Friedrich Gottlieb Klopstock

Von dem Range der schönen Künste

und der schönen Wissenschaften

Der Geschmack war schon oft von den schönen Wissenschaften und von den schönen Künsten gebeten worden, ihren alten Streit, um den Vorzug, zu entscheiden. Allein er hatte dieser Entscheidung noch immer auszuweichen gewußt.

Einst wurde ein Gedicht und ein Gemälde an einem feierlichen Versammlungstage in den Tempel des Geschmacks gebracht, der Vorzugsstreit wurde diesmal heftiger, als er jemals gewesen war. Der Richter konnte die Entscheidung nicht mehr von sich ablehnen. Man sagt, daß die Hitze, mit welcher itzt alles vorging, daher entstanden sei, daß der Geschmack zu der Zeit, die er der Untersuchung des Gemäldes zu bestimmen schien, einige begierige Blicke in das Gedicht getan hätte. Er sahe sich endlich gezwungen, beiden Parteien zu erlauben, ihm ihre Ansprüche auf den Vorzug mit aller der Umständlichkeit vorzutragen, zu der sie die Wichtigkeit des Streits und der Entscheidung berechtigte.

Die Malerei, die Baukunst, die Kupferstecherkunst und die Musik trugens der Bildhauerkunst auf, die Verteidigung ihrer gemeinschaftlichen Vorrechte zu übernehmen.

Die Philosophie, nicht diejenige, die sich in den neuern Zeiten, von den schönen Wissenschaften getrennt hat, und in großen Bänden, die nicht gelesen werden, oft Sachen lehrt, die wenig wissenswürdig sind, und wenn sie wissenswürdigere vorträgt, sie auf eine Art sagt, die sich von jeder Kunst zu gefallen mit der äußersten Sorgfalt zu entfernen scheint: Diejenige Philosophie, deren Liebling Sokrates war, wurde von ihren Freundinnen, der Poesie, der Beredsamkeit und der Geschichte gebeten, ihre gemeinschaftliche Sache vorzutragen.

Die schönen Wissenschaften ließen es zu, daß sich die Bildhauerkunst hervordrang.

