte. An Ferdinand fand er einen sehr aufmerksamen Zuhörer; denn seiner lebhaften Einbildungskraft stellten sich alle die Szenen, die Renot leicht und flüchtig berührte und von denen er als dem Menschen ganz[284] eigen und natürlich sprach, lebendig dar. Er stand in der Mitte dieses Schauplatzes und bewunderte den Mann, der dieses alles erfahren und mitgemacht hatte.

Ernst hörte nur, wie vortrefflich er französisch sprach. Bei allen den neuen Vorstellungen, die einander so leicht und schnell folgten, dachte er nur an seinen geheimen Lehrer und sagte still in seinem Herzen: »Ja, der Mensch verdirbt alles an sich, sogar das Organ, wodurch er seine Gedanken mitteilt!« denn das Lispeln Renots war ihm unerträglich. Er leitete das Gespräch auf andere Kenntnisse. Renot blieb keine Antwort schuldig; er wußte alles, wußte wirklich vieles, wußte es leicht und verstand die Kunst vollkommen, schön und geläufig über alles das zu reden, was er nur berührt hatte. Er hatte in Genf den Wissenschaften geliebkoset; und da der Sinn ihm angeboren zu sein schien, das allgemein Nützliche und überall Angenehme schnell auszufinden und er die Wirkung auf andere sehr früh zu berechnen wußte, so hatte er die Ideen des Vertriebs sehr geschwind und leicht erworben. In der französischen Literatur war er sehr stark und sprach von ihren Schriftstellern mit Begeistrung. Ernst horchte auf und erwartete jeden Augenblick, daß Renot seinen Lehrer unter den berühmtesten Männern Frankreichs nennen würde, und besonders, weil dieser ein Genfer war, wie ihm der Titel seines Werkes gesagt hatte. Da aber dieses nicht geschah, so hielt er die sich immer vordrängende Frage über den einzigen Mann zurück, von dem er so gern etwas erfahren hätte. Er fühlte wohl, Hadem würde ihm Rousseau nicht gesandt haben, seine Stelle zu vertreten, wenn er der Liebling dieses Mannes wäre; und ihn selbst zu nennen, hieße den Schleier zerreißen, der sein schönes Geheimnis bedeckte, vielleicht gar seine Wirkung stören. Er bat nun Renot um eine Stunde und führte ihn in ein Seitenzimmer.

Renot verließ die Jünglinge, sprach gegen den Präsidenten hoffnungsvoll von ihren Fähigkeiten, leicht von ihren bisherigen Fortschritten und rühmte sich sehr bescheiden, er denke alles übrige bald in das gehörige und natürliche Geleise zu bringen.

Ferdinand ergoß sich in große Lobsprüche über Renot. Ernst[285] sagte gelassen: »Da du nun einmal Soldat werden willst, so kann er dir vielleicht nützlich sein. Ich aber bleibe bei dem, den du vergessen zu haben scheinst.«

Ferdinand fühlte das Gerechte des Vorwurfs, und da ihm plötzliche Wirkung so natürlich war, so traten ihm Tränen in die Augen. Er ergriff Ernstens Hand und sagte:

»Kannst du mich so mißverstehen?«

ERNST: Vergib mir; aber der Gedanke, du könntest ihn vergessen, machte mich um deinetwillen besorgt. Und die Möglichkeit, du könntest ihn vergessen, zeigt mir ja auch die Möglichkeit, daß du mich einst vergessen könntest. Denn mein Dasein ist mit dem seinigen eins, und du weißt, was es mit dem seinigen verbindet. Es soll mir lieb sein, wenn du von diesem lernest, was Hadem dich nicht lehren konnte. Aber bewahre wohl, was Hadem dich gelehrt hat; denn schwerlich wird es dieser ihm hierin gleichtun.

Die Jünglinge erschienen bei dem Abendessen. Der Präsident hatte jedem seiner Hausgenossen anbefohlen, weder durch Worte noch Mienen das Vergangne merklich zu machen. Ernst trat ein, als wäre nichts vorgefallen, und nur eine flüchtige Röte überzog seine Wangen, nur ein leises Zittern zeigte sich an seiner Oberlippe, als Renot sich zwischen ihm und Ferdinand niedersetzte. Der darauf folgende Gedanke, dieser Mann denke ihn nun unter seinem Schutze und seiner Leitung, war ihm so empörend, daß es ihm den schwersten Kampf kostete, das nicht zu zeigen, was jetzt in ihm vorging.


5.

Trotz der gleichen Ruhe und Kraft, die Renot täglich mehr in Ernsten bemerkte, zweifelte er doch nicht einen Augenblick daran, es würde und müßte ihm gelingen, den jungen Phantasten zu einem vernünftigen Menschen zu machen. So viel sah er nun wohl ein, daß es leise geschehen müsse, daß er das Vorhaben nicht merken lassen dürfe, daß er durch einen raschen Schritt alles verderben könne, mit einem Worte, daß man hier das aufgedunsene Herz durch Verstand, Spott und Witz erleichtern[286] müsse. Er bewunderte zwar Ernstens schnelle Fortschritte in dem Französischen, schrieb sich aber ganz natürlich bei dem Oheim das Verdienst davon allein zu. Gleichwohl konnten ihn seine Eigenliebe und seine Eitelkeit nicht so weit verblenden, daß er nicht hätte einsehen sollen, Ernst sei ein Wesen von so eigner sonderbarer Art, wie ihm noch keines vorgekommen sei. Lächeln konnte er zwar über ihn, aber die Achtung für ihn drang sich ihm wider seinen Willen auf, und dieses lästigen Gefühls wollte er für immer los werden.

