Neunter Brief.

An den Herrn Secretair Meyer in Dresden.

[94] Hamburg den 30ten May 1771.


Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief. Er hat mir in allem Betracht Vergnügen erweckt, vorzüglich aber, weil er die Nachricht enthielt, daß Sie gesund und zufrieden mit Ihrem Zustande sind.

Was Sie an dem jungen Wallitz thun, wird Ihnen der Himmel und Ihr Herz vergelten – O! wenn ich je wieder in solche Umstände käme, (und wer weiß? Mein Proceß ist ja noch nicht zu Ende) daß ich diesem jungen Menschen, dem Sohne meines Verfolgers, glücklichere Tage machen könnte! – – Freund! solch' eine Rache wäre doch wohl[94] süß! – Aber ich fühle, daß Stolz Antheil an diesem Wunsche hat. Der Herr mögte gern, daß sein Herz sagte: »Sieh! das hast du an deinem Feinde gethan! Wie sich der jetzt schämen muß!«

Ueberhaupt glauben wir oft am uneigennützigsten zu handeln, wenn wir es am wenigsten sind. Wir betrügen uns dann selbst, wenn wir so im Stillen eine edle That vollführen, indem doch eine andre Leidenschaft im Hinterhalte Acht giebt, und ein Protocoll darüber abfaßt; Wir stellen uns aber, als merkten wir das nicht. Nichts ist wahre Tugend, als das, was aus der reinen Absicht ausgeübt wird, die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern – Aber wie wenig solcher Handlungen giebt es?

Doch darüber wollen wir nicht zanken. Genug! ich mögte dem jungen Wallitz gern dienen, wenn ich könnte; Ihm wäre auch im Grunde eben so viel damit geholfen, ob[95] ich es aus Eitelkeit oder aus reiner Absicht thäte. Und das ist wahrlich eine sehr feine Einrichtung in der Welt, daß das Gute doch geschieht, selbst von denen, die das Gute nicht lieben, indem tausend kleine Triebfedern den Willen herbeyführen.

Wir leben noch auf dem alten Fuße, der ehrliche Müller und ich. Morgens gehen wir zuweilen, wenn es heiteres Wetter ist, ein bisgen umher, und ergötzen uns an manchen schönen Gegenständen, welche denen, die an dieses Schauspiel gewöhnt sind, und ihre Geschäfte im Kopfe haben, entwischen.

Diesen Morgen haben wir das Tollhaus besehen – Ein Anblick, der jedem Menschenfreunde höchst wichtig seyn muß. Allein ich habe noch sehr viel an dergleichen Anstalten auszusetzen. Man wendet zu wenig Sorgfalt auf die Herstellung solcher Leute.[96]

Wir sind Alle mehr oder weniger Narren, das heißt: gewöhnlich ist eine Hauptleidenschaft so sehr Meister über uns, daß sie mit unserm Kopfe davonläuft, so oft sie uns allein, ohne Hülfe, antrifft. Die ganze Kunst besteht nur darinn, die Leidenschaften immer mit einander im Wettkampfe zu erhalten, und nach dem Jesuitensysteme: divide, & impera! zu verfahren. Wer dies kann, den nennen wir im gemeinen Leben einen klugen und guten Menschen.

Bey den eingesperrten Narren aber ist mehrentheils Eine Leidenschaft so mächtig geworden, als etwa die Maitresse über den schwachen Fürsten, oder gar zwey Leidenschaften, die sich gut miteinander vertragen, wie wenn der Cammerdiener sich mit in die Regierung mischt. Sie machen dann den armen Menschen, den sie beherrschen, taub gegen alle andre Eindrücke.[97]

Warum studiert man also nicht mehr die Quelle des Uebels? Man muß doch seinen Feind kennen, um gegen ihn streiten zu können. Allein, wer bekümmert sich darum in solchen Häusern? Und doch ist das wahrlich keine Kleinigkeit. Ich glaube, daß es wenig Narren giebt, die nicht durch eine kluge Behandlung zu leiten, und dazu zu bringen wären, was wir Vernunft nennen.


Den 31sten.


Freuen Sie Sich, mein Lieber! da ist ein Brief von unserm Carl – Lesen Sie ihn selbst!1

Sagte ich es nicht, daß ihn die Vorsicht gut leiten würde? Er ist Officier, und – O unbegreifliches Schicksal! Er hat sein Glück dem Manne zu danken, um dessentwillen Sie einst so viel gelitten haben.[98]

Doch, ich will Sie nicht länger mit meinem Geplaudere aufhalten, da Sie begierig seyn werden, die Einlage zu lesen – Der gute Müller ist so froh, als wenn Hohenau sein eigenes Kind wäre. Sehen Sie nun, daß der Himmel doch die guten Leute nicht verläßt?

Leben Sie wohl, und freuen Sich mit uns. Ich bin ewig


Ihr

treuester Freund,

Leidthal.

Fußnoten

1 Den folgenden Brief.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 3, Riga 1781–1783, S. 100.
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