Unser Richter, fing diese an, wird uns verzeihen, daß wir der Ungewißheit erwähnen, in der er, nach der Anklage einiger,[981] manchmal sein soll. Wir tun es nur, um ihm zu sagen, daß wir gar keinen Teil an der Anklage nehmen, und daß wir aus dieser Ursache desto zuversichtlicher glauben, daß sein Ausspruch auf unsrer Seite sein werde. Die Gründe, die uns zu dieser Hoffnung berechtigen, sind diese. Wenn deine Lieblinge, die feinsten Kenner des Schönen, große Städte auf ihren Reisen besuchen, so sind wir es, die machen, daß sie sich lange darin verweilen. Unsre Werke suchen sie am eifrigsten auf; diese betrachten sie; zu diesen kommen sie am oftesten zurück. Wie tot wäre die größte, die volkreichste, ja selbst die gesellschaftlichste Stadt ohne uns! Sind es etwa die Besitzer jener prächtigen Paläste, welche machen, daß sich der reisende Kenner so lange darin aufhält? Wie selten sind es diese! Die Meisterhand der Baukunst, welche die Paläste aufgeführt, die majestätische Bildhauerkunst, die feurige Malerei, die sanfte Kupferstecherkunst, welche sie mit jeder Schönheit ausgeschmückt hatten, diese sind es, die das Auge des Kenners so lange und so angenehm beschäftigen. Er hört in einem von der Baukunst dazu eingerichteten Saale unsre Freundin, die Musik. Und nur dieser erlauben wir es, daß sie ihn aufhalten, und ihn nicht sogleich nach der Galerie oder in die Gärten, welche Venus und die Grazien reizender machen, zurückkehren lasse. Welch ein trauriger Anblick muß es für ihn sein, wenn er, aus unsern Palästen, in einen Buchladen, kömmt. Was sieht er da? Eine alte, bekannte verdrießliche Sache, Bücher! Bedrucktes Papier voll Zeilen, die immer auf die vorige Art wiederkommen, und welches er, ihm doch einige Zierde zu geben, in gefärbtes Leder einbinden lassen, und es irgendwo hinstellen kann, daß eine Art von Symmetrie herauskomme. Jeder kann diese Papiere kaufen, jeder, wenn ihm nichts Bessers einfällt, sie lesen. Es ist so was Gemeines, so was Wiederholtes, so was Wohlfeiles, ein Buch! Man würde die Bücher gar nicht mehr haben, gar nicht mehr ansehen mögen, wenn sie nicht die gütige Hand der Kupferstecherkunst bisweilen ausschmückte. Wie viel vorzüglicher sind unsre Werke! Es ist kein geringer Teil der Ehre einer Nation, uns zu unterstützen, uns mit jeder Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Die Baukunst macht das Leben durch die Bequemlichkeit und[982] durch die Pracht der Werke, die sie errichtet, angenehmer. Die Bildhauerkunst, die Malerei, die Kupferstecherkunst belohnen und verewigen das Verdienst. Wer würde sich der großen Männer, der Lieblinge des Vaterlandes, so oft erinnern, wenn er ihre unvergänglichen Bildnisse nicht auf den öffentlichen Plätzen, und in den Galerien sähe? Wie traurig würde das Leben derer ohne Musik sein, die sie kennen! Und wie wenige sind, die sie nicht, bis auf einen gewissen Grad, empfinden? Wir würden uns durch falsche Bescheidenheit schaden, wofern wir es nicht frei heraus sagten, daß wir uns nicht zu sehr zu schmeicheln glauben, wenn wir uns für schöner halten, als die Wissenschaften, denen man diesen Beinamen auch gegeben hat. Wir ahmen die Natur besser, als sie nach, weil wir, durch unsre Nachahmung unmittelbar auf die Sinne und durch ihre Hülfe zugleich auf die Einbildungskraft und aufs Herz wirken. Unsre Gegnerinnen arbeiten nur für die Einbildungskraft und fürs Herz. Außer dem, daß die Nachahmung, mit welcher wir der Natur folgen, reizender ist, so ist sie auch wahrer. Wir lassen uns in keine philosophische Untersuchung dieses wichtigen Vorzugs ein. Genug, daß er da ist. Und überhaupt haben wir uns nicht viel in Untersuchungen einzulassen, da die Welt ebenso von uns denkt, als wir von uns selbst denken. Belohnt sie uns nicht mit gleicher, und oft mit größrer Ehre, als die schönen Wissenschaften von ihr erhalten? Sie werden uns gewiß nicht vorwerfen, daß wir die Ehre weniger als sie suchen, oder daß wir nicht so fein darüber denken: Allein lebt man von der Ehre? Müssen sie nicht ganz andre Beschäftigungen als die, so sie am meisten lieben, übernehmen, um zu leben? Wir leben von unsern Werken; und oft machen sie uns sogar reich!

Unsre Gegnerinnen, fing die Philosophie an, haben ihre Ansprüche auf den Vorzug ein wenig lebhaft und mit einem Stolze vorgetragen, dessen eine gute Sache, vor einem Richter, wie der unsrige ist, noch niemals bedurft hat. Überhaupt werden sie gestehn, daß sie uns seit jeher weniger Gerechtigkeit, als wir ihnen, haben widerfahren lassen. Vielleicht sind das Genie und die Kenntnis, die zureichen, ihre Arbeiten hervorzubringen,[983] nicht von eben der Hoheit, und von kleinern Umfange, als das Genie und die Einsichten sind, die zu unsern Werken erfordert werden. Wenigstens können wir diesen Stolz, mit dem ihr euren Vorzug vor uns behauptet, aus keiner andern Ursache herleiten. Wir haben diese eingeschränkte Art zu denken so wenig, daß wir dasjenige, was ihr für eure Sache noch hättet anführen können, hinzutun wollen.

