Drey und zwanzigster Brief.

An den Herrn Baron von Leidthal in Urfstädt.

[198] Maynz in der Reichs-Crone

den 10ten October 1771 Abends 10 Uhr.


Das wird einmal wieder ein sonderbarer Brief werden. Jeder will sein Stück dazu beytragen, und jeder schreibt seinen eigenen Styl – Es sey darum – Platz, meine Herrn! ich mache den Anfang, und gebe unserm theuersten Freunde Nachricht von der heutigen Reise. Also seyd still und ruhig, Ihr jungen Leute! sonst werde ich irre.

So ist es recht! Herr Meyer raucht sein Pfeifgen Tabac und schreibt nach Dresden, und die beyden jungen Herrn lesen, denn sie[198] haben sich aus einem von den unzähligen Buchläden in Frankfurt ein wenig Seelenfutter mitgenommen. Doch da geht Hohenau schon zu Bette – Gute Nacht!

Wir kamen diesen Morgen auf den Einfall mit dem Marktschiffe hierherzugehn; desfalls schickten wir unsern Wilhelm mit der Kutsche zu Lande voraus, behielten Friedrich bey uns, und schifften uns um zehn Uhr diesen Morgen ein. – Wahrlich eine schöne Gesellschaft! Juden, Pfaffen, Viehhändler, Metzger, nebst Hunden und Zubehör – Ach! und welche liebenswürdige Frauenzimmer! – »Ich empfehle mich Ihnen, Jungfer Selzler!« – Eine sonderbare Sprache! Hier empfehlen sich die Leute, wenn sie kommen, andrer Orten empfiehlt man sich, wenn man fortgeht – Und wie alle Leute so fürchterlich laut schreyen; Es muß viel Taube hier geben.

Nun, dachte ich, immerhin! Vater Noah war doch auch kein Narr, und hatte mit dem[199] allen eine noch possierlichere Reisegesellschaft. Ich habe ihn schon oft als Knabe bedauert, wenn ich ihn auf den Tapeten oder in den Bilderbibeln abgemalt sah, wie der seekranke, blasse Mann aus dem kleinen Cajütenfensterchen guckt, und neben an aus dem andern Fenster ein Einhorn oder ein Cammeel den Hals hervorstreckt. – Ich wollte der gute Mann hätte, als er die ganze Menagerie nach des Ritters Linée System ordnete, wenigstens die Wanzen1 mit von der Sündfluth ausrotten lassen. Der Herr von Hohenau, welcher hier im Nebenzimmer winselt, dankt es ihm mit dem Henker, daß der hiesige Hauswirth diese Art hübscher Thierchen, durch die Vorsorge des Erzvaters, aufbehalten hat – Doch das gehört ja nicht hierher.

Wir arbeiteten uns durch den Haufen hindurch, über die Beine, Körbe, Kasten und Hunde weg, bis in das hintere Kämmerchen, wo wir denn den Kern der Gesellschaft[200] antrafen. Jeder suchte sich einen Platz – Es war verzweifelt gepreßt – Warum, in aller Welt, muß auch dieser kleine Raum noch durch eine Menge Paquete beengt werden? Da kömmt jeden Augenblick noch eine Magd, und bestellt »ein schönes Compliment von ihrer Madam, und auf diese Schachtel bäthe sie vorzüglich wohl Achtung zu geben« und so geht das fort.

Auf diese Art wohl eingepackt stiessen wir vom Lande. Nun fieng ein jeder an, die übrige Gesellschaft ruhiger zu betrachten. Dabey hatte mancher noch ein Restgen Frühstück zu verzehren, etwas an seinem eilig geordneten Anputze zu verbessern, sich bequemer zu setzen – Jetzt wurden Bekanntschaften gemacht – »Um Vergebung, mein Herr! Sie gehen gewiß weiter« – Dort sprach auf einmal jemand von Madrit – »Herr Jemine! so weit sind Sie schon gereiset?«[201]

Ein Landedelmann, der die Frauenzimmer mit platten Späßen unterhielt, und zuerst über jeden seiner oft probierten Einfälle selbst lachte, hatte seinen Sohn bey sich, einen groben Bengel von funfzehn Jahren, den er nach Holland bringen wollte, damit er dort Cadet würde, und gegen baare Bezahlung für die hochmögenden Herrn – exercierte.

