Ein und zwanzigster Brief.

An den Freyherrn von Leidthal in Urfstädt.

[175] Frankfurt am Mayn den 9ten October 1771.


Diesmal, mein vortreflicher Wohlthäter! bin ich der Einzige von unserer Gesellschaft, der Ihnen schriftlich aufwartet, und darauf will ich stolz seyn. Ich soll Ihnen melden, wie es uns seit unserer Abreise von Göttingen gegangen ist; Hier ist kurz die Geschichte davon. Verzeyhen Sie nur, wenn ich Ihnen das so gradeweg erzähle, und wenn ich weder mit der Wärme, Gründlichkeit noch mit dem Witze schreiben kann, wie die Herrn von Hohenau, Meyer und von Weckel thun würden.[175]

Diese guten Männer sind durch einen Freund genöthigt worden auszugehn, eine Schmetterlingsammlung zu besehen, welche die beste in Europa seyn soll, das mir denn auch, um des Besitzers willen, herzlich lieb ist. Weil ich aber davon nichts verstehe, auch nicht begreife, wie man an todten aufgespießten Thieren, wären sie auch noch so bunt, Vergnügen finden kann; so bin ich zu Hause geblieben, die angenehmste Pflicht zu erfüllen, Ihnen bester Herr! von uns Nachricht zu geben.

Wir reiseten von Göttingen nach Cassell. Meine Gefährten waren so sehr mit dieser wahrlich schönen Stadt bekannt, daß ich Mühe hatte sie zu bewegen, daß sie sich meinetwegen hier etwas aufhielten. Indessen habe ich doch das Merkwürdigste gesehen, und Sie können denken, wie mich alles überrascht und entzückt hat. Man sagt, in Berlin finde man das mehr im Großen, und hier sey fast alles Nachahmung – Was bekümmert[176] aber das mich, dem nie etwas Schöneres von der Art unter die Augen gekommen ist? –

In Marburg hielten wir uns nur eine Nacht auf. Den andern Morgen besahen wir, ehe wir in den Wagen stiegen, die Bibliothek; mehr weil wir Gelehrte vom Handwerke sind, als weil die Sammlung so sehenswerth, oder der Nutzen von einer solchen kurzen Besichtigung der Bände beträchtlich wäre.

Als wir wegfuhren, marschierte grade die Garnison zum Herbstmanöuvre aus dem Thore, welches uns ein wenig aufhielt.

Man sagt den hessischen Officieren nach, daß sie entsetzlich zu fluchen pflegen. Ich weiß nicht, ob das wahr ist, aber das hörte ich denselben Morgen, und schrieb mir's auf, daß ein Officier, welcher mit einem Soldaten schmählte, demselben zurief: »er wolle,[177] daß der Teufel ihm in den Rachen hinunter führe, ihm das Fett vom Herzen risse, Lichter davon machte, und ihn damit in die Hölle leuchtete.«

In Giessen hielten wir Mittag. Eine Gesellschaft niederländischer Kaufleute und deren Frauen speiseten mit uns. Dem Herrn von Weckel gefielen sie nicht; Es war ein Mann dabey, mit großen Glasaugen, von denen unser muntrer Freund behauptete, sie sähen aus, wie die kleinen runden Fensterscheiben in alten Häusern. Die Frau desselben Mannes hatte alle ihre Ringe an den Daumen gesteckt, und ein Knabe, vermuthlich dieses Pärchens Sohn, fraß so entsetzlich von allen Gerichten, als wenn er, da doch einmal der Vater bezahlen müßte, sein Geld wieder herausessen wollte.

Des Abends kamen wir nach Wetzlar, und blieben den ganzen 4ten October dort. Wir wurden in ein Paar Häusern bekannt,[178] und hatten Ursache uns dazu Glück zu wünschen, denn wir lernten einige herrliche Menschen persönlich kennen, die uns schon vorher theuer gewesen waren.

Der Ton der Gesellschaften in Wetzlar ist sehr bequem und leicht. Man hatte uns viel von der daselbst herrschenden Verderbniß der Sitten gesagt; aber wir blieben nicht lange genug dort, um diese Nachrichten zu berichtigen, und wo auf dem Erdboden ist jetzt nicht Verderbniß der Sitten? –

Aber Eine Bemerkung haben wir gemacht, die dort wohl jedem Beobachter einfallen muß. Es werden nemlich in Wetzlar jährlich ungeheure Summen verzehrt, sowohl von der großen Anzahl gut besoldeter Assessoren, als auch von der Menge der Procuratoren, die sich ihre Arbeit, wie billig, von reichen Partheyen tapfer bezahlen lassen. Dazu kömmt das Heer von Sollicitanten, die jungen Practicanten, und der Aufwand der Visitationscommission.[179] Diese Millionen fremdes Geldes, welches ganz von Aussen herkömmt, und in Wetzlar verzehrt wird, sollten doch vermuthen lassen, daß man hier reiche, wohlhabende Kauf- und Handwerksleute finden, Wohlstand bemerken, jeden Nahrungszweig blühen sehen müßte; aber nichts weniger! Armuth und todte Stille herrschen in den mehrsten Gassen dieser schlechten, höckrichen, auf Hügeln gebaueten Stadt. Die Fenster sind, wo Scheiben fehlen, mit Lumpen ausgestopft, oder mit Papier zugeklebt; Es müssen äusserst faule oder liederliche Leute hier wohnen.