Der Eindruck, den die Religion auf jeden rechtschaffnen Mann macht, kann durch euch vergrößert werden.

Die Bildhauerkunst und die Malerei reizen die Andacht durch die Bilder, die sie aus der heiligen Geschichte nehmen und damit die vornehmsten Meisterstücke der Baukunst ausschmücken. Die Arbeiten der Kupferstecherkunst werden zwar zu dieser Absicht nicht gebraucht; allein dies benimmt ihrem Verdienste nichts, welches sie um die rührende Vorstellung der Begebenheiten der Religion haben kann. Und zu welchen Empfindungen würde die Seele von der Musik erhoben werden, wenn sie in den Kirchen die wahre Sprache des Herzens und der Andacht zu reden und vornehmlich hier ihre Stärke in ihrem ganzen Umfange zu zeigen veranlaßt würde!

Wenn wir dieser Unparteilichkeit ungeachtet, dennoch den Vorzug vor den schönen Künsten zu verdienen glauben; so ist die Neigung, ihn zu erhalten, zwar auch eine Ursache davon: Aber es wird bei unsrer Sache doch vorzüglich auf die Gründe ankommen, die wir für uns anzuführen haben.

Unsre Gegnerinnen glauben schöner, als wir zu sein. Wir verdanken es dem schnellen Urteile unsers Richters, daß wir über diesen Punkt unsers Streits kurz sein können. Dasjenige, so durch die Schönheit hervorgebracht wird, sind gewisse angenehme Vorstellungen und Empfindungen, die nach den Graden der Lebhaftigkeit, der Feinheit und der Stärke, die sie haben, die verschiednen Grade des Schönen bestimmen. Wenn wir teils erweisen, daß wir eben die Eindrücke, die ihr macht, sehr oft mit mehr Feinheit, mit mehr Lebhaftigkeit und nicht selten mit größrer Stärke zu machen wissen; teils euch daran erinnern, daß von dem, so schön vorgestellt werden kann, so vieles ist, das eure Sprachen auf keine Art auszudrücken fähig[984] sind: so werdet ihr uns zugestehn, daß wir nicht wenig Recht auf den Vorzug der Schönheit haben.

Diejenige unter euch, die nicht fürs Auge arbeitet, kann zwar vieles sagen, was die übrigen nicht sagen können; da sie aber wieder vieles von dem, was die übrigen vorstellen, nicht ausdrücken kann: so hebt sichs gegeneinander auf, und sie bleibt so eingeschränkt, als die übrigen.

Ihr arbeitet für die Einbildungskraft und fürs Herz; wir auch. Wir wirken unmittelbar auf dieselben; ihr durch die Hülfe der Sinne. Dieser Umstand, der euch so vorteilhaft schien ist euch, in einer gewissen Betrachtung, nachteilig. Die Seele bleibt hier zu sehr an den sinnlichen Vorstellungen hangen, als daß sie sich den Beschäftigungen der Phantasie und der Leidenschaft mit dem Feuer sollte überlassen können, mit dem sie es bei uns kann, da wir unmittelbar auf sie wirken.

Aber wenn auch dies nicht wäre; mit welchen neuen Umständen und Bestimmungen, mit welchem ganz andern Schwunge, wissen wir die Gegenstände der Einbildungskraft, die in eurer Sphäre liegen, vorzustellen! Könnt ihr uns durch irgendeine Art von Abbildung oder von Harmonie, auf allen den Stufen nachsteigen, auf denen wir uns erheben? Und, in Absicht aufs Herz, wer hat jemals, bei einer Statüe oder bei einem Gemälde, geweint? Die Musik allein nähert sich uns hier.

Jede Geschichte, die ihr vorstellt, ist, und muß die Geschichte eines Augenblicks sein. Welche Reihen von ähnlichen, und oft schönern Augenblicken verbindet die Äneis! Welche Menge von Meistern müßte es sein, die sie malen wollten! Wie lange müßten sie leben, um es zu tun! Und würde derjenige, der die Äneis nicht gelesen hätte, sie gesehn haben, wenn er durch diese unendlich lange Galerie gegangen wäre? Wie viel Neues, wie viel von euren Meistern Ungesagtes, würde er finden, wenn er nun den Virgil läse?