Indes kam der Vater aus dem Bade zurück. Der Präsident hatte ihm den Vorfall, die Entfernung Hadems und die Anstellung Renots geschrieben. Mit welchen Farben, läßt sich leicht vermuten; und wie nachteilig er die Wirkung des Briefes auf den Fürsten vorstellen mochte, beweisen seine obigen Äußerungen. Doch schonte er Ernsten und versicherte seinem Schwager, er würde bei dem Fürsten alles wieder gutmachen. Nur sei es nötig, daß er Ernsten bei seiner Rückkehr so bald als möglich wieder auf das Land bringe und sich selbst jetzt dem Fürsten nicht zeige, um ihn nicht an die unangenehme Sache zu erinnern.

So sehr Herr von Falkenburg Hadem auch liebte, so nahm er es ihm doch sehr übel, daß er seinen Sohn zu einem solchen unüberlegten Schritte, den man so häßlich auslegen konnte und mußte, verleitet hätte. Er sah es, nach der Vorstellung des Präsidenten, als eine schlechte Tat gegen diesen an, als eine gesetzwidrige, aufrührerische Handlung gegen die Ordnung des Landes, als einen Eingriff in die Rechte des Fürsten, für den er die tiefste Achtung fühlte, als einen Vorwurf, den ein Jüngling seiner Gerechtigkeit gemacht habe. So sehr er nun auch den Verlust Hadems im übrigen bedauerte, so hielt er doch jetzt seine Entfernung für notwendig und nützlich. Das einzige, was ihn beunruhigte, war der Gedanke an das Leiden seines Sohnes, dessen Anhänglichkeit und unbegrenztes Zutrauen an und auf Hadem ihm so wohlbekannt waren.

Ernst flog in seine Arme, drückte sich so fest an seine Brust und umschlang ihn so innig, wie der Unglückliche den Erretter, der ihn eben der Gefahr des Todes entrissen.[287]

Der tief gerührte Vater blickte ihn an und sah nur Zärtlichkeit, nur Liebe, Vertrauen und Freude. Der Sohn blühte wie sonst, seine Augen strahlten das vorige Feuer, seine Seele sprach durch alle seine Blicke und Bewegungen wie ehemals; und nur, als er wieder zu Atem kam und zu reden anfing, zeigte sich dem Vater einige Veränderung. Es war das durch das Geschehene fester, bestimmter gewordene Wesen in seiner Haltung, seinem Tone, seinen Blicken, und er schien dadurch seinem Vater in der kurzen Zeit um einige Jahre dem männlichen Alter nähergerückt zu sein. Der Vater bemerkte dieses laut, und Ernst antwortete: »Ich hatte dessen wohl nötig, geliebter Vater; und was wäre aus Ihrem Sohne geworden, wenn er auch dieses nicht errungen – wenn es der, welcher ihn verlassen hat, nicht so früh in ihm erweckt hätte. Ich habe meinen Schutz verloren, meinen mich leitenden und bewachenden Engel selbst von meiner Seite entfernt, durch eine Tat entfernt, bei welcher ich auch auf Ihren Beifall rechnete. Ich bin gestraft genug dafür« –

VATER: Ich weiß alles, Ernst. Aber er tat es ja, er reizte dich ja, den Brief zu schreiben; warum klagst du denn dich an?

ERNST: Er? Mein Vater, er tat es nicht, er wußte nichts davon. Sie glauben Ihrem Sohne auf sein Wort, und nie beteuerte er Ihnen, was er sagte. Sollt ich es jetzt bei einer für mich so wichtigen, ich möchte sagen heiligen Sache tun, so würde ich mich als tief gefallen ansehen. Und dieses wollen Sie gewiß nicht. Ich will gerne von dem Geschehenen schweigen; die Notwendigkeit gebietet hier. Aber machen Sie, mein Vater, daß wir schnell hier weg kommen – ich muß diese Stadt verlassen, wo mein Unglück entstanden ist, wo ich Dinge erfahren habe, denen ich kaum gewachsen war, die ich so schwer ordnen konnte. Sein Sie nun mein Führer, mein Freund!

Der Vater fragte, wie er mit seinem jetzigen Hofmeister zufrieden sei, und Ernst antwortete:

»Er spricht das Französische vortrefflich; und da ich das brauche, so bin ich zufrieden mit ihm. Reisen wir heute? Führen Sie mich heute nach unsern blühenden Tälern zurück?«

VATER: Morgen! morgen mit dem Aufgang der Sonne![288]

Der ganze heitere Frühling der Jugend umschimmerte Ernstens Angesicht:

»Und sagen Sie mir nun, geliebter Vater – nur noch das, was ich keinen hier fragen konnte, nicht zu fragen wagte: – was ist aus Hadem geworden? Wo ist er nun? werde ich ihn nicht wiedersehen? ihm nicht schreiben dürfen? keine Antwort von ihm erhalten können?«

VATER: So bald wirst du ihn wohl nicht wiedersehen, und zum Briefwechsel ist die Entfernung viel zu weit. Er schrieb mir in einigen Zeilen den Abschied von dir und meldete mir zugleich, er würde mit einem Regiment an England verkaufter Teutscher nach Amerika gehen; und aus den Zeitungen erfahre ich, daß sein Regiment sich schon einschiffet.

ERNST: Also nach einem andern Teile der Welt vertrieb ich ihn – und ich bin nun so geschieden von ihm, daß ich die weite Entfernung nicht mehr messen kann! Aber, mein Vater, er ist hier, ist mir nahe; er wird, er kann sich nie von mir trennen.

VATER: Dieses wünsche ich in dem Sinne, wie du es verstehst. Er war ein edler Mann, und ich bedaure seinen Verlust –

ERNST: Oh, das war er, mein Vater, das ist er noch; und sein Lob aus Ihrem Munde verklärt sein Denkmal in meinem Herzen. Oh, er ist ein edler Mann!

