Siebenzehnter Brief.

An den Freyherrn von Leidthal, in Urfstädt.

[208] Göttingen den 16ten Januar 1770.


Mein bester Vater!


Verzeyhen Sie, daß ich Ihnen so spät schriftlich meine Ehrerbiethung bezeuge. Wenige Tage nach unserer Zurückkunft von der angenehmsten Reise meines Lebens kam der Herr von Weckel bey uns an, und erst vor drey Tagen ist er weiter nach Hanau gereiset. Seine Gegenwart aber hat mich am Schreiben verhindert, besonders da ich gern zugleich ein kleines Tagebuch meiner Reise, wie Sie es befohlen haben, beyfügen wollte, zu dessen Entwerfung ich nicht eher Muße gefunden habe.[208]

Wir wurden, als wir den 31ten voriges Monaths auf Hundefelds Gut ankamen, von den alten Eltern und der Schwester meines Freundes, die ein gar sanftes, liebenswürdiges Frauenzimmer ist, sehr freundlich empfangen. Sie ist die Güte selbst, und verbindet mit so viel äussern Annehmlichkeiten das beste, gefühlvollste Herz, und so viel Talent – Kurz! ich erinnere mich nicht, je ein Frauenzimmer gesehen zu haben, welche geschwinder meine Hochachtung gewonnen hätte. Dem Vater bin ich um seiner Kinder willen gut; er mag auch ein ganz redlicher Mann seyn, aber er ist äusserst langweilig. In seiner Jugend hat er als Capitain bey den Hessen gedient, ist in Schottland gegen den unglücklichen Prinzen Stuart, und in den brabantischen Kriegen mitgewesen, hat aber nachher seinen Abschied genommen, und da er seit der Zeit nichts Neues um sich her gesehen hat, als ein Paar Amtmänner, den Pfarrer des Dorfs, und andre noch rohere Landjunker, er auch nie etwas anders als[209] eine Chronik und die Bibel gelesen hat; so ist es nun so leer in seinem Kopfe, daß er nur alte Histörchen aus seinen Jugend-Jahren zu erzählen weiß. Diese wiederholt er beständig, ohne es zu merken, biethet sie jedem Fremden, fängt, wenn er fertig ist, von forn wieder an, schimpft zuweilen auf die Landesregierung, und lobt die vergangenen Zeiten. Die Mutter ist eine kleine, hagere, gute, redliche Landfrau, die sich selbst der Haushaltung fleissig annimt, jeden Morgen und Abend in geistlichen Büchern die Seite liest, bey welcher sie gestern stehengeblieben ist, und sich übrigens wenig um die Welt und deren Lüste bekümmert. Beyde alten Leute sind sehr gastfrey, geben gern den Armen, und wenn sie Besuch von Freunden haben, weinen sie jedesmal, bey der Ankunft und Abreise. Immer dünkt es mich indessen ein Wunder, wie meines Freundes Schwester sich so ganz selbst an diesem Orte hat bilden können, denn sie ist würklich ein sehr feines Frauenzimmer.[210]

Wir speiseten den Abend im Garten. Den folgenden Tag, als den ersten des Jahrs, giengen wir früh in die Kirche, nachdem wir um Mitternacht von den Bier-Fidlern des Dorfs durch die jämmerlichste Musik, von welcher man hätte die Strangurie bekommen mögen, waren aufgeweckt worden. Doch, das muß ich sagen, daß ich alles Mittelmässige hasse, und wenn ich keine gute Musik hören kann; so spiele man mir lieber nur recht elend, damit von keiner Vergleichung die Rede seyn könne. Meine schwachen Nerven leiden nicht so gewaltig bey solchen Dorf-Musicanten, als wenn vier Dilettanti nach ihrer Art mir ein herrliches Quadro verhudeln.

Der Prediger des Orts ist ein wohlgemästeter Diener der Kirche, der bey einer Flasche guten Weins die zehn Gebothe alle und die Haustafel gern aus dem Gedächtnisse verliehrt. Er spricht mit Entzücken von den lateinischen Autoribus, unter denen er den Terentium vorzüglich auszeichnet, in[211] welchem ihm unter andern die muntern Scherzreden des Davus sehr gefallen. Nachdem er uns mit einer langen, sehr extemporirten Neujahrs-Predigt Langeweile gemacht hatte, wiederholte er, bey einem Mittags-Besuche, seine treugemeinten Wünsche für die beständige Prosperität des hochadelichen Hauses, und blieb zum Essen, wobey er nicht faul war, auch oft mit zwey Fingern das Weinglas in die Höhe hob, indem er ausrief: »Ey! Ihro Gnaden, Herr Hauptmann! das ist ein deliciöser Wein! Das ist ein rechtes Vinum für meine stomachalischen Umstände!«

Es kamen auch den Tag noch andre Besuche. Der Amtmann, welcher sehr durch die Nase redete, steckte voll geheimer Nachrichten, die Regierung betreffend, die ihm sein Freund, der Cammersecretair, im Vertrauen geschrieben hatte. Die Frau Amtmannin war ein kleiner Knirps vom Weibe mit hellen schwarzen Augen, behangen mit[212] einer Menge altmodig gefaßter Granaten und anderer falschen Steine. Die Frau Pfarrern hatte einen langen zimtfarbenen seidenen Schlafrock mit großen bunten Blumen an, und verneigte sich bey jedem Worte nach der linken Seite hin, nahm auch nichts von Speise und Trank zu sich, ohne gewaltig dazu genöthigt zu werden. Es kam auch der Chirurgus aus der benachbarten Stadt, mit einer blauen manschesternen Weste, woran nur ein Knopf zugeknöpft war, Wickel-Strümpfen und grauem Rocke. Er roch gräßlich nach Pflaster, und schimpfte unaufhörlich auf den Doctor Frischmuth, der nicht leiden wolle, daß er practisiere. Wie viel mag nicht das arme Fräulein von Hundefeld leiden, wenn sie mit diesen Menschen täglich umgehen muß! Mir machten diese Carricaturen unterdessen einige lustige Augenblicke.

