Zwey und zwanzigster Brief.

An den Freyherrn von Leidthal in Urfstädt.

[196] Göttingen den 1sten September 1770.


Zu Ihnen, mein ewig geliebter, theurer Wohlthäter! fliehe ich, um Ruhe für das kummervollste, tief gekränkte Herz zu suchen. Wer würde sich auch meiner annehmen, wenn Sie es nicht thäten? – Ich habe ja keinen Vater mehr. Gott ließ mir nur seiner liebevolle Gestalt einen Augenblick erscheinen, und entriß ihn mir dann wieder – Wollen Sie denn nun ferner mein Vater seyn? Wollen Sie Ihren Carl nicht verstoßen? Wollen Sie aber auch Nachsicht mit ihm haben? – Ach! ich bin nicht mehr, wie ich einst war, heiter, frey, fröhlig in der Welt. Nie gekannte Gefühle, traurige Ahndungen, unbezwingliche Leidenschaft bestürmen[196] meine arme Seele – Bald mögte ich fliehen, weit hin, von der Erde weg, fliehen, meinem unglücklichen Vater nach, den kein Kummer mehr nagt – Und dann wieder, wenn ich bedenke, wie wenig man braucht, um in einem unbekannten Winkelchen der Welt glücklich zu leben; so mögte ich in einen solchen Winkel hinflüchten, wo niemand nichts weiter von mir hören sollte –

Ich weiß es wohl, dieser Ton wird Ihnen misfallen – aber ich kann nicht anders – Vielleicht klage ich nicht lange mehr – O! Verlassen Sie mich nicht; haben Sie Mitleiden mit mir Verwaiseten, den Sie mit liebreicher Hand erzogen, und zur Tugend geleitet haben! – Haben Sie ferner Geduld mit mir! Ich will ja gern an mir arbeiten, und meinen Kummer geduldig ertragen lernen – Glücklich werde ich doch wohl nie seyn – Wie kann ich es seyn, in einer Welt, wo Lieben ein Verbrechen ist,[197] wo man sich nicht mehr nach einer Gehülfinn umsehn soll, bis die schönsten Jahre vorüber sind, und das Herz hart, kalt, und gefühllos geworden ist?

Wenn Sie nur den Engel kennten, dessen Bild unauslöschlich in meine Seele gedrückt ist – Sie selbst würden sie lieben – Auch kann ich sie nicht vergessen, werde sie nie vergessen.

Aber, bester Pflegevater! flehendlichst bitte ich Sie, lassen Sie mich eine andre Lebensart ergreifen! Lassen Sie nicht mehr meinen Kopf in der unbedeutenden, trocknen Jurisprudenz grübeln, die den Menschen weder gerechter, weiser, noch besser macht – Was sind alle Wissenschaften, die nur die kläglichen Verderbnisse des Menschen, Neid, Hader, Eitelkeit, Hochmuth, Geiz und Bosheit erfunden haben? Lieber will ich Brod und klares Wasser geniessen, als durch diese Wege mein Glück machen – Auch glückt es[198] mir nicht. Gott weiß, woher es kömmt, aber mit aller Anstrengung lerne ich doch in dem Fache nichts – Und was ist denn auch der elende Ballast von Gelehrsamkeit dieser Welt werth? Lindert er wohl auch nur im mindesten die Schmerzen eines verwundeten Herzens? Klärt er uns im mindesten über unsre künftige Bestimmung auf? – O! zürnen Sie nicht, aber ich rede, wie ich es fühle – Ich will ja keine glänzende Rolle in der Welt spielen – Lassen Sie mich Ihren Verwalter seyn; ich will Ihnen treu und freudig dienen, und geben Sie mir dann die Freundinn meines Herzens; so will ich Sie ewig, wie meinen eigenen Vater lieben und verehren – Und thue ich das nicht schon? Habe ich Ihnen nicht alles zu danken? Kann ich je aufhören, im Leben und im Tode zu seyn,


Meines Wohlthäters

gehorsamster Sohn?

Carl.[199]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 196-200.
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