Vierter Brief.

An den Herrn Secretair Meyer in Dresden.

[58] Hamburg den 29ten Jenner 1771.


Mein lieber Freund!


Sie haben gethan, was Sie thun konnten. Das Schicksal hat Ihre Mühe und unsre Hofnungen nicht begünstigt; Indessen wird der Himmel Ihren treuen Eifer belohnen.

Gehen Sie getrost nach Dresden – Doch, Sie werden nun schon da seyn, und Ihr Secretairspatent gefunden haben, welches seit vierzehn Tagen ausgefertigt ist.

Der arme Carl! – Es ist unbegreiflich, wo er geblieben ist; Aber wir können nicht mehr thun. Ich werde an Freunde in allen[58] großen Städten schreiben; Es muß sich doch endlich aufklären, was aus ihm geworden ist. Eine höhere Hand lenkt unser Glück, und ich habe die freudige Zuversicht, daß diese Hand ihn auch auf seinem Irrwege leiten wird.

Vielleicht ist gerade diejenige Erziehung die beste, welche uns das Schicksal giebt. Was helfen nun die Künsteleyen, die schönen Theorien? Ich glaubte nichts versäumt zu haben, das Herz und den Verstand des jungen Menschen zu bilden, und es ist mir doch nicht gelungen, ihn zu einem guten, ruhigen Weltbürger zu machen.

Ein unerwarteter Zufall macht oft alle unsre Predigten zu Maculatur. Glücklich ist das Volk, das keine Erziehungssysteme kennt.

Warum soll sich denn auch ein junger Mann nicht einmal ohne Führer durch die Welt arbeiten? Muß man uns immer am[59] Gängelbande führen? Ist nicht die ganze Erde unser Vaterland?

Umstände formen den Character, Schicksale bessern, Unglück macht milde, Erfahrung weise, Wiederwärtigkeiten stimmen herab, Leiden würkt Geduld, Schwierigkeiten erwecken den Geist, Weltkenntniß macht uns klug –

Wohlan denn! Er arbeite sich durch die Welt. Ich fühle etwas in mir, das mir sagt, er werde noch einst fröhlige Tage erleben.

Seyen Sie glücklich; Ich bin gefaßt und ruhig, und umarme Sie in Gedanken,


Leidthal.[60]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 3, Riga 1781–1783, S. 58-61.
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