»Zehn Schritte vom Leibe, Du schmutziger Capuziner! Behalte Dein Ungeziefer für Dich!« – »Und das können Sie einem armen Mönch zurufen, den Noth oder Tyranney seiner Familie zu dieser unglücklichen Lage bestimmt haben?« – Aber er war doch gewaltig unwissend, denn als von der Inquisition geredet wurde, behauptete er, im Preussischen sey dieselbe noch allgemein eingeführt. Vermuthlich hatte er einmal etwas von der Regie reden gehört, die doch würklich eine vortrefliche Einrichtung ist. Ueber so etwas kann ich mich freuen. Man[202] entsagt doch wohl nicht der Welt, um sich noch nachher um ihre kleinen Händel zu bekümmern, und mich hat es immer geärgert, wenn ich hörte, daß in Klöstern und Abteyen der Hauptgegenstand der Unterredung Zeitungsnachrichten sind.

In der Ecke saß ein Deutscher, in einer abgetragenen französischen Officiersuniform. Er hatte ein junges Weibchen bey sich; Sie blickten sich oft traurig und kümmerlich an, und die arme Frau hielt ein Bündelchen an der Hand, worinn etwas Eßvorrath, zu Ersparung der Mittagsmalzeit, seyn mogte. Beyde kamen mir so bekannt vor, und ich erinnerte mich bald, wo ich sie gesehen hatte. Denn als ich im vorigen Jahre durch ... reisete, und des Abends, kurz vor Tische, aus meinem Zimmer über einen langen Gang in das Hinterhaus gieng, stand die Thür einer bewohnten kleinen Kammer offen, in welcher kein Licht war. Zwey Stimmen sungen ein deutsches Lied; die männliche[203] begleitete die Melodie harmonisch eine Terz niedriger. Das Lied sollte munter gehn; aber es klang nicht fröhlig, wie sie es vortrugen. Mir kam es vor, als wollten die Leute sich nur einander Muth einsingen, oder nicht von unangenehmen Dingen reden, sich nicht gestehen, was jeder einzeln litt, und dem Andern verschweigen wollte, damit dieser heiter seyn mögte. Ich fragte damals den Wirth, und der sagte mir: »sie sängen, weil sie nichts zu essen hätten; der Mann sey ein abgedankter Officier und habe einen Proceß, von dessen Ausgange sein Glück abhänge.« Als ich des Morgens von ... wegfuhr, sahe ich denselben armen Officier auf der Gasse in einem eifrigen Gespräche mit einem Juden verwickelt, vermuthlich um Geld geborgt zu bekommen. Was weiter aus den Leuten geworden ist, und wie sie hier in das Marktschiff kamen, darnach habe ich mich nicht erkundigen können. Wo ich vorausweiß, daß ich nicht helfen kann, da vermeide ich das vorwitzige Nachfragen.[204]

Die übrige Gesellschaft in der Cajüte war nicht sehr interessant. In Höchst aßen wir zu Mittage. Dort hat ein reicher italienischer Tabacsfabrikant eine ungeheure Masse von Gebäuden aufgethürmt.2 Die Eitelkeit, durch eine Reyhe von Schlössern dort seinen Nahmen zu verewigen, kostet den Herrn Bolengaro gewaltige Summen, wobey niemand als die Handwerksleute Vortheil haben. Ich kann nichts schön finden, was nicht zweckmäßig ist, und eine Tabacsfabrik, die wie ein königliches Schloß aussieht, ist etwas eben so elendes, als ein Reisekoffer, der mit Goldstoff überzogen wäre. Da auch gewöhnlich nach einer Reyhe von Jahren andre neuere Etablissements jede Fabrik dieser Art lahm legen; so ist vorauszusehn, daß den Erben einst dieser Steinhaufen[205] sehr zur Last fallen und dann vielleicht der Churfürst von Maynz (wenn wir zu der Zeit noch Churfürsten haben) den ganzen Bettel um eine geringe Summe kaufen wird.

