Siebenter Brief.

An den Freyherrn von Leidthal in Urfstädt.

[90] Göttingen den 30sten Aprill 1770.


Ich habe Ihnen, mein gnädiger Herr! sehr wichtige Dinge zu sagen, oder vielmehr der Herr von Weckel, der Ueberbringer dieses Briefes, wird sie Ihnen besser mündlich erzählen können – Ihre Ahndung hat Sie nicht getäuscht; Er ist es, der arme Gefangene – Es ist Ihr alter Freund, Ihres lieben Pflegesohns Vater –

Sie werden hören, wie viel Mühe es uns gekostet hat, ihn zu sprechen. Wir haben mit großer Gefahr, ertappt zu werden, die Gartenmauer des Klosters erstiegen; Das war aber das Geringste. Die Schwierigkeit den armen Herrn dazu vorzubereiten, diesen unerwarteten Besuch zu erhalten; mit ihm,[90] wo möglich, durch Zeichen, vorher eine Stunde zu verabreden, wenn er allein seyn würde; dies und andre kleine Umstände machten mich für den Erfolg besorgt. Aber es gelang, freylich erst nach ein Paar mislungenen Versuchen; und ich stieg zu ihm hinauf.

Doch welch' ein Anblick! – Das Gefängniß scheint, so viel ich, von der Leiter her durch das Fenster, bey dem Scheine eines matten Lämpgens, das vor ihm stand, erkennen konnte, äusserst klein und ungesund. Auch ist er sehr krank, und hebt sich nur mit genauer Noth von seinem harten Lager in die Höhe – Er wird bald ausgerungen haben – Nur zu wahrscheinlich fürchte ich, daß wenn ihm nicht schleunig geholfen wird, der Erretter aus allem Jammer, der Tod, zu Hülfe eilen mögte. Aber ihn durch Gewalt oder List zu befreyen, daran ist gar nicht zu denken. Folglich wird kein andres Mittel seyn, als bey dem Churfürsten für ihn zu bitten –[91] Aber, wie gesagt, ich fürchte der Beystand kömmt zu spät.

Aus guten Gründen stieg ich allein hinauf, und ließ den Herrn von Hohenau unten Wache halten – Der arme liebe Mann! der Anblick seines Zustandes; sein edles, kummervolles Gesicht; die halb verloschenen Augen; die Stirne, auf welche jeder jammervolle Tag einen neuen Zug zu dem Bilde seiner vieljährigen Leiden hinzugesetzt hatte – Das alles durchdrang mich so mit innigster Wehmuth, daß ich mich kaum auf der Leiter halten konnte –

Er rief noch einmal alle seine Kräfte zusammen, als er hörte, von wem ich geschickt würde – und doch war es, als könnte er die Lebensgeister nicht mehr zur Freude sammlen – Großer Gott! –

Der Herr von Weckel wird Ihnen, mein theuerster Herr! sagen, daß ich, sobald ich[92] merkte, wer der Gefangene war, den Herrn von Hohenau abhielt, ihn zu sprechen. Auch dem Vater durfte ich nicht sagen, daß sein Sohn itzt da unten stünde; Er würde schwerlich die heftige Gemüthsbewegung, die ihm dies verursacht hätte, ausgehalten haben; denn schon die Versicherung, daß sein Carl noch lebe, und itzt in Göttingen sey, setzte seinen ganzen schwachen Nervenbau in augenscheinliche Bewegung – »Dort erst werde ich ihn wiedersehn« sagte er, und hob die Hände zum Himmel auf – Dann wollte er, beym schwachen Scheine seines Lichts, ein paar Zeilen schreiben, aber er konnte nicht, so zitterte er –

Doch ich erzähle hier alles unordentlich, der Herr von Weckel aber wird jeden Umstand ausführlich berichten – Mein Herz ist ganz voll davon – O bester Herr! es ist keine Zeit zu verliehren –[93]