Als sein Vater ihn verließ, suchte er Ferdinanden auf und rief ihm entgegen: »Höre die Worte meines Vaters! Er sagte: Hadem war ein edler Mann! – Und morgen fliehen wir diese Stadt, wo man ihn verkannte, morgen abend, Ferdinand, stehen wir wieder in dem Garten der Unschuld.«

Ferdinanden war diese Nachricht nicht so willkommen. Seine durch die Eitelkeit und die Mannigfaltigkeit der Gegenstände gereizte Einbildungskraft blickte mit Ekel auf den ihm nun tot scheinenden ländlichen Aufenthalt, zu dem er so plötzlich zurückkehren sollte. Ernst sah ihn an und sann seinem ihm unbegreiflichen kalten Betragen bei einer so fröhlichen Neuigkeit nach.

Ernstens Vater bezeugte dem Präsidenten seine Verwunderung darüber, daß er ihm so gerade geschrieben, Hadem habe den unüberlegten Schritt veranlaßt, da ihm doch sein Ernst, der nie[289] eine Unwahrheit gesagt, versicherte, Hadem sei der ganze Vorfall unbekannt gewesen.

»Bruder«, antwortete der Präsident, »unbekannt oder nicht, er hat es veranlaßt, deinen Sohn dazu gereizt; und eins ist so sträflich wie das andere und gleich nachteilig für deinen Sohn. Wenn dein Ernst ihn zu entschuldigen sucht, so entspringt dieses aus seinem guten Herzen, aus der närrischen Liebe zu diesem Menschen, gegen den ich, bis auf diesen Punkt, selbst nichts habe. Willst du übrigens aus deinem Sohne einen Phantasten oder ein störrisches Ungeheuer erziehen lassen, das gegen seine nächsten Verwandten schon so früh zum Ankläger wird, so ist dieses gerade der Mann dazu, ihn zu einem oder dem andern zu machen. Dein Sohn war schon ganz auf dem Wege, ein träumender Philosoph zu werden, dem alle bürgerliche Verhältnisse mißfallen, der mit Lufterscheinungen buhlt, während er jene mit Füßen tritt. Ich erwartete deinen Dank für das Geschehene und dachte wenigstens, du würdest meiner Weltkenntnis so viel zutrauen, daß ich wüßte, was sich für einen Edelmann von deinem Namen und Ansehen schickt. Schriebe ich die Tat deinem Sohne allein zu, so würdest du ihn wahrlich nicht in meinem Hause gefunden haben. Dafür danke mir wenigstens, daß ich ihn durch die Wendung, die ich der Sache gab, von dem allgemeinen Hasse der Stadt und des Hofes errettet habe.«

»Dafür danke ich dir«, antwortete Herr von Falkenburg; »und du hast als Bruder gehandelt. Hadems Absicht kann recht gut gewesen sein, aber der Schritt war immer unüberlegt. Nach seinem Schreiben scheint er es gewissermaßen selbst auf sich zu nehmen, da er des Vorfalls gar nicht erwähnt. Indessen, der Fürst hätte es auch nicht so ernsthaft aufnehmen müssen; wenigstens verdient ich's nicht um ihn. Und darum will ich deinem Rate folgen und ihn gar nicht sehen. Es möchte leicht sein, daß ich ihm meine Empfindlichkeit darüber zu lebhaft zeigte. – Es ist mir leid um das Geschehene, und ich wollte gerne meine alte Wunde wieder aufbrechen sehen, wenn es nicht vorgefallen, wenn Hadem noch da wäre. Du hättest immer nicht zu rasch verfahren, wenigstens meine Ankunft abwarten sollen – denn[290] du magst von ihm sagen, was du willst, er wollte nur das Gute; vielleicht ein wenig auf seine Weise, aber er wollte es. Und wenn dein Schweizer da meinen Ernst nur nicht gar zu weit von dem Wege abführt, auf den Hadem ihn leitete – mein Ernst hat freilich Dinge im Kopfe, die sonderbarer Art sind, aber sie sind so guter Art, daß ich es nicht gerne sähe, wenn er sie so ganz verlöre.«


6.

Ernstens Einbildungskraft schwebte mit leichten, rosenfarbenen Schwingen. Mit Ungeduld erwartete er den Untergang der Sonne; bei ihrem Aufgange stand er schon am Fenster, und als sie nun im Osten in ihrer ganzen Herrlichkeit auferstand und der Teppich der Nacht ganz verschwunden war und ihr goldnes Licht sich über die neue Schöpfung ergoß und sie schmückte, sah Ernst die Erfüllung aller seiner Hoffnungen, aller seiner Wünsche in diesem erhabenen Bilde am Horizont aufgehen.

»Du gehst mir auf«, rief er, »glänzendes Licht; und wenn du dort wieder hinter die Wolken trittst, so stehe ich schon in der Mitte meines wiedergefundnen Paradieses, und dann zieht die Nacht ihren Schleier zwischen mich und das, was ich hier erfahren habe. Dann stehe ich wieder in dem Tempel der Natur, ihr Priester wandelt mir zur Seite, und ich höre das Zulispeln seines Geistes – dort! dort werden mir seine Worte erst recht ganz lebendig werden!«

Und als sie nun ankamen und die Freude der Hausgenossen und aller Landleute sie empfing, als jeder herbeidrang, um die lange Vermißten zu sehen, und jedes Freude sich in Blicken und Gebärden zeigte, da fühlte sich Ernst, wie er gewesen war. Und als er den schmerzlichen Augenblick überstanden hatte, in welchem er Renot in Hadems Zimmer treten und da sich einrichten sah, eilte er mit Ferdinand nach seinem Walde, den Felsen, dem Flusse, den Tälern und jauchzte in seinem Herzen, alles so zu finden, wie er es verlassen hatte. Er trug ein weißes, feines Tuch in seiner Hand, in welches etwas eingeschlagen war; er verheimlichte selbst Ferdinanden, was es enthielte. Als[291] er aber in die Höhle trat und die Blende erreichte, sagte er zu diesem:

