Erster Brief.

An den Herrn Etatsrath Müller in Coppenhagen.

Berlin den 18ten Julius 1771.


Ich beschrieb Ihnen, bester Vater! die sonderbare Lage, in welcher wir uns Alle hier wiedergefunden haben, in meinem letztern Briefe1, und ich hoffe, Sie werden denselben noch vor Ihrer Abreise nach Coppenhagen erhalten haben. Jetzt will ich Sie von[1] dem weitern Erfolge unsrer Begebenheiten unterrichten.

Noch sind wir leider! in beständiger Ungewißheit, wie es mit dem Schicksale des Herrn von Hohenau und seiner Freundinn gehn wird, denn weder der Freyherr von Leidthal noch des Fräuleins Eltern haben bis itzt auf unsre Nachrichten geantwortet – Doch, ich komme zu meiner Erzählung.

Sie können leicht denken, liebster Vater! daß der Herr von Hohenau, beschämt und gerührt über seine bisherigen Verirrungen; in nagendem Zweifel über die Veranlassung, durch welche Charlotte in der Frau Schufit Haus gekommen war; nach näherer Erklärung aber, erfreuet den Gegenstand seiner Liebe unschuldig, verzeyhend, und so zärtlich als jemals für ihn wiederzufinden; endlich ungewiß, was nun künftig ihr gemeinschaftliches Schicksal seyn werde – daß er, sage ich, da in einem Strudel von kämpfenden[2] Empfindungen umhergetrieben wurde. Wir suchten indessen diese Scene abzukürzen, besonders da des Fräuleins schwache Gesundheit sehr dabey leiden mußte2.

Als daher die ersten Erläuterungen vorüber waren, kam es darauf an, dem armen Kinde einen anständigen Aufenthalt zu verschaffen, und ich wurde abgeschickt, mit einer braven Officierswittwe, deren Bekanntschaft der Lieutenant von B ... gemacht hatte, desfalls zu reden. Diese bewog ich denn auch ohne Mühe, Charlotten auf eine Zeitlang zu sich zu nehmen. Es wurde in demselben Hause ein Zimmer für den Herrn von Hundefeld gemiethet, und wir machten sogleich Anstalt beyde dahin zu führen.

Man fand es der Klugheit gemäß, daß der Herr von Hohenau, bis zu eingelaufener[3] Antwort von Hundefelds Eltern, das Fräulein nicht besuchen sollte, so hart ihm auch diese Forderung schien. Sie wohnt nun seit drey Wochen in diesem Hause, und der Zustand ihres Körpers, so wie ihrer Seele, wird täglich leidlicher, wozu ein Strahl von Hofnung, endlich das Ende ihrer Leiden zu erleben, und mit dem Freunde ihres Herzens verbunden zu werden, nicht wenig beyträgt.

Was die Frau Schufit und den Grafen betrifft; so glaubten wir, es werde nicht gut gethan seyn, viel Lerm zu machen. Wie kann man es einem Wollüstling verdenken, wenn er neue Gegenstände zu Befriedigung seiner immer an ihm nagenden Begierden aufsucht? Das Weib droheten wir zwar, ihr durch die Policey das schändliche Handwerk, so sie triebe, legen zu lassen; allein sie schien sehr ruhig dabey, und mogte wohl theils in einer so galanten Stadt des höhern Schutzes gewiß seyn, theils selbst fühlen, daß wir, ohne den Ruf des Fräuleins von Hundefeld[4] auf das Spiel zu setzen, die Sache nicht weiter aufrühren durften.

Ich bekenne gern, (was man auch zu Vertheidigung des Satzes, daß man in grossen Städten solche Häuser dulden müsse, sagen mag) daß es mich empört, wenn ich bedenke, daß die Vorsteher der bürgerlichen und geselligen Einrichtungen öffentliche Bordelle anzulegen erlauben können, und dadurch Gelegenheit geben, an keine Heiligkeit irgend eines Gesetzes mehr zu glauben. Sündige jeder auf seine Gefahr, und trage die Folgen davon! Aber daß man dem schamhaften Jünglinge, der noch nicht frech, kühn, geübt genug im Laster ist, um Gelegenheiten und Gegenstände zu Ausschweifungen aufzusuchen, wenn er sich dadurch der Gefahr aussetzt, entdeckt zu werden, die Mittel erleichtert, im Stillen den Lüsten zu frohnen, mit der Sprache des Lasters bekannter zu werden, die unglückliche Corruption des Geschlechts näher kennen zu lernen, gewiß zu seyn, daß[5] er nicht abgewiesen wird, und stumpf für die sanften Triebe keuscher Liebe zu werden; daß man die Zufluchtsörter vervielfältigt, wo ein junges Mädgen ohne Scheu ihre Unschuld verliehren, eine Frau die eheliche Treue brechen kann, wovon sie bis itzt wenigstens durch den Mangel an Sicherheit und Gelegenheit, der uns so oft von Fehltritten, zu unserm Glücke, abhält, zurückgezogen wurden – Das finde ich erschrecklich –