Hinter Höchst kamen Musicanten in das Schiff, die das lustige Publicum sehr angenehm unterhielten. Sie verkleideten sich unter andern wie Juden, und ahmten den Lerm einer Synagoge nach, welches nun freylich, da verschiedene Israeliten gegenwartig waren, für dies ohnehin gedrückte Volk nicht angenehm seyn konnte.

Die Hitze im Schiffe, und die Hofnung zu einer herrlichen Aussicht trieben uns oben auf den Verdeck – Und wahrhaftig! Wer Sinn für die Schönheiten der Natur hat, der muß bey dem Anblicke der Gegend von Maynz gerührt werden. Da wo sich der Mayn in den majestätischen Rhein ergießt; rechter Hand die Stadt mit ihren Thürmern, gegen über Cassell; und dann an den Ufern[206] die Weinberge; die Lage der Cartause neben dem Lustschlosse, die Favorite genannt – das alles ist in der That hinreissend. Auch schwammen unsre jungen Herrn in Empfindsamkeit, und Herr Meyer wünschte ein Cartäuser zu seyn.

Wir kamen um vier Uhr an, und besuchten diese guten Mönche, die nun freylich keine solche Lebensart führen, wie sie dem Hauptmann von Weckel Freude machen würde; Unterdessen hat dieselbe doch in manchen Stücken Vorzüge vor derjenigen, in welcher die mehrsten übrigen Ordensgeistlichen vegetieren; denn jeder besitzt hier sein kleines Haus für sich, und hinter dem Hause ein Gärtgen. Dabey treibt er ein Handwerk, wozu ihm alles erforderliche Handwerkszeug und dergleichen angeschafft wird.

Ich kann nicht sagen, daß der churfürstliche Garten, die Lage ausgenommen, den geringsten Reiz für mich gehabt hätte. In[207] Aschaffenburg hingegen sollen schöne Spaziergänge seyn, und vor einem Thore von Maynz sehen wir auch verschiedene artige Alleen. Wir wollen morgen weiter, und also nicht an den Hof gehn. Uebrigens sagt man, daß es ein gar angenehmer Hof sey. Emmerich Joseph ist allgemein geliebt, und von seinen Unterthanen angebethet. Er ist gesellig, und hat so gar nichts Steifes, Stolzes, Pedantisches, wie wohl andre Churfürsten. Die Etikette ist ihm ein verhaßtes Ding, weil er weiß, daß das nur ein Hülfsmittel für dumme, aufgeblasene Fürsten ist. Diese, wenn sie innerlich fühlen, daß ihre persönlichen Eigenschaften ihnen keine Liebe erwerben können, und sie kein andres Mittel haben, sich geachtet zu machen, schreiben den Leuten um sich her eine gewisse Form, zu Bezeugung der erzwungenen Ehrerbiethung vor – eine Maske, die jeder vorhenken muß, und hinter welcher er den fürstlichen Pinsel im Herzen aushöhnen kann, wenn dieser es nur nicht sieht.[208]

Maynz ist übrigens ein todter Ort, wie alle Residenzen geistlicher Fürsten. Viel Kirchen sind darinn; ob viel oder wenig wahre Religion und Christenthum, das weiß ich nicht.

Der Maynzische Adel ist gastfrey, angenehm und leicht im Umgange, und wenn Fremde über das Gegentheil klagen; so waren es gewiß immer solche, die entweder aus Mangel an Lebensart, oder wegen ihrer Geburt, die nun einmal in dieser Welt einen gewissen äussern Unterschied unter den Classen der Menschen macht, fühlten, daß sie in diesen Circuln nicht an ihrem Platze waren.

Wir brachten aber diesen Abend, von sieben Uhr an, in einer bürgerlichen Gesellschaft zu. Es waren artige Leute darunter, und wir wurden bald bekannt mit ihnen. Gegen neun Uhr kam ein Cammerherr dahin. Er paßte sich nicht recht zu den übrigen dort[209] gegenwärtigen Menschen. Die verschiedene Art der Erziehung, und der Umgang der Leute, mit denen man lebt, geben unsrem Wesen oft einen solchen Ton, daß ein feiner Kopf, voll Welt- und Menschenkenntniß dazu gehört, um in jeder Gesellschaft zu Hause zu seyn. Ein bloßer Hofmann in einer ehrlichen bürgerlichen Versammlung, ist wie ein Blutfinke, den man ein Liedgen gelehrt hat, und ihn dann wieder in das Feld fliegen läßt –

Doch, es ist spät, mein theuerster Freund! Ich will also Abschied von Ihnen nehmen. Leben Sie wohl –


Weckel.


