Eilfter Brief.

[123] An den Freyherrn von Leidthal in Urfstädt.

Wetzlar den 4ten Junius 1770.


Nicht leicht, mein gnädiger Herr! kann jemand auf einer so kurzen Reise so sonderbare Begebenheiten erleben, als mir auf der meinigen hierher begegnet sind – Ich habe zwey, von meinen Kindern gesprochen, und auf eine so unerwartete Art wiedergefunden, daß ich nicht recht wußte, ob mein väterliches Herz sich mehr über diese Zusammenkunft freuen, oder über den Zustand dieser Flüchtlinge betrüben sollte.

Sie wissen den Schritt, den meine arme Sophie gethan hat. Sie war mit ihrem Geliebten heimlich fortgegangen, seine Frau geworden, und seit der Zeit hatte das Schicksal an diesen jungen Leuten den Kummer, den[123] sie ihren Eltern durch ihre Flucht machten, durch so manche Wiederwärtigkeit gerächt, daß die genaue Erzählung davon meinen Zorn gänzlich in Mitleiden verwandeln mußte. Von einem Orte zum andern ziehend, und nirgends Ruhe findend, hatten sie sich endlich entschlossen, in Frankfurt bessres Glück aufzusuchen.

Mein Sohn Ludwig war in genaue Bekanntschaft mit Schauspielern gerathen, die ihm einen solchen Enthusiasmus für ihre Kunst eingeflößt hatten, daß er sich (bey der Ueberzeugung, daß seine Armuth ihm in jeder andern Lebensart die Hofnung zu guten Aussichten versperren würde) entschloß, seine Talente, die in der That nicht gering sind, der Bühne zu widmen. Er wollte indessen doch nicht gern in seiner Vaterstadt (des Vorurtheils wegen, das nun einmal gegen diesen Stand herrscht) auf dem Theater erscheinen. Deswegen reisete er aus Holland über Cöln und Frankfurt, um nach Sachsen[124] zu gehen, wo einem Künstler Achtung und Versorgung gewidmet werden, und wollte daselbst eine Stelle bey einem deutschen Theater suchen.

Auf dieser Reise traf er Abends spät mit der Post in Gelnhausen ein, als eben die arme Sophie mit ihrem Manne, da sie von Fulda gekommen waren, im Posthause in der Thür standen – Die Magd kam mit der Lampe heraus, um den Fremden zu leuchten – Der Wagenmeister setzte das Leiterchen an, und Ludwig stieg unter den Reisenden zuletzt herab – Sophie hatte nur unaufmerksame Blicke auf die Ankömmlinge geworfen, als plötzlich der Eindruck einer ihrem liebsten Bruder ähnlichen Physionomie, ihr ganzes Blut nach dem Herzen jagte –

Nur der, dem die Natur so viel menschenfreundliches Gefühl, als Ihnen, mein theuerster Herr! gegeben hat, kann sich eine Vorstellung von den Empfindungen machen,[125] welche die drey jungen Leute durchströhmten, als sie sich nun erkannten, umarmten, und die Erzählungen ihrer Schicksale gegen einander auswechselten.

Es war nicht mehr die Rede davon, sich zu trennen, sondern man machte neue Plane. Endlich vermogte Ludwigs Beredsamkeit meine Tochter und ihren Mann, alle Bedenklichkeiten aufzugeben, und auch den Entschluß zu fassen, auf dem Theater ihr Glück zu versuchen. So wurden diese drey romanhaften Köpfe auf einmal von Einem Avanturiergeist belebt, vergaßen alle vernünftigen Bedenklichteiten, vergaßen Kummer, Sorge für die späte Zukunft, vergaßen Eltern, Vaterland – Kurz! vergaßen alles, und fuhren nach einer fröhligen Mahlzeit und durchplauderten Nacht, auch nach Ueberrechnung ihrer Baarschaften, die sie itzt mehr als hinreichend fanden, zusammen der sächsischen Grenze zu.[126]

Ich kam den 29sten vorigen Monats nach Eisenach, hatte ein kleines Mittagsmahl für mich bestellt, wollte nach Tische weiter reisen, und gieng unterdessen auf dem großen hübschen Platze, vor dem Schlosse und der Hauptkirche auf und ab, als ich vor mir hin, ein Frauenzimmer mit zwey Jünglingen, unter fröhligen Gesprächen, spatzieren sah – Die Stimmen kamen mir bekannt vor, und ich blieb auch nicht lange im Zweifel; Denn kaum hatten sie mich in die Augen gefaßt, als die drey Romanhelden anfiengen da auf der Straße eine Scene und ein Theatergemälde anzulegen, welches lustiger itzt aussieht, da ich es erzähle, als damals, da mein Vaterherz auf diese Art bestürmt wurde –

Meine Rolle war auch bald entschieden; ich machte aus vollem Herzen den zärtlichen Vater. Was war anders übrig? und was ist denn am Ende mehr dabey, dachte ich, habe ich sie doch wieder! Gott wird schon[127] weiter sorgen – Ja! ich gestehe es, in diesem Gemüthszustande war ich so zufrieden von allem, daß ich beynahe als der vierte Narr mit ihnen gereist wäre – Und wer mich hier tadelt, mich zu leichtsinnig findet, der ist nie in einer solchen Lage gewesen, der weiß nicht, wie eigene Schicksale und erprobte Veränderlichkeit des eigensinnigen Glücks den Menschen tolerant machen können –

Ludwig mag denn Schauspieler werden! Er versuche es, ob dieser Stand in der Nähe so viel Freuden gewährt, als er in der Ferne verspricht, und glückt es nicht; so ist noch immer Zeit weiter zu sorgen. Er ist flüchtig, aber seine Sitten sind gut, und sein Herz edel – Am Ende muß man aus der Noth eine Tugend machen; Ich weiß ihm nicht zu helfen. Allein meine Tochter und mein Schwiegersohn sollen diese Lebensart nicht ergreifen. Der Graf von Haxstädt, mein großmüthiger Freund, bemüht sich kräftigst den alten von der Hörde zu versöhnen, und[128] sein letzter Brief gab mir Hofnung zu glücklichem Erfolge. Ach! wenn das der Himmel wollte – Und ich darf mit Zuversicht hoffen, daß es gelingen wird, sobald der Vater nur erfährt, daß man seinen Sohn wiedergefunden hat. Unterdessen habe ich ihnen ein paar Zimmerchen in Eisenach gemiethet, wo sie vorerst bleiben können. Sie hatten noch Geld, und Ihre Großmuth, mein gnädiger Herr! setzte mich in den Stand etwas hinzuzufügen.

Diese mir so wichtigen Geschäfte haben meine Reise um anderthalb Tage verzögert, so daß ich erst eben ankomme, wegen welcher Versäumniß ich unterthänig um Verzeyhung bitten muß, weil ich dadurch abgehalten worden bin, bis itzt in Ihren Geschäften thätig zu seyn. Von morgen an bin ich ganz Ihren Aufträgen gewidmet; Der ich ehrerbiethigst verharre,


Meines besten Herrn

treuer Diener

Müller.[129]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 123-130.
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