Sechzehnter Brief.

An den Herrn Meyer in Göttingen.

[157] Urfstädt den 1sten August 1770.


Die Nachricht, welche Sie mir, mein lieber redlicher Freund! von unsers Carls Gemüthszustande geben, beunruhigt mich nicht wenig. Ich überlasse alles Ihrer Klugheit; denn was ich Ihnen rathen soll, weiß ich wahrlich nicht.

Das unergründliche Herz des Menschen, unaufhörlich von unzähligen zarten Fäden der Leidenschaften in Bewegung gesetzt; ist ein Geheimniß jedem, der dies künstliche Gewebe nicht auseinander zu legen versteht – Und wer kann das? Wer anders, als derjenige, welcher, als er den Menschen schuf, in sein Wesen die unendliche Verschiedenheit von feinen Trieben legte, die ihn zum Guten[157] und Bösen leiten, seinen Willen bestimmen, und ihn bald zur Freude emporheben, bald tief in Jammer versinken?

Der große Baumeister dieses herrlichen Werks gab uns freylich die Mittel in die Hände, uns und Andre glücklich zu machen. Er gab uns einen freyen Willen, der darinn besteht, daß wir solche Eindrücke entfernen können, die durch öftere Wiederholung den Trieb zu reitzbar machen, der zum Verderben führt. Doch dazu gehört strenge Selbst-Erforschung, und erst darnach können wir Regeln für Andre abziehn.

Allein wie schwankend ist nicht diese Kunst? Zerstört nicht, was bey Ihnen die vortreflichsten Würkungen hervorbringt, durch einen sonderbaren Zusammensfluß anderer Umstände, den innern Frieden eines anders organisierten Mannes? Der Mensch, in seinem jetzigen tief gesunkenen Stande der Blindheit, dringt nicht so weit in das Wesen[158] der Dinge, um hier klar zu sehn, und das ist die Ursache, warum so wenig allgemeine Regeln bey der Erziehung, Bildung und Leitung des Menschen zu geben sind. Aber der Schöpfer aller Creaturen, der Herzen und Nieren prüft, beurtheilt uns nach der Reinigkeit unsrer Absichten, fordert nur von dem viel, dem viel gegeben worden ist, und leitet doch alles zum Guten.

Darauf, mein Lieber! müssen wir fest bauen, und so wollen wir ruhig zusammen überlegen, was itzt mit unserm Pflegesohne zu machen ist. Reisen Sie immer, sobald es möglich ist, auf das Eichsfeld! In beyliegendem Paquete1 finden Sie alle nöthigen Documente, zum Beweise des Standes unsers Eingekerkerten. Nehmen Sie seinen Sohn mit dahin! Finden Sie den unglücklichen Vater nicht so krank, als wir Ursache haben es zu fürchten; so verschieben Sie die Entdeckung bis zu einem ruhigern Augenblicke.[159]

Ich bitte Sie alsdenn, meinen alten Freund, sobald er befreyet, und im Stande zu reisen seyn wird, durch Ihren neuen Bedienten hierher begleiten zu lassen. Sie mögen nebst unserm Carl auch bald nach Urfstädt kommen, und wir wollen dann sehen, wie wir hier denselben wieder zurechtbringen. Sollte aber mein leidender Freund seiner Auflösung nahe seyn; so dürfen wir dem Sohne die Wonne nicht rauben, seinen armen Vater noch vorher an sein Herz zu drücken, und dann macht vielleicht dies nie empfundene Gefühl seine Seele gegen die Eindrücke einer romanhaften Liebe mächtig.

Während Ihrer Abwesenheit hat mir Carl nicht Eine Zeile geschrieben. In meinem letzten Briefe gab ich ihm einige väterliche Vermahnungen.2 Es scheint aber, als wenn er die Kraft derselben gefühlt hat, ohne sie befolgen zu können, wie es mit so manchen Regeln geht, und als wenn er sich nun[160] scheuet zu bekennen, daß er zu schwach ist, die Weisheit gegen seine Leidenschaft zu Hülfe zu rufen.

Noch einmal! Sie werden alles gut machen, und ich erwarte sehnlichst einen Brief von Ihnen.

Mein Körper ist schwach, und Ihnen, der Sie mein Herz kennen, gestehe ich es gern, mein Gemüth ist es nicht weniger. Es scheint, als wenn mein unglücklicher Proceß keine gute Wendung nimt. Ich habe gestern durch den ehrlichen Müller eine wettläuftige Auseinandersetzung der Lage dieses Rechtshandels von meinem Procurator in Wetzlar erhalten. Sollte zu keinem Vergleiche Hofnung seyn, sollte mein Gegner die Sache aufs Aeusserste treiben; sollten endlich seine Gründe gerecht erkannt werden; – So würde ich beynahe alles verliehren, was mir das Schicksal an Gütern zugetheilt hat; Und so wenig dies mich für meine Person in Verlegenheit[161] setzt; so sehr würde mein Herz bluten, wenn ich künftig das, was mir zum Wohlthun anvertrauet war, wovon ich so manchem Redlichen mitteilen durfte, aus meinen Händen genommen sehen sollte.

Der Himmel wird alles zum Besten lenken – Leben Sie recht wohl! Ich bin ewig


der Ihrige

Leidthal.

Fußnoten

1 Welches hier nicht vorgelegt wird.


2 Man sehe den zehnten Brief.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 163.
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