Nehmen Sie noch dazu, daß, auch bey der besten Aufsicht, diese Einrichtung gar nicht gegen böse Krankheiten sichert, indem doch nur die dort wohnenden Frauenzimmer, nicht aber die hineingehenden Männer der Untersuchung der Aerzte unterworfen sind; daß folglich das Einzige, was sich noch etwa zu Vertheidigung dieses Misbrauchs sagen liesse, wegfällt; daß in Berlin sogar Damen von vornehmen Stande, wie man mich versichert hat, in solche Häuser schleichen, und dort die Würde, die ihnen Stand, Erziehung[6] und feinere Gefühle auflegen, vergessen – Bedenken Sie das alles, und gestehen, daß solche öffentliche Anstalten bald allgemeine Zügellosigkeit verbreiten, und alle Schaam verscheuchen müssen.

Sie wissen, theuerster Vater! daß ich so gern die geheimen Geschichten des menschlichen Herzens studiere. Als ich daher den folgenden Tag mit dem Herrn Lieutenant von B ... wieder in der Frau Schufit Haus gehen mußte, um wo möglich Nachricht von la Saltière einzuziehn; (welches uns jedoch nicht gelungen ist) so kam ich auf den Einfall, die armen verirrten Mädgen zu bitten, uns ihre Lebensgeschichten zu erzählen, um zu erfahren, durch welche Reihe von Begebenheiten sie in dies Labyrinth gerathen wären. Diesen Plan führten wir aus, und vielleicht ist es Ihnen nicht unangenehm, den Hauptinhalt von einigen dieser Geschichten zu hören.[7]

Vorzüglich intereßirte uns die Physionomie eines etwa achtzehnjährigen Mädgens. Noch waren Ueberreste von den Abdrücken eines unschuldigen, fröhligen und wohlwollenden Herzens auf ihrem Gesichte zu sehen. Die Rothe ihrer Wangen war zwar nicht ganz mehr jugendliche, gesunde Farbe; das erhitzte Blut hatte den Grad derselben erhöht, doch schien noch keine Schminke auf ihre Haut gekommen zu seyn. Aber der irrende, studierte, Ruhe suchende Blick ihrer Augen, die ermüdet und schlaff im Kopfe lagen, zeigten ihren Fall an, und verkündigten, daß bald jener jugendliche Reiz das Opfer ihrer Ausschweifungen werden würde. Es rührte uns sehr, dies junge Mädgen schon auf dem schlüpfrigen Wege des Verderbens zu finden, und wir bathen sie also, uns zu sagen, wie sie dahin gerathen wäre, welches sie dann, nicht ohne Verwirrung, that.

Sie war nemlich die Tochter eines ehrlichen Beamten auf dem Gute des Herrn[8] von W ... gewesen. Dieses Edelmanns Gemahlinn aber hatte sie, wider ihre und der Eltern Neigung, schon vor drey Jahren bewogen, mit ihr in die Stadt zu gehn. Sie wollte hier eine Cammerjungfer aus ihr bilden, und ließ ihr zu diesem Endzwecke Unterricht in aller weiblichen Handarbeit geben.