Worms den 11ten, Abends 9 Uhr.


Könnte ich Ihnen, bester Vater! nur beschreiben, welche herrliche Gegenden heute meine Augen gesehen haben! O! das romantische Oppenheim! – Aber man muß von der andern Seite, über die fliegende Brücke[210] her, dahin kommen – Wie sich dann diese ehrwürdige alte Stadt, an dem Berge hängend, dem Auge darstellt! – Es ist ein rührender Anblick; Ein Kind muß das fühlen. Wir kamen des Mittags an, und bestiegen das Schloß, um von daher die Reiche der Welt unter unsern Füßen liegen zu sehen – Welch' eine schöne Landschaft! Gewiß das Paradies von Teutschland – Und diese entzückende Pfalz hat die galanteste aller Nationen, der wir unsre schöne Cultur, unsern Geschmack, unsre feine Lebensart, unsre Hof-Sitten und unsre Aufklärung zu danken haben, mit mordbrennerischer Faust verwüstet. Diese Heldenthat eines von Sentiments strotzenden Volks, dies vortrefliche Pendant zu der pariser Bluthochzeit, mögte ich jedem Teutschen vor Augen stellen, der sich seines Vaterlandes schämt, und mit fremden Sitten prahlt.

Als wir auf dem Kirchthurm standen, begrub man unten auf dem Kirchhofe ein junges[211] Mädgen, die ein zu heißer Tag im Frühlinge ihrer Tage dahingewelkt hatte – O! was mein von so viel Seiten gepreßtes Herz da fühlte – Aber der Herr von Weckel hat für so etwas keinen Sinn; ich will auch nichts mehr davon sagen, er mögte es lesen. An meine Charlotte habe ich viel über Oppenheim geschrieben; Ich war grade damals recht gestimmt dazu, und sah dort manches Interessante. Es ist ein Beinhaus in Oppenheim, in welchem viel tausend Schedel liegen, mehr als ich je in meinem Leben auf einem Flecke gesehen habe, aufgethurmt und fachweise geordnet. Wie mancher gute Kopf, dachte ich, mag hier schlafen, wie manches unruhige Gehirn hier vertrocknet seyn! – Freund und Feind, Einheimischer und Fremdling, da vereinigt und gesellig neben einander –

Als wir in den Gasthof zurückkamen, begegnete uns oben im Durchgange ein unansehnlicher kleiner Mann, im blauen Ueberrocke,[212] mit einem kurzen Pfeifgen im Munde. Er machte sogleich Bekanntschaft mit uns, und bath uns, weil wir doch noch auf unser Essen warteten, indeß in sein Zimmer zu treten. Wir thaten das, und nun fieng er allerley schale Gespräche mit uns an, die einen sehr schiefen Kopf verriethen, und doch redete er mit einer gewissen Art von Schein des Bewußtseyns, uns als geringere Geschöpfe betrachten zu dürfen. Wir glaubten, der Mensch sey ein Narr, und weil er uns Langeweile machte; so giengen wir von ihm weg. Kurz nachher, als der Wirth uns das Essen brachte, erfuhren wir von ihm, daß es der Graf von ... gewesen, der seit viel Jahren ausser seinem Ländgen herumreiset, allerley tolle Streiche macht, und jetzt vor einigen Tagen mit einem kleinen Gefolge nach Oppenheim gekommen war.

Ehe man nach Worms kömmt, berührt man einen Ort, der Rhein-Türkheim heißt, am Ufer des Flusses gelegen. Der Mond[213] schien so schön, und spiegelte sich auf dem Wasser; Der Abend war heiter und lieblich; Wir beschlossen also zu Fuß zu gehen. Wir schickten die Kutsche voraus, uns Quartier und Abendessen zu bestellen, und so schlenderten wir längst dem Rhein hin; Herr Meyer rauchte ein Pfeifgen, und wir sprachen dann von allerley, und waren recht fröhlig. Ein Bauer, aus einer entferntern Gegend, welcher denselben Weg vorhatte, vermehrte die Gesellschaft, und erzählte uns allerley. Er war unzufrieden über seinen calvinistischen Pfarrer, der, wie er sagt, stark trinkt, und sich dadurch oft krank und unfähig macht, sein Amt zu verwalten. Vorigen ersten Jenner hat er, weil er Abends vorher einen starken Rausch gehabt hatte, das Neujahrsfest auf einen andern Tag verlegen wollen.