Den 2ten Januar besuchten wir, eine Meile von da, einen Amtshauptmann, der, weil er im Kriege als Geissel mit nach Straßburg[213] war geschleppt worden, nichts als französisch sprechen zu müssen glaubte. Sein Gastmal war auch ganz ausländisch eingerichtet, und nach Tische wurde Likeur hergegeben, der aber freylich nur aus einem guten doppelten Kümmel bestand.

Den 3ten brachten wir auch auswärts zu; die alten Leute blieben zu Hause; nur die Geschwister Hundefeld, Herr Meyer und ich machten uns auf den Weg. Wir speiseten bey einem Forstmeister, der eine vortrefliche Frau hat, die einzige beste Freundinn des Fräuleins von Hundefeld. Er selbst verdient nicht, eine so gute kluge Frau zu besitzen, denn er ist nur ein mächtiger Jäger vor dem Herrn, und sonst nichts. So einen mittelmäßigen Kopf er aber auch hat; so hält er sich doch für einen sehr feinen Mann, der sogar den ganzen Hof zu übersehen glaubt, weil er einst Jagt-Page gewesen ist. Er ist geizig, mistrauisch, pflegmatisch, und hat nicht die geringste Gefälligkeit für sein armes[214] Weib, verzieht seine Kinder, vereitelt alle Mühe seiner Gattinn, diese jungen Geschöpfe zu bessern Menschen zu bilden, und weil er selbst weder Gefühl noch Cultur hat; so leidet er nicht gern, daß seine Frau ihrem Herzen folgt, und ihren Verstand durch Lectur nährt.

Die folgenden Tage blieben wir zu Hause, bekamen zuweilen Besuche aus der Nachbarschaft, giengen des Abends, bey freundlichem Mondenscheine, in Pelze gehüllt, in dem kunstlosen Garten auf und ab, und fuhren den 7ten zu einem Landjunker an der Grenze des Eichsfeldes. Der Mann ist ein Verwandter meines Freundes, aber ein höchst unerträglicher Mensch, der von nichts als Jagt und Haushaltung redet, bis in sein dreyssigstes Jahr als Fähndrich in Hannöverischen Diensten gestanden, sich dann der edlen Langeweile gänzlich gewidmet, und sich auf sein Gut hingepflanzt hat, wo er nichts mehr würkt, als was jeder Bauer besser würken kann.[215]

Ich schätze gewiß den Stand eines redlichen, fleissigen, wohlthätigen Landmanns sehr hoch. Er ist vielleicht der zweckmäßigste und glücklichste auf der Welt, vielleicht auch derjenige, der die feinsten Kenntnisse erfordert. Aber man muß, was man ist, ganz seyn, und ein Mann, dem das Schicksal einen höheren Stand, mehr Vermögen und mehr Gelegenheit gegeben hat, sich aufzuklären, soll sich nicht darauf einschränken, mechanisch, wie ein Taglöhner, sein Feld zu bauen, sein Land zu düngen, ohne zu wissen, woher es kömmt, daß der Mist düngt, nicht immer nach großväterlichem Brauch so fortarbeiten, noch den Mond angaffen, ohne zu überlegen was für ein Ding das etwa seyn mögte – Nein! ein solches Geschöpf ist mir zum Eckel –

Der Mann, von dem ich rede, hat aber eine stille, wackre Frau. Sie hatte, scheint es, nichts im Vermögen, und mußte sich desfalls entschliessen, mit diesem Halbbauer ihr Leben hinzubringen.[216]

Man erzählte uns hier eine traurige Geschichte von einem gefangenen Mönch auf dem Eichsfelde, die ich seit dieser Zeit nicht aus dem Gedächtnisse habe drängen können. Herr Meyer wird Ihnen, bester Vater! mehr davon sagen,1 denn ich eile zum Schlusse, weil ich itzt sehr beschäftigt bin, das Versäumte in meinen Collegien nachzuholen.

Wir reiseten den 10ten wieder ab, und, ich darf es bekennen, nicht ohne Wehmuth von meiner Seite. Ich muß sagen, daß ich die Abend- und Morgenstunden, wenn wir allein mit meinem Freunde und seiner Schwester waren, so angenehm hingebracht habe, daß ich mich nie erinnere so innigst heiter, und wenn ich auch zuweilen durch Musik (denn wir spielten täglich ein wenig, und das Fräulein singt allerliebst) oder durch Erzählung irgend einer rührenden Scene der Armuth oder andres Leidens traurig geworden[217] war, daß mir doch je in meinem Leben mehr wohl, oder daß ich je gefühlvoller und besser gewesen wäre.

Da Sie mir erlaubt und selbst befohlen haben, Ihnen offenherzig den Zustand meines Herzens zu entdecken; so werden Sie mir diese kleine Ausschweifung leicht verzeyhen. Es ist doch wahrhaftig eine selige Wonne, mit Menschen von sympathetischem Gefühle zu leben, mit denen man die Freuden eines weichen Herzens theilen darf und kann.

Ich küsse Ihnen, bester, würdigster Pflegevater! tausendmal mit kindlicher Ehrerbiethung die Hände, als


Ihr

unterthänig gehorsamer

Carl von Hohenau.

Fußnoten

1 Man sehe den zwey und zwanzigsten Brief.


Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 1, Riga 1781–1783, S. 219.
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