Bey dieser Gelegenheit habe ich genau auf den jungen Herrn von Hohenau Acht gegeben. Es ist so gewöhnlich in unsern Romanen und Schauspielen, daß ein Sohn sich sogleich für seinen unbekannten Vater intereßirt, indem die Stimme der Natur ihm sagt, daß er derjenige sey, der ihm das Leben gegeben habe. Dennoch konnte ich nie an solche Instincte glauben, und bin im Gegentheil überzeugt gewesen, daß die Liebe zwischen Blutsfreunden nur aus der Gewohnheit mit einander umzugehn, aus der Dankbarkeit und andern sittlichen Gefühlen, aus einigen Neben-Ideen, die uns von Jugend auf eingeprägt worden sind, und endlich vielleicht aus der Uebereinstimmung der Denkungsart und des Temperaments, welche natürlich von ähnlicher Organisation und ähnlicher Erziehung entstehen muß, zu erklären seyn würde. Dies scheint dadurch noch mehr bestättigt zu werden, daß das häusliche Band unter den Großen der Erde, die entfernter von einander gehalten werden, äusserst[94] schwach ist. Hier nun bin ich wiederum in meinem Satze bestärkt worden; denn obgleich des Herrn von Hohenau sehr weiches, und itzt durch seine romantische Liebe, die anfängt mir zu misfallen, noch reizbarer gemachtes Herz, ein wahres und lebhaftes Mitleiden mit dem Schicksale des Gefangenen theilte; so bemerkte ich doch nicht die geringste Spur einer näheren Theilnehmung, oder einer Ahndung, daß der Mann sein Vater seyn könnte.

Und indem ich von dieser Liebe meines Zöglings rede; so muß ich Ihnen, gnädiger Herr! bekennen, daß dieselbe mir zu ernsthaft wird. Wenn sein Herz, seine Sitten, durch diese Leidenschaft verfeinert und gebessert werden; so hat sie von der andern Seite auf seine Vernunft und seine Studien einen schädlichen Einfluß. In ernsthaften Wissenschaften, die Anstrengung und einen freyen Kopf erfordern, rückt er nicht weiter, weil er immer zerstreuet ist, und doch sind die[95] Jahre da, wo er sich zu einem nützlichen Bürger formen muß. Dichtkunst, Musik hingegen, und alles was die Phantasie ergötzt, fesselt ihn, und wenn das so fort dauert; so wird er sich für eine Welt bilden, die jenseits des Mondes ist, und auf dieser Erde eine unglückliche Figur spielen.

Vorgestern reisete die Familie von Hundefeld hier durch zu einer Verwandtinn. Sie ließen uns zu sich bitten, der Herr von Weckel gieng mit uns, und er wird Ihnen seine Bemerkungen bey dieser Gelegenheit mittheilen. Er wollte, nach seiner gewöhnlichen leichtfertigen Art, den Herrn von Hohenau ein wenig über seine Seladon-Rolle zum Besten haben, aber damit kam er ihm sehr ungelegen, und der junge Herr machte am Ende kein Geheimniß daraus zu bekennen: er liebe das Fräulein, und werde, wenn sich in dieser alten Welt jedermann seinem Glücke wiedersetzte, mit seiner Schönen fliehen nach America – oder Gott weiß wohin, und[96] dort unter Wilden leben – Kurz! das Ding gefällt mir gar nicht, und ich fürchte, die jungen Leute sind, meiner Sorgfalt ohnerachtet, schon mit ihren Seufzern gegen einander herausgefahren; denn des Fräuleins Augen sahen mir sehr schmachtend aus, und beyde verstellten ihre Blicke, wie alle unschuldig Verliebten, auf eine so feine Art, daß jeder mittelmäßige Beobachter ihre Pantomimen hätte in Wörter übersetzen, und zu Papier bringen können.

Birnbaum wird mit dem Herrn von Weckel reisen, und ist voll Freude über sein Glück. Wir sind es mit ihm, da wir einen andern treuen Menschen an seiner Stelle angenommen haben.

Nun, mein theuerster Herr! erwarte ich mit Ungeduld einige Zeilen von Ihrer lieben Hand, sowohl um des armen Gefangenen willen, als auch, weil die Nachricht von[97] Ihrem Processe mir manche unruhige Nacht macht. Ich verharre, mit der treuesten Ehrerbiethung,


Ihr

gehorsamst ergebenster Diener

Meyer.[98]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 90-99.
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