»Ferdinand, alle diese Riesensäulen, welche den Berg tragen, hast du deinen in der Geschichte berühmten Helden zu Denkmälern aufgestellt; ich lasse sie dir und fordere keine. Aber auch ich will ein Denkmal aufstellen, ein Denkmal meines Glaubens an die Tugend – an die Tugend, Ferdinand, die nicht erwägt, nicht berechnet, ein Denkmal der ungeteilten, die ganze Welt umfassenden und erhaltenden Tugend. Den Kranz, welchen ich in diesem Glauben in den blühenden Feldern des edlen Mannes pflückte, will ich dieser einsamen, schauerlich erhabenen Höhle anvertrauen und dem Auge der Menschen ganz verbergen. In dem dunkelsten, unbemerktesten Winkel soll er hangen, solange als ich an die Tugend glaube. Ferdinand, es ist ein Bundeszeichen zwischen ihr und mir. Noch einmal, zum letztenmal, umwinde ich meine Schläfe damit – dann die deinen. – Erinnere dich jetzt, was wir fühlten, als wir an dem Tage, da Hadem abreiste, vor meinem Oheim standen und uns so bekränzt umarmten. Verehre mein Denkmal!«

FERDINAND: Wie, Ernst? ein Kranz verwelkter Blumen, dürrer Ähren, den die Feuchtigkeit des Orts in kurzem ganz vernichten wird – ist dieses ein Denkmal der ewigen Tugend?

ERNST: Mein Glaube macht ihn dazu, zu einer Pyramide, die den Menschen und der Zeit trotzt. Ich werde Staub vor ihm sein, und mein Geist wird noch aus jenen Welten herabsteigen und den seinen sammeln; denn wenn ich denken, wenn ich fürchten könnte, daß je ihn meine Hand wegrisse, so wäre es besser für mich, ich hätte nie das Licht der Welt erblickt, wäre nie aus jenem Lande in das Land der Prüfung herabgestiegen. An dem Tage, Ferdinand, an welchem ich ihn wieder berührte, gehörte ich den Toten zu!

FERDINAND: Du wirst immer bleiben, wie du bist, so gut und edel. Aber warum wählst du diesen Winkel? Sieh, ich trete dir gerne die größte Säule in meinem Tempel des Ruhms ab. Sprich ein Wort, und ich stoße Cäsarn herunter – hänge den Kranz an das Felsenhaupt seiner Gedächtnissäule – sie scheint[292] ewig und fest wie die Tugend, scheint selbst der Erderschütterung zu trotzen.

ERNST: Ich danke dir, Ferdinand – ich wähle diesen Winkel. Die Tugend ist sehr bescheiden, und ich fürchte beinahe, man verstattet ihr in der Welt keine ansehnlichere Stelle. Wenigstens glaube ich nicht, daß man sie in der Höhe suchen muß. Und da dieses nur ein Denkmal zwischen mir und ihr ist, so soll es so sein. Wenn ich daran vorübergehe oder davor sitze, so werden sich meine Ansprüche darnach bilden, und die Lehren, die es mir dann zuflistern wird, die Gedanken, die mir von ihm kommen, werden von der Art sein, wie ich ihrer bedarf: groß im Innern, stark in sich selbst, still, ruhig, bescheiden im Äußern. Ferdinand, der Ruhm bedarf prächtiger Denkmäler; denn nur zu oft soll die Pracht uns die Wahrheit verhüllen. Dieses hier ist ein stiller Bund des Herzens.

Als er nun ein zugespitztes Holz zwischen die Spalte des Felsens in der Blende getrieben und den Kranz daran gehängt hatte, sagte er feierlich zu Ferdinand:

»Verehre meinen Bund! berühre nie diesen Kranz! Nie möge ich ihn berühren! Mein Geist sehe seinen Staub, sammle ihn und trage ihn in unser Vaterland.«




7.

Während nun Ernst aller der Wonne in seinem Herzen genoß, die ihm die blühende und wohltätige Natur so reichlich darbot, während er auf seinen einsamen Wanderungen auf die Stimme seines geheimen Führers horchte und dessen Geist in der reinen Luft, mitten im Schoße der Natur ihm immer näher trat, immer vertrauter und deutlicher ward und sein Blick in das Wesen und Leben der Menschen immer tiefer eindrang, sich immer weiter ausdehnte und er nun näher sah, was für Schätze der Mensch verloren und wodurch er sie verloren hat, während er von seinem geheimen Lehrer lernte, wie der Mensch, der auf den deutlichen Ruf der Natur, die reine Stimme des Herzens horche und allen ihr widersprechenden, sie zerstörenden Reizungen des Wahns,[293] der Eitelkeit, der Gewalt und Herrschsucht entsage, sich allein trotz allen wilden, empörenden, von diesen angebeteten Götzen erzeugten Äußerungen getreu verbleiben könne, sann Renot, ein Sklav dieser Götzen, auf Mittel, ihm dieses wiedergefundne Paradies der Unschuld, der Ruhe und des Glücks zu rauben. Und nicht allein, sie ihm zu rauben, sie ihm lächerlich zu machen und alle die Begierden, Leidenschaften und Torheiten in ihm zu entflammen, die ihm sein Führer als die Verwüster und Zerstörer dieses Paradieses so treffend und schrecklich geschildert hatte.

Zu diesem Zwecke sollte ihm das Werk Helvétius' »Von dem Geiste« dienen. Dieses hielt er für den besten Wegweiser für einen Mann, der sein Glück, ungestört von allen ängstlichen Träumen, nicht allein machen, sondern auch genießen will.