In einem Alter, wo das junge Mädgen noch so vieler Aussicht bedurfte, hätte die gnädige Frau freylich sich auch um ihre sittliche Bildung bekümmern, und bey dem Glanze und den Verfahrungen der Stadt, genauer über ihr Herz wachen sollen. Allein, wie war das möglich, da die Frau von W ... sich nicht einmal der Erziehung ihrer eigenen Kinder annahm, dieselben der Aufsicht einer Französinn überließ, nach deren eigenen Abkunft, Cultur und Sitten man nie gefragt, sondern nur darauf geachtet hatte, ob sie gut plappern und anständig mit Herrschaften umgehen könnte? Die Frau von W ... fuhr täglich in Gesellschaften, tödtete dort[9] ihre Zeit am Spieltische, am Hofe, oder in einem andern Circul von hirnlosen Köpfen, und mit den leersten Geschwätzen über Kleinigkeiten, über Putz, über Fürstenetikette, über Stadt-Annecdoten, über die Fehler und Gebrechen ihrer Freunde, und kam dann spät zu Haus, betäubt von dem Lermen der elenden Menschen, unter denen sie umhergecreutzt war, oft auch voll böser Laune über irgend eine unbedeutende Thorheit, über einen zu freundlichen, zu fremden, zu vertraulichen Blick, von irgend einem vornehmern oder geringern Geschöpfe, über Unglück im Spiele, und was sonst die beunruhigenden Empfindungen mehr sind, wodurch sich allzeit die gemisbrauchte Zeit, von welcher wir einst vor Gottes Angesicht Rechenschaft geben sollen, zu rächen pflegt. Dann legte sich die Dame, wohl ohne in vier und zwanzig Stunden ihre Kinder gesehen zu haben, spät und verdrießlich zu Bette, schlief bis neun Uhr Morgens, und fuhr darauf zu einer Frühstück-Partie, oder dergleichen.[10]

So erfüllte die Frau von W ... die Pflichten einer Hausmutter, und das arme Landmädgen blieb indeß in den Händen einer ausgelernten Putzmacherinn, die nach und nach ihre Grundsätze von Sittsamkeit herabstimmte, ihr Herz einschläferte, sie mit den rauschenden Freuden der Stadt bekannt machte, und sie endlich zu der Frau Schufit, als zu einer vertraueten Freundinn, führte –

Ich will mich kurz fassen; dieser ganze Plan war von dem Herrn von W ... selbst angelegt, der sie auf diese Art zu seinen Absichten vorbereiten ließ, und den sie endlich eines Tags bey der Frau Schufit antraf.

Von dieser Zeit an wurde ihr Umgang mit ihrem Herrn sehr vertraulich; allein die gnädige Frau, welche sich zwar alles erlaubte, auch ihrem Manne durch ihre zerstreuete Lebensart Gelegenheit zu Ausschweifungen gab, dennoch aber sehr eifersüchtig war, merkte nach einiger Zeit diesen verbotenen[11] Umgang, auch wurde das junge Mädgen, stolz auf den Schutz ihres Herrn, übermüthig, nachläßig in ihrem Dienste. Die arme Verirrte wurde also aus dem Hause gejagt, floh zu Madam Schufit, wurde dort noch eine Zeitlang von dem Herrn von W ... unterhalten, aber endlich, nachdem er ihrer müde geworden, ihrem Schicksale überlassen – Und nun wird Schande, Armuth, Krankheit und zu späte Reue ihr Theil seyn.

Wir wendeten uns darauf zu einer Andern, die schon längere Zeit die Bahn des Lasters betreten zu haben schien. So wie sie herausgeputzt war (denn vermuthlich dachte sie an uns ein Paar Kundmänner zu finden) hätte sie gern gesehen, daß man sie für ein zwanzigjähriges Mädgen gehalten hätte. Auch war sie vielleicht nicht viel älter. Aber frühe Ausschweifungen hatten solche Züge in ihre Bildung gegraben, daß auch alle Weißbinderkunst vergebens angewendet war, dies zu verlarven. Sie blickte mit frechen Augen[12] bald mich, bald den Herrn von B ... an, und ein studiertes, verliebtes Lächeln, das solche Dirnen für Jeden in Bereitschaft haben, sollte den Mangel innerer, ruhiger Fröhligkeit ersetzen.

Ich kann nicht sagen, daß ihr Gesicht ohne allen Ausdruck von Würde gewesen wäre. Vielleicht würde sie auch ein gutes treues Weib geworden seyn, wenn nicht sonderbare Schicksale und Verhältnisse, die so oft unsern ganzen Character, unsern Ruf, und die Figur, die wir in der Welt spielen sollen, bestimmen, sie vom graden Wege abgeleitet hätten. Sie war in ihrem siebenzehnten Jahre von ihren Eltern, in Danzig vor der Altare einem reichen Kaufmanne verhandelt worden, dessen Denkungsart, Neigungen und Jahre, (denn er war deren sechzig alt) so mit ihrem ganzen Wesen contrastirten, daß sie ohnmöglich glücklich mit einander leben konnten.[13]