Worms zeigt wieder klägliche Ueberbleibsel von des französischen Generals Melac Unmenschlichkeit. Auch ist sein Nahmen so verhaßt, daß in der Pfalz die mehrsten Hunde[214] Melac genennt werden. Speyer und Worms waren einst sehr große, beträchtliche Städte. Man fährt viel tausend Schritte von dem ersten Thore an, durch Rudera, die jetzt zum Theil mit Weingärten umpflanzt sind, bis man an den Anfang der, nach der Zerstöhrung wieder aufgebaueten Stadt kömmt.

Soviel wir diesen Abend sehen können, ist es hier äusserst still und menschenleer. Wir werden morgen früh wieder fortreisen, und küssen Ihnen, bester Vater! Alle in Gedanken die Hände.


Hohenau.


Freinsheim den 26sten October.


Dieser Brief hat lange unvollendet gelegen. Sie werden indessen des Herrn Meyers Schreiben vom 11ten und das Paquet des Herrn von Hohenau vom 19ten richtig erhalten haben.3 Jetzt, bester Herr! will ich[215] den Rest mit Erzählung unsrer weitern Reise ausfüllen.

Wir durchstreichen die schöne Pfalz, und zwar mehrentheils zu Fuße. Die Weinlese geht noch stark fort, und das ist ein gar herrliches Schauspiel für uns. Des Morgens früh lausen wir mit in die Weinberge und Weinfelder, wo dann alles von fleißigen Menschen wimmelt, welche Trauben lesen, und dabey fröhlig und guter Dinge sind. Auf den Feldern stehen hie und da Handmühlen, worinn die Trauben gequetscht, sodann in Fässer geschüttet, und auf Karren in die Häuser zur Kelter gebracht werden.

Wir helfen unsern lieben, vortreflichen Hauswirthen, die Ihnen heute selbst schreiben werden, fleißig lesen, wobey wir uns selbst aber nicht vergessen. Man sollte es nicht glauben, wie viel Trauben man des Morgens geniessen kann, ohne irgend gesättigt zu werden, und ohne Ungemächlichkeit[216] zu fühlen. Im Gegentheil! es ist eine wahre Cur, welche Magen und Säfte verbessert, und leichtes, muntres Blut schafft. Es giebt Schweizer, die mit ihrer Familie im Herbste hierherziehn, sich einen Weinberg miethen, daselbst Hütten aufschlagen, und so lange hier bleiben, bis sie denselben kahlgegessen haben. Des Mittags schmeckt ein gutes einfaches Mahl herrlich, und dabey eine Flasche pfälzischen Weins, der lieblich und gesund ist. Des Nachmittags werden wieder Trauben gelesen, bis es dunkel wird; Indeß dann die Domestiken keltern, sammlet sich eine kleine Gesellschaft, schwäzt, spielt, macht Music, und des Abends geht es selten ohne ein Tänzgen ab, worauf man sich sorgenlos zu Bette legt. Das ist unsre Lebensart, indem wir von einem Orte zum andern ziehen, eigentlich aber doch hier, bey der liebenswürdigen ... Familie unser Hauptquartier haben.[217]

Frankenthal ist ein freundliches, artig gebauetes Städtgen. Es wohnen viel Fabricanten hier. Fünf Tage haben wir, nicht weit von da bey Ihrem alten Freunde ... in ... zugebracht. Wir sind voll Liebe empfangen und behandelt worden. Er ist jedem unserer Wünsche zuvorgekommen, war den ganzen Tag durch nur Aufmerksamkeit und Sorge für das Vergnügen seiner Gäste – Guter, gastfreundlicher Mann! Du thust so gern Andern wohl, theilst so gern, was Dir der Himmel beschehrt hat, mit Deinen Freunden. Bey Dir findet der Elende Schutz und der Hungrige eine Labung. Du dienest so gern jedem – Mögtest Du nie an Undankbare Deine Wohlthaten verschwenden; Mögte jeder, wenn Du Seiner bedarfst, so bereit seyn Dir die Hand zu biethen, als Du es jetzt bist, alles was um Dich lebt glücklich und vergnügt zu machen.