Dieses Buch ist durch vielerlei Beziehungen merkwürdig. Der Verfasser stellt uns in demselben ein treues, aufrichtiges Gemälde der Denkungsart seines Zeitalters, seines ganz in Sinnlichkeit versunknen Volkes dar, und so systematisch geordnet, daß, wenn die Zeit es allein dem Vergessen entrisse, es den späten Nachkommen zu einem sichern Leitfaden dienen könnte, die Ursachen der bald darauf erfolgten schrecklichen Ereignisse aufzufinden. Ohne alle Scheu und Rücksicht entschleiert uns dieser Mann in dem dogmatischen Tone der Überzeugung alle Triebe seiner Zeitgenossen, des Eigennutzes, der Selbstigkeit, Sinnlichkeit und aller ihrer zahllosen Gefährten, als wären nur sie die einzigen notwendigen Gesetze der menschlichen Natur. Kühn zerreißt er das Band, welches uns an eine höhere Welt bindet, und beweist uns, daß wir nur ausgerüstet mit diesen Trieben und Begierden in das Leben gestoßen werden und nur durch sie unsre Bestimmung erfüllen, daß alles andere Täuschung und erkünstelter Zusatz des Stolzes und einer aufgedunsenen Einbildungskraft sei, das zu weiter nichts diene, als uns zu blenden oder Dornen auf einen Weg zu streuen, den wir so leicht und froh hinwandeln könnten. Sein Werk zeigt uns von Anfang bis zu Ende, durch das ganze glänzende, witzige, metaphysisch und moralisch sein sollende Gewinde durch, daß er und seine aufgeklärten[294] Zeitgenossen samt allen Machthabern jedes Standes nicht allein an die Tugend nicht mehr glaubten, sondern so weit gekommen waren, daß sie es gerne hörten, wenn man ihren Unglauben durch sogenannte philosophische Beweise systematisch erhärtete. Und so legte er in diesem seinem Werke der Nachkommenschaft das Bekenntnis ab, daß nicht allein bei ihm und dem Volke, für welches er schrieb, alle wahre moralische Kraft aufgetrocknet sei, sondern daß es derselben entbehren konnte und wollte.

Und dieses System der Sinnlichkeit, dessen Lehre sich an seinen Bewunderern und Befolgern so schrecklich gerächt hat, sollte dem Schüler Hadems und des Priesters der Natur, dem Jünglinge, in dessen Busen beide nur leise zu rufen brauchten, um ihren eignen Geist sich antworten zu hören – diesem sollte es wie ein langsames Gift als die einzige, durch Erfahrung bewährte Weisheit eingeflößt werden!

Das einzige, was sich zu Renots Entschuldigung sagen läßt, damit er nicht wie Leviathan im »Faust« oder »Giafar« dastehe, ist, daß er es wirklich nicht für Gift hielt, daß er es früh auf dem Schauplatze eingesogen hatte, wo es aus der moralischen Fäulnis emporschoß; daß er wirklich dachte, seinen Zöglingen zu nützen, und um so mehr, da es sie dem Ziele näher bringen sollte, nach welchem allein ein Mann von Stand, Geburt und dadurch großen Ansprüchen zu streben hat. Auch kannte er in sich selbst keine andern Triebe, hatte nie nach andern gehandelt – wie konnte er nun an Götzen zweifeln, die er selbst anbetete?

Lange drehten sich seine Gespräche um den Lauf der Welt, um das, was sie in Bewegung setzt und in Bewegung erhält. Er zeigte von fern an, wie aus diesen Trieben allein alles Große, Glänzende und Nützliche, welches die Menschen getan hätten und täten, entspränge, wie diese Triebe sie zusammenhielten und wie sie eigentlich allein das Band der wechselseitigen Verhältnisse ausmachten. Gleich einem vom Aberglauben entflammten Priester stellte er einen seiner Götzen nach dem andern auf, schmückte jeden aufs herrlichste, rühmte jedes ihm eigne Wunder und zeigte begeistert auf das glänzende Glück, welches er[295] seinen Anbetern gewährt. Und nun ließ er zuzeiten seinem Witze freien, ungebundnen Lauf und malte bis zur Verzerrung die Göttin, welche Ernst im stillen verehrte. Die Geschichte und seine Erfahrung lieferten ihm freilich hierzu traurige Beweise, und er wußte sie zu nutzen; aber er ahndete nicht, daß Ernst von seinem geheimen Lehrer auf alles dieses vorbereitet war, er wußte nicht, daß ihn dieser fest überzeugt hatte, die Stärke der Seele sei der Grundstein aller Tugend und diese könne sich nur durch Proben erweisen.

Da Ernst immer ruhig und still zuhörte, so glaubte endlich Renot wirklich, der Zeitpunkt sei gekommen, worin er die nähere und gänzliche Entwickelung seines Systems würde vornehmen können. Nun flocht er es in alle Unterredungen ein, und jeder laute Gedanke, jede ausgesprochene Empfindung mußte ihm dazu Gelegenheit geben. Dabei vermied er die Miene des Lehrers so viel als möglich; alles sollte nur Erwerb der Erfahrung großer, berühmter und weiser Männer scheinen, damit es an Kraft und Glanz gewönne.

Von mir erwarte niemand, daß ich ihm dieses System des Eigennutzes und der Sinnlichkeit hier nach Renot vortrage und es mit ihm durch das ganze Schlangengewinde von Sophismen, Witz und Vernünftelei verfolge. Möchte mein Vaterland es nie ausüben lernen, nie so tief sinken, daß es unter uns die Triebe der Handlungen bestimme! – Meine Zeit ist zu kostbar, und mich drängt das Schicksal des edlen Mannes, der meine Seele so innig beschäftigt, zu gewaltig vorwärts. Sollte ich nun über diesen Schlamm der Menschheit mit gesenkten Flügeln hinschweben, in Gefahr, sie zu beflecken?