Er wurde bald, aus eigenem Gefühle von seiner Unfähigkeit das Herz einer Frau zu fesseln, äusserst eifersüchtig, und erlaubte ihr auch nicht die unschuldigsten Vergnügungen. Sein Mistrauen, so oft sie nur mit einem hübschen jungen Manne redete; seine groben Beschuldigungen, und die ewigen Vorwürfe machten sie zuletzt unempfindlich gegen die gute Meinung ihres Gatten, die sie doch nun einmal verlohren zu haben glaubte. Sein Verdacht erweckte erst ihre Neugierde nach dem verbothenen Vergnügen, und da sie alle Achtung gegen einen so ungerechten Menschen verlohr; so fieng sie nun an zu glauben, daß man sich gegen einen solchen ohne Verbrechen allerley erlauben könne. Ein junger verführerischer Kaufmannsdiener, der die Geschäfte ihres Eheherrn besorgte, gefiel ihr; Sie wurden bald ihres Handels einig; Allein der Alte ertappte sie einst, tobte fürchterlich, und verstieß die Frau; Ihre Verwandten aber, welche sie aus Eigennutz von sich geschafft hatten, wollten sich ihrer nicht annehmen.[14] Nun warf sie sich dem jungen Menschen in die Arme, gieng mit ihm fort, wurde aber bald von ihm verlassen, darauf aus Noth Schauspielerinn, hatte aber kein Talent für das Theater, mußte also auch diese Lebensart aufgeben; verwickelte sich in ein Liebesverständniß mit einem Officier, büßte ihre Gesundheit ein, mußte sich einem jungen Arzte anvertrauen, der, weil sie seine Mühe nicht bezahlen konnte, sich, nachdem sie hergestellt war, auf andre Art entschädigte, und so gerieth sie endlich, nach verschiedenen andern Catastrophen, in das berüchtigte Haus. Bald wird sie auch dafür nicht mehr gut genug seyn, und was wird dann aus ihr werden?

Eine Dritte war an dem üppigen Hofe des ... von ..., dessen natürliche Tochter sie war, aufgewachsen. Ihre Mutter, eine Operntänzerinn, hatte sie zu allen Künsten der groben und feinen Coketterie abgerichtet. Als das Kind heranwuchs, gefiel auch sie dem Durchlauchtigen Wollüstlinge.[15]

Wer kennt nicht die schändliche Lebensart, die in den Tagen des Ueberflusses in dieser Residenz herrschte? Man glaubte den Hof eines asiatischen Fürsten zu sehen, wenn man den ungeheuren Aufwand betrachtete, mit welchem man täglich neu erfundene Begierden und erkünstelte Lüste zu befriedigen suchte. Die ganze Stadt schwamm in einem Taumel von unerhörten Zerstreuungen und sodomitischen Freuden. Der weibische Tyrann, umringt von einem Haufen verworfener Schmeichler, die, um sich zu bereichern und die ersten Stellen im Staate zu bekleiden, nur darauf studierten, täglich seine Sinne zu übertäuben, führte eine Liste aller noch unverführten hübschen Frauenzimmer. Seine Spürhunde mußten dann, wenn noch irgendwo ein unschuldiges Weib durch die süssen Bande des häuslichen Friedens an den Circul ihrer Familie gefesselt war, sie durch List aus den Armen ihres Gatten reissen. Man berauschte ihre Lebensgeister durch glänzende wollüstige Feste, und wenn man den Endzweck erreicht[16] hatte, sie dem Laster opfern zu lassen, dann war Ein fürstlicher Triumpf mehr erfochten. Ein landesväterlicher Zweck mehr erreicht.

Bey jedem neuen Schauspiele wurde der Natur Gewalt angethan, und oft trug ein verschnittener römischer Feldherr auf seinem herabgewürdigten Leibe den Erwerb von einigen hundert seufzenden armen Unterthanen.