Wenn wir überdies behaupten, daß es euren größten Meistern unmöglich ist, dasjenige, was dem Verstande schön ist, in irgendeiner eurer Sprachen zu sagen; so werdet ihr uns zwar antworten, daß es euer Geschäft nicht sei, die Wahrheit auszudrücken: Aber hört der reizende Ausdruck der Wahrheit[985] dadurch auf, ein Verdienst zu sein, weil es über eure Sphäre ist, sie vorzustellen? Könnt ihr, weil ihr, weder durch Abbildungen, noch durch Töne, wie unser Young zu denken vermögt, deswegen leugnen, daß das, was er gedacht hat, nicht von der Nachwelt gedacht zu werden verdiene?

Aber wir eilen zu dem wichtigsten von dem, was wir für uns zu sagen haben. Unsre Verdienste um die Ausbreitung der Tugend sind viel größer, als ihr auch denn, wenn ihr es mehr wolltet, hier jemals haben werdet. Wir sind viel nützlicher, als ihr. Die Menschen moralischer zu machen, ist und soll so sehr unsre Hauptabsicht sein, daß wir unsrer Neigung, zu gefallen, nur insofern folgen dürfen, als sie uns zu diesem letzten Endzwecke führt. Wir erniedrigen uns und wir sind nicht mehr schön, wenn uns die moralische Schönheit fehlt. Die große Nation, die ehmals so viel von der Welt besaß, ist auch durch den Namen merkwürdig, den sie uns gab. Sie nannte uns die Wissenschaften der Menschlichkeit. Die Wahrheit dieser Benennung wird durch die Erfahrung ganzer Jahrhunderte bestätigt.

Eine Nation, die durch den Ackerbau, durch die Handlung, durch gute Gesetze, und durch diejenigen Wissenschaften groß ist, die man sich angewöhnt hat, die höhern zu nennen, (die Theologie allein sollte so genannt werden) ist eine glückliche Nation! Aber ist sie glückselig? Sie ist es nicht eher, als bis sie auch tugendhaft ist! Und wodurch wird sie dieses! Etwa durch den Reichtum? Durch Gesetze, die weiter nichts, als den Schein der Tugend gebieten, und auch nichts mehr gebieten können? Durch die höhern Wissenschaften? Wodurch also? Durch die Religion, und durch die moralischen Wahrheiten, welche die Religion dem menschlichen Verstande zu finden übriggelassen hat. Aber auf welche Art durch diese? Derjenige müßte ein merkwürdiger Fremdling in der Kenntnis des Menschen sein, der behaupten wollte, es sei überflüssig, die philosophische, und die erhabnere Tugend der Religion dem Menschen liebenswürdig vorzustellen. Es ist dies so wenig überflüssig, daß es notwendig ist.