Ernst hatte während dieser Zeit lebhaft gefühlt, daß die ganze Lehre Renots die natürliche Folge der Zweifel sein müßte, welche ihn so lange gequält hatten, daß eine Moral, die das bloß Nützliche zum Grund unsrer Handlungen aufstellte, uns bald dahin bringen müßte, bei allen unsern Handlungen bloß auf das uns Nützliche zu sehen, und daß demnach alle Moral nur Spiegelfechterei der Schule wäre.

Ernst ließ Renot ruhig seine ganze Denkungsart mit allem dem[296] Wohlgefallen, das er dabei zu empfinden schien und das er täglich mehr zeigte, aufstellen. Dieser legte ihm sein stilles, ernsthaftes Nachdenken dabei so aus, als werde er nach und nach von der Stärke seiner Gründe überzeugt; aber ehe er es sich versah, erweckte ihn Ernst, auf eine Art, die er gewiß nicht erwartete, aus seinem Irrtum. Und der Jüngling, welcher ihm so lange ohne den mindesten Widerspruch zugehört hatte, bewies ihm plötzlich, daß er die ganze Zeit zu nichts anderm angewandt, als dem sich gefallenden Redner bis in den verborgensten Winkel des Herzens zu blicken, und daß er wirklich den Punkt seiner Schwäche richtig gefunden hätte.

Eines Morgens trat Ernst, nachdem er Ferdinanden entfernt, in Renots Zimmer und stellte sich so männlich gefaßt vor ihn, wie ihn dieser bisher noch nicht gesehen hatte. Er sprach mit einem festen, immer gleich gehaltnen Tone:

»Herr Renot, hören Sie mich nun einige Augenblicke mit eben der Aufmerksamkeit an, die ich Ihnen so lange, ohne Sie ein einziges Mal zu unterbrechen, geliehen habe. Es ist wirklich hohe Zeit, daß wir uns gegeneinander erklären, damit jeder von uns wisse, wie er den andern anzusehen und zu behandeln habe. Das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, muß auf immer zwischen uns entscheiden, es muß für immer über unser Verhältnis zu meiner Ruhe und, wenn Sie wollen, zu Ihrem Vorteil bestimmen.

Die Eltern bezahlen eigentlich die Hofmeister ihrer Kinder dafür, daß sie denselben gute Lehren geben; ich, Herr Renot, will etwas Ungewöhnlicheres tun: ich will Sie dafür bezahlen, daß Sie mir und meinem Freunde keine schlechte Lehren geben, daß Sie uns der Tugend, welcher Sie uns entweder nicht zuführen können oder wollen, wenigstens nicht zu entführen suchen. Meinem Versprechen können Sie gewiß glauben; denn Sie sehen ja wohl, daß es Ihnen mit allem Ihrem Witze, aller Ihrer Erfahrung und Ihrer wirklich glänzenden Beredsamkeit nicht gelungen ist, mich einem Wesen untreu zu machen, welches Sie Schimäre nennen. Darum meine ich nun, daß Sie dieser meiner Schimäre zuversichtlicher trauen können als derjenigen, die Sie an ihre[297] Stelle zu setzen suchten; und gewiß hat Ihnen Ihre Welterfahrung auch hier über einige Beweise gegeben. Ich will Sie nicht um Ihre Aussichten bei meinem Oheim bringen, will Sie vielmehr über Ihre Erwartung belohnen, sobald ich es imstande bin; denn lieber will ich doch den Hofmeister behalten, den ich kenne, als Gefahr laufen, mir für die noch kurze Zeit einen aufdringen zu lassen, der sich vielleicht sorgfältiger zu verbergen wüßte.

Zum Beweise, daß ich Sie nicht mit bloßen Worten bezahlen will – ich habe eine ziemliche Summe erspart; mein Vater gibt mir, wie Sie vielleicht wissen, immer mehr als ich bedarf. – Diese Summe hatte ich zwar meinem Freunde Hadem als ein Zeichen meiner Erkenntlichkeit bestimmt, aber er wird es mir gewiß verzeihen, daß ich sie so anwende; er würde sogar, das versichere ich Ihnen, sein Letztes hergeben, um sie zu vergrößern. Sie sollen dieses und alles künftig Ersparte haben, darauf können Sie, bis zu der Zeit, wo ich reicher sein werde, gewisse Rechnung machen.

Wundern Sie sich nicht über das, was ich sage, und hören Sie mir mit der Kälte zu, mit welcher ich rede.

Entweder Sie nehmen nun meinen Antrag an, oder wir trennen uns. Nehmen Sie ihn an, so lehren Sie uns Französisch, Geographie, Geometrie, schweigen aber von allen Ihnen ganz fremden, unbekannten Dingen und behalten Ihre ganze Welterfahrung zu eignem Gebrauche. Ich kann Ihre Lehren nicht allein nicht brauchen, ich kann sie gar nicht mehr anhören, wie Ihnen mein Vorschlag klar beweist. Gefällt Ihnen mein Antrag nicht, so verlassen Sie noch heute unser Haus; meinem Vater werde ich sehr leicht die Notwendigkeit davon begreiflich machen.«

Nach diesen Worten legte er einen Beutel voll Gold vor Renot auf den Tisch und schien ganz ruhig den Erfolg abzuwarten. Renot sah bald auf ihn, bald auf den Boden, bald auf das Gold. Endlich antwortete er:

»Sie verkennen und beleidigen mich, mißdeuten ganz, was ich bei meinen Reden über diesen Punkt beabsichtige. Bei meiner Ehre, ich denke nur an Ihr Bestes.«

ERNST: Mein Bestes kannte ich schon vor Ihnen; doch darauf[298] lasse ich mich nicht ein. Ich habe Ihnen meinen Entschluß bekanntgemacht, er ist unerschütterlich, denn er betrifft die wichtigste Angelegenheit meines Lebens. Erwägen Sie nun die Ihrige. Und um Ihnen nichts zu verbergen – wissen Sie, warum ich Sie von meinem Oheim angenommen habe? Nur darum, daß Sie mir durch die Mitteilung Ihrer Kenntnis der französischen Sprache einen Führer verständlich machen sollten, durch welchen Sie mir ganz entbehrlich waren, der mich jeden Tag mit neuen Waffen gegen Ihre gefährlichen Lehren ausrüstete.