Diese Pracht mußte mit jedem Tage zunehmen, weil solche Vergnügungen, die so weit von der edlen Simplicität der Natur abstehen, immer Eckel zurücklassen. Doch dauerte die Lebensart nur so lange, bis das Land erschöpft, die Sitten aller Stände vergiftet, der Cörper des Sultans ausgemergelt, und sein sonst nicht uncultivirter Geist entnervt, zum Vieh hinabgesunken war. Dann machte ihn die öde Langeweile verdrießlich, ungerecht und grausam. Der redliche Mann, der es wagte, die Rechte der Menschheit zu reclamiren, und das schlummernde[17] Gewissen des fürstlichen Henkers aus dem Schlafe zu wecken, wurde als ein Schelm fortgejagt, oder in vier Mauren eingesperrt –

Doch Sie kennen ja, bester Vater! die ganze Verfassung; ich fahre also in meiner Erzählung fort.

Die natürliche Tochter ersetzte bald den Platz, den ihre Mutter einst bey dem gnädigen Herrn versehen hatte, und das so lange, bis dieser ein andres Liebesverständniß, das sie mit einem Secretair unterhielt, entdeckte. Da mußten Mutter und Tochter aus dem Lande. Sie kamen an den Hof des Herzogs von ..., und das junge Mädgen erhielt eine Stelle bey der Oper, an diesem prächtigen Hofe. Als aber ökonomische Umstände auch hier eine Abschaffung aller Schauspiele nothwendig machten, war sie ohne Versorgung, und hatte nie Handarbeit gelernt. Ihre Stimme wurde heiser, und es blieb[18] ihr nichts übrig, als auf die gröbeste Art ein unglückliches Handwerk fortzutreiben, zu welchem sie von der Wiege an bestimmt zu seyn schien.

So wie indessen ihre Jahre zunahmen, und der erste Reiz der Schönheit entwich, sunk sie immer in eine tiefere Classe hinunter. Es ist nicht das Fach solcher Personen, in ihren glänzenden Tagen Geld zu sparen. Als daher keine andre Hülfsmittel für sie übrig blieben, ließ sie sich in Berlin in der Frau Schufit Hause nieder; da lebt sie nun, und steht einer höchst fürchterlichen Zukunft mit nagender Ahndung entgegen.

Allein, ich will Ihre Geduld, theuerster Vater! nicht länger mit Erzählung solcher Annecdoten auf die Probe setzen. Kennen Sie nicht schon Scenen genug von unglücklichen Folgen der menschlichen Verirrungen?[19]

Auch hielten wir uns nur kurze Zeit dort auf. Mich dünkt, wer nicht durch vielfältige Ausschweifungen ganz fühllos gegen die reinern geselligen Freuden geworden ist, der kann nicht lange, ohne äussersten Widerwillen, in einem solchen Hause bleiben. Eine Wohnung, in welcher kein Familienband, kein Plan herrscht, worinn so zu sagen niemand zu Hause ist, macht schon einen widrigen Eindruck. Und daher würde ich selbst in keinem Gasthofe, das ganze Jahr hindurch mit ruhigem Herzen, leben können: Aber noch dazu kein einziges Gesicht zu erblicken, auf welchem innerer Frieden wohnt; zu sehen, wie so alles, bis auf den kleinsten Hausrath, ohne Ordnung, nur für den augenblicklichen Genuß da steht; zu bedenken, daß hier eine privilegirte Anstalt zu Fortpflanzung des sittlichen Verderbnisses ist – Das erschüttert jeden Mann von feinem Gefühle – Jetzt von etwas Besserem![20]

Meine Lage ist noch dieselbe. Ich habe kein Recht zu klagen, und mag Ihr zärtliches Vaterherz nicht beunruhigen; Aber wenn es möglich wäre, ein andres Plätzgen, mögte es auch noch so geringe seyn, für mich zu finden, ach! so würde ich Sie flehentlichst darum bitten. Das Schauspielerleben fängt an hart auf mir zu liegen. Ich wende jede freye Stunde an, mir nützliche Kenntnisse zu erwerben, lese viel, studiere, lerne Sprachen – Mögte ich nur so glücklich seyn, einst irgend eine kleine Bedienung, wo es auch wäre, zu bekommen!

Gott erhalte Sie uns, liebster Vater! das ist der erste Wunsch meines Herzens. Wir hoffen sehnlichst auf Antwort wegen des Fräuleins, und ich bin ewig


Ihr

gehorsamster Sohn

Ludwig Müller.

Fußnoten

1 Man sehe den 28sten im dritten Theile.


2 Hohenaus Brief an Leidthal, in welchem diese ganze Scene beschrieben war, ist nun ganz aus der Sammlung weggeblieben.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 4, Riga 1781–1783, S. 22.
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