Wir besuchten den 5ten, begleitet von einem Freunde, die Prämonstratensernonnen im Kloster Altenburg. Die guten Mädgen wohnen da ganz angenehm; die Aussicht ist herrlich; Es sind hübsche junge, gut erzogene, mehrentheils adeliche Frauenzimmer darunter. Sie können einige Monate im Jahre abwesend seyn, dürfen oft Wetzlar und[180] die Nachbarschaft besuchen, auch Zuspruch von beyden Geschlechtern annehmen – Und doch wohnt auf den mehrsten Gesichtern Kummer, Sehnen nach einem bessern Zustande. Gern hätte ich manche jetzt verwelkte Schönheit um die Geschichte ihres Herzens gefragt.

Eine Begebenheit hörten wir dort, die der Herr Meyer aufgeschrieben, und welche ich mit seiner Erlaubniß, so wie er sie hingesetzt hat, aus seinem Tagebuche hier einrücken will.

»Es soll eine alte Nonne dort gewesen seyn, welche kürzlich das Ende ihrer Leiden im stillen Grabe gefunden hat. Sie liebte einen guten Jüngling, ohne die Einwilligung ihrer Verwandten zu einem Bündnisse mit demselben erlangen zu können; denn die Familie wollte aus Interesse ihr nicht erlauben, ihn zu heyrathen, sondern hatte beschlossen, sie in ein Kloster einzusperren. Zu diesem Endzwecke erfand der Bruder die[181] List, sie mit der falschen Nachricht von dem Tode ihres Geliebten zu täuschen. Das arme Mädgen beweinte ihren Seelenfreund, hüllte sich dann in den klösterlichen Schleyer ein, entsagte der Welt, die keinen Reiz mehr für sie hatte, und suchte im heiligen Gebethe Ruhe und Erquickung für ihr krankes Herz. Fern von allen Weltverbindungen floh sie in die treuen Arme des liebreichen Freundes aller Creaturen, und fand da einen negativen Zustand von stiller Glückseligkeit oder Unempfindlichkeit, in welchem sie ihren bittern Schmerz vergaß, und nicht die unzähligen Leiden sah, die um uns her die Seelen so mancher Guten zerreissen, und die Ruhe des theilnehmenden Menschenfreundes jeden Augenblick stöhren.«

»An einem heissen Sommertage kam ein fremder Reisender vor das Kloster – Es war ein schweres Gewitter am Himmel, das die Athmosphäre drückte und reizbare Nerven angriff – Die arme Klosterfrau[182] fühlte sich so beängstet – Sie bethete zu der heiligen Mutter Gottes; aber kein Frieden konnte an dem Tage in ihre Seele kommen – Sie stellte sich an das Fenster, wollte sehen, ob nicht bald die Thränen des Himmels die gepreßte Natur erleichtern würden – Der Reisende fürchtete vom Regen überfallen zu werden; Er kam in den Klosterhof gefahren, und dachte: hier dürfe er um Erlaubniß bitten ein Stündgen unter Dach zu gehen, denn er war ein gar guter Mann, der, wenn gleich er im Wagen trocken saß, doch nicht gern das arme Vieh leiden sehen könnte. Die Nonne wollte vom Fenster zurücktreten; sie mogte keine fremde Gesichter sehen – Aber der Reisende stieg geschwind aus – Ach! und welch' ein Anblick! es war der Freund ihrer Jugend, den sie so lange betrauert hatte – Das arme Mädgen! Sie hat seit dieser Stunde ihre Augen nicht wieder aufgehoben, Sie glaubte, sie könnte nicht mehr so andächtig bethen – Aber der liebe Vater[183] und Schöpfer der Menschenkinder erbarmte sich ihrer, und eiferte nicht, wenn Wehmuth die Heiterkeit, mit der sie vor ihn treten sollte, umwölkte – Jetzt hat sie den Trost gefunden, nach welchem sie so lange schmachtete« –

»Sie zehrte nach und nach aus, war voll inniger Melancholie, klagte aber nie, war auch niemand zur Last, sondern gegen jedermann freundlich und liebreich. So steht sie nun vor Gott, und hat ihrem Bruder längst verziehen, aber es wird schon sein Ankläger einst vor dem Throne der Gerechtigkeit Rechenschaft über jede Thräne, jeden Seufzer seiner Schwester fordern.«

So weit geht des Herrn Meyers Erzählung. Wir kamen den 6ten Abends hier in Frankfurt an, und fanden den Herrn von Weckel im römischen Kaiser. Diese drey Tage haben wir angewendet des Morgens und Nachmittags die wenigen Merkwürdigkeiten,[184] die Gartenhäuser, die Gegend u.d. gl. zu sehn, des Abends aber verschiedene Privathäuser zu besuchen, um doch eine Idee von der hier herrschenden Lebensart zu bekommen.