Die Religion selbst, insofern die heiligen Schriften, in welchen[986] sie enthalten ist, als menschliche Werke anzusehen sind, ich meine, insofern sie sich zu der Denkart der Menschen herunterlassen, um dieselben zu unterrichten, und zu rühren, die Religion ist durch Muster der Poesie und der Beredsamkeit offenbart worden, die sich der tiefsinnigste Kenner nicht reizender, stärker, und erhabner denken kann. Und es ist keine geringe Ehre für uns, daß die Sprache, welche in der Offenbarung geredet wird, unsre Sprache ist. Unsre Lieblinge haben alsdenn die wahrste Hoheit und die vielseitigste Nützlichkeit erreicht, wenn sie diesen großen Mustern auch nur von fern nachgefolgt sind. Die Religion hat das wichtigste von dem, was zur Ausübung der Pflicht gehört, teils wiederholt, teils offenbart. Sie hat der Untersuchung der Menschen fast nichts, als einige Entwicklungen ihrer erhabnen Lehren, übriggelassen. Auch dies gehört uns zu, es den Menschen auf eine Art zu zeigen, welche sie reizen kann, es nicht nur zu denken, sondern auch zu tun. Die Menschen also zur Ausübung ihrer Pflichten, das ist, zu demjenigen, warum sie leben, und in andern Welten leben werden, anzufeuern, und ihren Verstand, noch mehr, ihr Herz zu der Erreichung dieses letzten und höchsten Zwecks, zu erheben, dieser ist derjenige von unsern Vorzügen, worauf wir am meisten stolz sind, und ohne welchen uns der Vorzug unserer Schönheit, und jeder Anspruch auf Schönheit überhaupt klein vorkommen würde. Wir leugnen gar nicht, daß die schönen Künste nicht auch einige Reize über die Tugend ausstreuen können. Sie wissen, wie wir gegen sie gesinnt sind, und wir haben es ihnen im Anfange unsrer Verteidigung nicht verborgen. Aber wir sagen es ebenso frei heraus, daß ihre Verdienste um die Ausbreitung der Tugend nur gering sind. Es scheint, auf der einen Seite, ihrer Natur gemäß zu sein, daß sie sich mehr bemühen, schön, als, durch Schönheit, zugleich nützlich zu sein: Auf der andern Seite, ist das, was sie auszudrücken fähig sind, von so engem Umfange, und so wenig zureichend, jene Reihen mannigfaltiger Gedanken und Empfindungen hervorzubringen, die notwendig sind, wenn die Menschen für die Tugend eingenommen werden sollen, daß die Einflüsse, die sie auf die Erreichung dieser wichtigsten aller Absichten haben,[987] nicht anders als nur schwach sein können. Wir wollen eine Nation annehmen, die auf die angeführte Art glücklich ist. Wird sie, wenn wir ihr über das, so sie schon besitzt, noch die schönen Künste geben, glückselig werden? Es ist wahr, die Musik, wenn sie ausgebreitet genug ist, wird einige rauhe Seelen etwas weniger rauh sein lehren. Die Bildhauerkunst und ihre Schwestern werden den Geschmack am Vergnügen dadurch feiner machen, daß sie ihn auf schönere Gegenstände richten; eine Eigenschaft, die wir überdies mit ihnen in denjenigen von unsern Werken gemein haben, in welchen die Neigung, nur zu gefallen, den viel erhabnern Endzweck, durch die Kunst zu gefallen, für die Tugend einzunehmen, verdrungen hat. Dieser feinere Geschmack am Vergnügen ist eine Art von Vorbereitung, die Eindrücke, die ein gutes Herz bilden, leichter anzunehmen; aber er ist auch weiter nichts, als eine Vorbereitung. Man gebe ihn einer Nation in seinem weitesten Umfange; und sie wird doch dadurch nur sehr wenig zur Tugend gereizt werden.

Aber man lasse sie unsre auserlesensten Werke besitzen; was fehlt ihr denn noch an Reizungen zur Tugend?

Man wird uns vielleicht einwenden, daß wir das Beispiel, welches große Männer geben, und die mächtigen Wirkungen desselben vergessen. Wie könnten wir unsern Stolz, unsre vorzüglichste Ehre vergessen? Haben wir nicht fast immer zur Bildung dieser großen Männer etwas beigetragen? Und wer erneut, wie wir, ihr Beispiel für die künftigen Jahrhunderte? Unsre Gegnerinnen haben dies letzte Verdienst zwar auch: Aber haben sie es in dem Grade, als wir? Durch wen kennt die Nachwelt den Sokrates am besten, durch sie, oder durch uns?

Selbst den großen Männern, deren Beispiele von so ausgebreitetem moralischen Nutzen sind, fehlt etwas, wenn wir ihnen fehlen. Sie hören zwar dadurch nicht auf, tugendhaft zu sein; aber ihnen fehlt doch eine Reizung mehr, es zu bleiben.