Ernst ging in sein Zimmer und brachte den »Emil«.

»Hier sehen Sie meinen Freund und Führer, in dieser Verlassenschaft Hadems ruhet sein Geist und meine Stärke. Sie können, wenn Sie wollen, mein Geheimnis nun verraten; sein Geist wohnt in meiner Brust, und nie werden Sie oder die Menschen das austilgen, was er, dem die Tugend selbst den Griffel gab, in mein Herz geschrieben hat. Doch vergessen Sie ja nicht, Herr Renot, daß Sie nur ihm den Vertrag verdanken, den ich trotz allem, was ich von Ihnen hören mußte, bereit bin, mit Ihnen abzuschließen. Ich kann wenigstens nicht vergessen, daß ich ihn durch Sie erst recht habe verstehen lernen.«

Renot schlug indessen die Bücher um, schob sie kalt beiseite und sagte:

»Wissen Sie wohl, daß diese Bücher das gefährlichste Gift gegen die Religion enthalten?«

ERNST: Vielleicht gegen die Ihrige, gegen die meinige nicht. Wenn Sie sich die Mühe geben wollen, den dritten Teil aufzuschlagen, so werden Sie da einige Stellen bezeichnet finden, die mich gegen die Ihrige schützten.

RENOT: Es ist überflüssig. Folgen Sie diesem Führer in allem, Herr von Falkenburg? – Ich sehe, Sie verehren ihn ausschließend. Das einzige, was mir zu wünschen übrigbleibt, ist, daß Sie sein Schicksal nicht treffen möge.

ERNST: Und welches ist es?

RENOT: Allen Menschen lächerlich, von allen gehaßt und verfolgt zu sein.

ERNST: Von allen? Ich hoffe, von den Menschen nie schlecht[299] genug zu denken, um dieses glauben zu können. Und wäre es, so bewiese es ja doch nur, was ich glaube, was ich von ihm glaube. Der Mann Ihres Systems wird freilich ein glänzenderes Schicksal haben. Ich wette, er ist reich, geachtet, allgemein beliebt. Es sei so! Darum behandele ich auch Sie nach seinem System und fordere weiter nichts von Ihnen, als daß Sie mich nach dem meinigen behandeln möchten. Weiter habe ich Ihnen nun nichts zu sagen. Zeigt mir mein Vater an, daß Sie Ihren Abschied verlangen, so verwerfen Sie meinen Antrag, schweigt er, so ist alles zwischen uns ausgemacht.

Er ging.

Renot saß noch lange, in tiefes Nachdenken über diesen sonderbaren Antrag versenkt. Die Art und Weise, die Festigkeit, die Offenheit, der Geist und Mut, womit Ernst sich erklärt und ihn so geradezu auf den Punkt der Entscheidung gestellt hatte, brachten seinen Stolz, seine Eitelkeit und sein sogenanntes Ehrgefühl in ein peinliches Gedränge. Sein Lieblingsgötze, der point d'honneur, den der junge Mann so gewaltig und schonungslos geschüttelt hatte, spielte an seinem Herzen, bis er es empörte; aber die Empörung dauerte nicht sehr lange, denn sein ausgebildeter Verstand zeigte ihm schnell den ganzen Vorfall von einer so lächerlichen Seite, daß er in ein helles Lachen würde ausgebrochen sein, wenn er nicht befürchtet hätte, Ernst möchte sich in der Nähe befinden. Endlich lispelte ihm der Geist seines Systems zu:

»Warum sollt ich einen Toren nicht auf seine Weise behandeln? Tat ich nicht meine Pflicht, da ich ihm zeigte, daß er es sei, da ich mir die Mühe gab, ihn von seiner Torheit heilen zu wollen? Er will nun einmal zu der Zahl derjenigen gehören, die das Schicksal so gestaltet und gestimmt in die Welt wirft, daß sie Leuten von Verstande zum Spiel oder Mißbrauch dienen. Soll ich nun meine Zeit verloren haben oder mich von seinen Grillen anstecken lassen und mein Glück zerstören? Alles, was ich für den Toren tun kann, ist, ihn zu bedauern; denn seine Geistesstimmung verspricht ihm keine heitere Tage. Doch schaden wird er mir gewiß nicht, dafür steht mir seine Narrheit. Er ist so zufrieden[300] mit seinem Zustande, daß alle Sorge für ihn lächerlich wäre. Sein gewählter Führer hat, so viel ich weiß, noch keinem Menschen genützt; so nütze er mir! – Aber dem Knaben da, der mich so beleidigt hat, werde ich nie vergeben!«




8.