Wir waren zuerst in einer Gesellschaft des hiesigen Adels – Man setzte sich an den Spieltisch, und gieng um neun Uhr auseinander. Es soll fast täglich eine dergleichen Gesellschaft in irgend einem Hause seyn.

Gestern waren wir Mittags zu Gaste, sodann in noch ein Paar Häusern von Handelsleuten, und den Abend in einer großen Gesellschaft von calvinischen Kaufleuten, in welcher der feinste, sittlichste Ton herrschte. Es waren sehr wackre cultivirte, bescheidene, durch Reisen und Umgang mit aller Gattung von Menschen sehr gebildete Leute darunter, und ich hörte einige Gespräche, die weder gemein noch langweilig waren.[185]

In einzelnen Stücken gefällt uns Frankfurt, sowohl nach dem was wir davon gesehen, als auch von Andern erfahren haben, gut genug, wenngleich, im Ganzen genommen, an der Art das Leben zu geniessen manches auszusetzen wäre. Die Absonderung der verschiedenen, sich im Grunde ziemlich gleichen verwandten Stände, und die Entfernung, in welcher die Religionssecten eine von der andern leben, geben schon den allgemeinen Belustigungen einen Zwang, den man, in diesem Zeitalter, beynahe in den größten Residenzen nicht mehr kennt. Schauspiele und andre öffentliche Vergnügungen sind, vielleicht aus dieser Ursache, ausser den Meßzeiten nicht. Daher darf man sich denn auch nicht wundern, wenn es, bey dem ohnehin noch nicht sehr geläuterten litterarischen Geschmacke dieser Gegenden, mit einer gewissen Art von Aufklärung, und mit dem feinern Gefühle für die schönen Künste, die so großen Einfluß auf die zartere Seelenbildung haben, nicht gänzlich so aussieht, als[186] man es wünschen mögte, wenn man oft französische Leichtfertigkeit an der Stelle gründlicher Einsicht, statt philosophischen Sinnes schielenden Blick wahrnimt, und endlich merkt, daß die klügern empfänglichern Menschen, deren es hier gewiß viel giebt, sich entweder gänzlich vom Umgange absondern, oder wenn sie große Gesellschaften besuchen, den flachen Ton mit annehmen, und darüber zuletzt selbst zu Grunde gehn, indem, bey dem gänzlichen Mangel an Anstalten für die Bildung des Geistes, Verfeinerung des Geschmacks, und Austauschung origineller Ideen, aller Muth, alle Lebhaftigkeit des Gefühls, alle Gelegenheit weiter zu kommen, wegfällt.1

Es sind viel große Häuser hier, wo sehr oft prächtige Gastereyen gehalten werden;[187]

Allein wenige, wo ein guter Freund ohnerwartet auf einem freundschaftlichen geselligen Fuße ein Paar häusliche Schüsseln mitzuessen willkommen wäre – Ja! man würde mit einer solchen Mahlzeit, wo Mäßigkeit und geringer Aufwand herrscht, sehr schlechte Ehre einlegen.

Zu Ausfüllung der leeren Stunden ist hier das Spiel beynahe die einzige Belustigung, welche denn auch in vollem Maaß genossen, indem in Frankfurt entsetzlich hoch und viel gespielt wird.

Zur Ehre des schönen Geschlechts, welches in dieser Stadt sehr reizend ist, muß man es sagen, daß keine Zügellosigkeit der Sitten hier hervorleuchtet, und daß die französische Lebensart doch die Sittsamkeit nicht verdrängt hat. Es versteht sich, daß ich nicht von einzelnen Ausnahmen rede.[188]

Ein edler Zug in dem Character der hiesigen Kaufleute ist die Wohlthätigkeit. In ihren Zusammenkünften, auch beym Spiel, vergessen sie der Unglücklichen nicht. In keiner Stadt von Deutschland wird vielleicht nach Verhältniß so viel an Arme ausgetheilt, und zu Collecten für Auswärtige, die durch Brand oder andre Calamitäten ins Elend gerathen, giebt oft ein einziger Mann hundert bis zweyhundert Gulden her.

So viel über die Sitten und Lebensart dieser Reichsstadt, welche wir morgen verlassen werden – Verzeyhen Sie, bester Herr! wenn mein Brief zu lang gerathen ist; ich will jetzt schliessen, indem sich Ihrer Gnade und väterlichen Güte fernerhin empfiehlt


Ihr

gehorsamster Diener

Wallitz.

Fußnoten

1 Sollte es vielleicht, um der Schwachen willen, nöthig seyn zu erinnern, daß dies von dem Zustande vor zwölf Jahren, und dennoch nicht allgemein zu verstehen ist?


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 4, Riga 1781–1783, S. 190.
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