Allein man nehme uns einmal einer ganzen Nation. Die Sprache, ihr linker Arm, sei, weil wir von ihr nicht geschätzt werden, ungelenkig, mager, nervenlos! Sie sei weder zur Prosa noch zu der vortrefflichern Poesie fähig. Diese schweige, und[988] schmücke die moralische Schönheit mit keinem neuen Reize; oder, wenn sie redet, so schläfre sie ein. Jede nützliche und wichtige Sache, die in guter Prosa glücklich gesagt werden kann, bleibe unbekannt; oder werde auf eine Art gesagt, daß man sie lieber nicht wissen mag. Die Geschichte, diese so notwendige Oberrichterin, erzähle keine große Begebenheiten, die Wege der Vorsehung, und oft die Vorschriften der Nachwelt; oder verunstalte sich durch den Vortrag. Mich (denn heut darf ich von mir selbst reden) sollen Schulmethode, Armseligkeit am guten Ausdrucke, und jene überflüssigen Untersuchungen verstellen, die nichts weniger, als die Kenntnis der Menschen und ihre Verbessrung, angehen. Ich sei nicht mehr die Führerin und die Freundin des gesunden Verstandes, sondern eine Grüblerin, welche die von ihr erhitzte Einbildungskraft vergebens zu fesseln sucht. Diejenigen, so sich durch Unterredungen oder durch Briefe unterhalten, sein von allem, was der falsche Witz Plumpes oder Spielendes hat, so eingenommen, daß sie dadurch auch ihren Geschmack am moralischen Schönen verlieren. Die Erklärung der Offenbarung, die vorzüglich auf unsre Kenntnis gestützt werden sollte, weil die heiligen Bücher zugleich Muster der Poesie und der Beredsamkeit sind, arte in theologische Spitzfündigkeiten aus. Die Beredsamkeit des Predigers sei gemein, schwach, witzelnd, ohne Gedanken, ohne Empfindungen, kurz, derjenigen erhabnen Religion ganz unwürdig, durch deren Hülfe sie unterrichten und rühren soll. Die Lieder, die ganze Versammlungen zur Andacht entflammen sollten, sein, wenn es möglich ist, noch platter, und der entzückenden Religion noch unwürdiger. Es stehen keine rechtschaffnen Männer auf, die in andern Gedichten, aus jener reichen Quelle der Offenbarung schöpfen, und die Seele auf diese Art an ihren ganzen Wert, und an ihre Unsterblichkeit erinnern.

Wird einer solchen Nation nicht sehr vieles zu ihrer Glückseligkeit fehlen?

Und gleichwohl fehlt ihr nichts, als einige wenige Bücher. Unsre Gegnerinnen sahen in ihrer Verteidigung die Bücher in einem sonderbaren Gesichtspunkte an. Und gleichwohl können diese Bücher die Seele mit mehr und schönern Bildern anfüllen,[989] und das Herz zu lebhaftern und feinern Empfindungen fortreißen, als ihr jemals hervorzubringen fähig seid. Aber vielleicht mißfällt euch an den Büchern am meisten, daß sie länger, als eure Werke, dauern. Es ist mindstens eurer Aufmerksamkeit nicht ganz unwürdig, daß von der griechischen Nation, die so sehr aufgehört hat, eine Nation zu sein, daß die itzige ihren Namen nicht mehr führen sollte, fast nichts Wichtiges, als Bücher übrig geblieben ist. Ohne diese würden wir kaum wissen, daß sie da gewesen wäre. Die Werke, die ihr unter dieser Nation hervorgebracht hattet, sind mit ihr vergangen; und nur selten entdecken wir einige Ruinen davon. Unser Horaz sagt, und ihr werdet gestehen, daß er wahr geredet habe, er sagt von seinen Werken: »Ich habe ein Denkmal vollendet, das daurender, als Erz, und erhabner, als die königliche Pracht der Pyramiden ist; das weder verzehrende Regen, noch wütende Winde, nicht die Reihen unzählbarer Jahre, nicht die Flucht der Zeit, zerstören werden.« Wenn nun auch unsre Lieblinge von Werken, die vornehmlich durch moralische und denn auch durch andre Schönheiten diese Unsterblichkeit verdienen, wenn sie, wie es wahr ist, von diesen Werken, nicht leben können; sind sie deswegen weniger schätzbar? Wenn wir unsern Young selbst eurem Raphael, mit Recht vorziehn, weil der erste der menschlichen Gesellschaft mehr genützt hat, als der letzte; verdient der vortrefflichere diesen Vorzug deswegen weniger, weil gewisse Nebenumstände da sind, die den andern durch seine Arbeiten reich gemacht haben? Denn so lächerlich es sein würde, sich wider die Neigung, Geld zu gewinnen, überhaupt zu erklären; so klein und erniedrigend würde man von euch und uns denken wenn man unsern Wert mit diesem Maße messen wollte.