Nach obigen Betrachtungen lebte Renot in dem Hause des Herrn von Falkenburg so ruhig und heiter fort, als wäre nichts geschehen. Er behandelte Ernsten, wie dieser es wünschte, das heißt, er kümmerte sich nicht um ihn. Da aber auch Philosophen, von welcher Sekte sie sein mögen, ihren Systemen gerne Schüler gewinnen, um ihre Schätze durch sie auf die Nachwelt forterben zu lassen, so hielt sich Renot jetzt bloß an Ferdinand, in welchem er immer einen sehr aufmerksamen Zuhörer bemerkt hatte. Das unruhige Feuer der Ehrbegierde, der Reiz nach Genuß, das Verlangen, in der Welt zu glänzen und eine Rolle zu spielen, waren durch Renots schimmernde Schilderungen schon lange in seinem Herzen in brausender Gärung. Er konnte kaum den Augenblick erwarten, auf dem Schauplatze, den man ihm so anlockend und bezaubernd malte, ein tätiger Mitspielender zu werden. Gewisse andere Begierden, die in diesen Jahren so stark und laut anfangen zu sprechen und die der Blick der reizenden Amalie so mächtig erweckt hatte, zogen einen noch blendendern und reizendern Firnis über eine Welt, wo sie ihre Befriedigung ahndeten. Renots Unterhaltung setzte sie in volle Flammen; denn er erzählte ihm gerne seine und anderer Begebenheiten mit einem Geschlechte, das, nach seinen geäußerten Meinungen, nicht allein den Wert eines Mannes bestimmt, sondern auch über sein Glück entscheidet. Dieses alles tat nun Renot in der Absicht, den jungen Menschen für die Welt zu bilden und ihn zum wahren Glück zu führen. Demnach sah nun der lebhafte Ferdinand in seinem Hofmeister nicht allein den angenehmen Verkündiger aller der Genüsse, nach denen er sich sehnte, er sah in ihm auch den Mann, der ihm den leichtesten und sichersten Weg zu ihnen zeigte, der allein ihn lehren konnte, zu gefallen und die Herzen[301] dieser Glücksgöttinnen zu gewinnen. Seine Einbildungskraft ward durch diese Vorspiegelungen immer reger, und Genuß, Liebenswürdigkeit, Gefühl der Ehre in Renots Sinne wurden bald die einzigen Gedanken, mit denen er sich beschäftigte. Renot bewies ihm die Notwendigkeit seiner Lehre auch dadurch, daß er als eine Waise nur durch die Gaben, mit denen die Natur ihn so reichlich beschenkt hätte, das ersetzen könnte, was ihm vom Glück und Schicksal vorenthalten wäre. Und hier ergoß er sich gewöhnlich in ein großes Lob über seine Gestalt, seinen Witz, seine Lebhaftigkeit, Anmut und Gewandtheit und versäumte nie, Ernstens Betragen und Denkungsart lächerlich zu machen. Verteidigte Ferdinand diesen gegen seine Sarkasmen, so sagte er: »Den Reichen ist alles erlaubt, ihnen verzeiht die Welt sogar die sonderbarsten Grillen; aber ein Mann, der sonst nichts hat als seine Talente und empfehlende Gestalt, muß sich hüten, einer Schimäre nachzulaufen, die noch keinen glücklich gemacht hat und die gewöhnlich damit endiget, daß sie die Geißel derer wird, die mit ihr gebuhlt haben. Diejenigen, welche sie noch am besten behandelt, läßt sie, nachdem sie dieselben um allen wahren Lebensgenuß gebracht hat, als einen Gegenstand des Spottes und des Gelächters stehen; und die vom Elend Erdrückten und Erwürgten verweiset sie auf die Hoffnung über dem Grabe.«

Hörte und sah Ferdinand Ernsten, so dachte er freilich anders; aber doch glaubte er auch von ihm, es ließe sich zwischen Renots und Ernstens Denkungsart ein Vergleich stiften, vermöge dessen ein Mann von Ehre mitten im Geräusche und Genusse der Welt es verbleiben könne; und die Welt zu genießen und zu benutzen, schließe die Tugend und Rechtschaffenheit nicht aus.

Das schöne Band der jungen Freunde wurde, wenigstens von Ferdinands Seite, durch diese Verschiedenheit der Gesinnungen von Tage zu Tage lockrer. Ernst sah es mit tiefem Kummer. Er zeigte Ferdinand seine Besorgnisse; aber so schonend er es auch tat, so erblickte doch dieser in ihm mehr einen spähenden Beobachter und ernsthaften Zurechtweiser als einen wohlmeinenden Freund. Renot unterhielt ihn in dieser Meinung.


9.

[302] Die Zeit der Trennung war nun gekommen; Ernst und Ferdinand hatten die Jahre erreicht, wo sie den Wirkungskreis ihrer Tätigkeit erwählen mußten. Ferdinand wurde durch den Präsidenten bei einem auswärtigen Regimente in Frankreich angestellt; Ernst sollte die Universität beziehen. Ferdinand reiste zuerst, und Ernst sagte ihm beim Abschiede:

»Ich bin dein Freund. Beweise mir, daß du der meinige bist, wenn du dich in Not befindest. Ich teile mit dir; und gelingt es dir in der Welt nicht, hier sollst du immer alles finden, dessen du bedarfst. Nur kehre mir zurück, wie du mich verlässest. Vergiß Hadem und seine Lehren nicht, so kannst du mich nie vergessen.«

Renot dachte noch immer, er würde Ernsten auf die Akademie begleiten; aber dieser wußte seinem Vater so klar zu beweisen, wie entbehrlich Renot ihm sei, daß man ihn entließ und ihn dem Präsidenten zuschickte. Ernst wiederholte sein Versprechen und gab ihm neue Beweise davon.

Ernst blieb noch einige Monate bei seinem Vater und genoß nun ungestört seines Zutrauens und seiner Liebe. Oft sprach er von Hadem mit ihm, und der Vater überzeugte sich immer mehr, daß er seinen Sohn diesem ihn schützenden Geiste anvertrauen könnte.

Nun durchstrich Ernst die Gegenden, wo er seine Kindheit und die Jünglingsjahre so glücklich und unschuldig verlebt hatte. Den letzten Abend vor seiner Abreise besuchte er die Höhle, küßte den Kranz und sagte:

»Blühend, wie ich dich gepflückt habe, schwebest du über meinem Haupte! Und nie wirst du mir verdorren! Laß mich dich mit dem Gefühl wiedersehen, mit welchem ich dich verlasse, und ich bin glücklich!«[303]

Quelle:
Friedrich Maximilian Klinger: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin 1970, S. 264-304.
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