Als die Philosophie ihre und ihrer Freundinnen Sache auf diese Art verteidigt hatte, so erwarteten beide Teile den Ausspruch ihres Richters mit einer Unruhe, die Virgil unnachahmbar und unübersetzlich beschrieben hat, wenn er sagt:


trepidantia haurit

Corda pavor pulsans laudumqu' arrecta cupido.


Es schien, als wenn der Geschmack über die Art, auf welche er sein Urteil sprechen wollte, nachsänne. Dies kam nicht daher,[990] daß er ungewiß war, welcher Partei er den Vorzug derjenigen Schönheit geben sollte, die, so reizend sie auch an sich selbst ist, doch nichts anders, als die Aufwärterin der viel erhabnern moralischen Schönheit sein soll; da, auf der andern Seite diese Urheberin der wahrsten menschlichen Glückseligkeit nichts Geringers als eine Grazie zur Aufwärterin haben kann: ich sage, der Geschmack war, wegen der Entscheidung über jenen ersten Vorzug, nicht ungewiß. Die schönen Wissenschaften haben sogar behauptet, daß er ihre Gegnerinnen mit einem gewissen zärtlichen Mitleid angesehn habe. Sein noch daurendes Stillschweigen entstund am meisten von dem Zweifel, in welchem er war: Ob er sich auch, das mit zu berühren, einlassen wollte: daß diejenige Partei vorzüglichere Unterstützungen des gemeinen Wesens verdiene, die, durch größre moralische Schönheit nützlicher, als die andre sei? Doch sein Zweifel währte nicht lange. Er sahe bald, daß er diese Entscheidung der Politik zu überlassen habe. Er wollte eben anfangen zu reden, als er durch einen Zufall unterbrochen wurde.

Die Tanzkunst, die bisher nicht zugegen gewesen war, erschien auf einmal mit ihrer gewöhnlichen Lebhaftigkeit. Sie erfuhr bald, was vorgegangen war, und worauf man wartete. Die schönen Wissenschaften konnten eine gewisse Freude über die Ankunft der Tanzkunst nicht verbergen. Ihre Gegnerinnen waren auch ein wenig mißvergnügt darüber. Denn ob sie gleich nicht recht einsahen: Was ein moralischer Vorzug eben zu bedeuten haben sollte; so hatte sie doch die Zärtlichkeit, mit der sie der Geschmack angesehen hatte, so furchtsam gemacht, daß sie nicht ganz ohne Ahndung waren, daß jener Vorzug doch vielleicht von einigem Gewichte sein könnte. Der Tanzkunst kam es sonderbar vor, daß man einer Schönheit, die sie kaum dafür erkennen wollte, nur hätte erwähnen können! Und überhaupt war sie so mißvergnügt darüber, daß sie nicht wäre gerufen worden; bezog sich so lebhaft darauf, wie sie für sich und ihre Freundinnen geredet haben würde; und drang so sehr auf eine neue Versammlung, in welcher sie die gemeinschaftliche Sache führen wollte, daß sich der Richter entschloß, die Parteien ohne sein Endurteil von sich zu lassen.[991]

Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. München 1962, S. 981-992.
Erstdruck in: Der Nordische Aufseher (Kopenhagen), 1. Bd., 43. Stück, 1758.
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