Es gefiel uns nicht, daß die Bauern in einigen pfälzischen Dörfern Contretänze tanzen[218] und Operetten-Arien trillern. Auch sollen die Sitten der Landleute in einigen Gegenden sehr verderbt seyn.

Man erzählt viel Böses von den Landschreibern, und daß Einige von ihnen in vorigen Zeiten, zu Bestreitung ihres fürstlichen Aufwandes, erschreckliche Diebereyen begangen hätten. Ich weiß nicht, ob das wahr ist; Allein die jetzigen sollen grundehrliche, gewissenhafte Leute seyn, und von denen unerhörten Bestechungen, ohne welche ehemals niemand in der Pfalz das Geringste erlangen konnte, hört man sehr wenig mehr.

Herxheim hat eine Lage, die weder zu beschreiben, noch zu malen ist. Man sieht aus des Herrn von Reinecks Garten, der auf einer Anhöhe liegt, rings umher vielleicht sechs und zwanzig Stunden weit, und nach manchen Seiten verliehrt sich ganz das Auge. So viel Städte, Dörfer, Weinberge, Felder, Ströhme, Wälder, Schlösser – Es[219] ist ein segenvoller Reichthum der schönen Natur.

Beynahe noch majestätischer ist dieser Anblick in Neustadt an der Hart.

In Türkheim hat der Fürst von Leiningen ein Schloß, welches auch sehr angenehm gelegen ist. Dieser Herr soll eine artige Parforcejagd haben. Der Herr von Weckel erzählte uns bey dieser Gelegenheit verschiedene Annecdoten von dieser Art Jagden. Zu Zweybrücken soll ohnstreitig jetzt in Deutschland die vollständigste seyn. In Cassell werden mehrentheils nur zahme Tannhirsche im Garten herumgejagt. Aber sie werden des Tags vorher wild gemacht, und so geht es doch gut. Die englischen Officiere und andre vornehme Herrn in America, welche gern jagen, und kein Wild haben, lassen ein Stück frisches Rindfleisch an einem Seile auf der Erde, von einem Kerl zu Pferde vorausschleppen, und auf dieser Fährte jagen[220] dann die Hunde. Was aber in Türkheim mehr als die Parforcejagd unsre Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein alte ehrwürdiger Pfarrer, welcher selbst der Stifter seiner calvinischen Gemeine ist. Er hat für sein Häuflein eine beträchtliche Collecte gesammlet, bey deren Zusammenbringung er sogar in Holland herumreisete, keine Beschwerlichkeit scheuete, selbst kümmerlich lebte, dann zurückkam, ein Gotteshaus aufbauete, alle Schwierigkeiten überwand, seit dieser Zeit mit Wiederspruch aller Art, mit Kummer und Krankheit kämpfte, aber immer fest und heiter, der Freund, Vater und Rathgeber der seiner Glaubensgenossen blieb. Jetzt hat er ein Auge verlohren, und sieht mit dem andern wenig; Aber er murrt nicht, liebt Gott und Menschen, und theilt seine Armuth mit jedem, dem er einen heitren Augenblick dadurch machen kann. Es ist Schade, daß der Mann kein Buch geschrieben, keine Bataille gewonnen, kein Land als Minister in Verwirrung gebracht hat; Man[221] würde doch von ihm reden. Jetzt wird, wenn der gute Greis zu seinen Vätern versammlet ist, vielleicht sein Nahmen nicht wieder genannt werden.

Wir haben bey unsern Fußreisen Gelegenheit die Anmerkung zu bestättigen, daß man die Bauern und Postillons in ihren Gegenden nie um die nächsten Fußwege fragen muß. Sie bekümmern sich darum nicht, sondern gehn die Wege, welche, von Vater auf Sohn herab, als die nächsten sind anerkannt worden, und es ist vergebens ihnen begreiflich machen zu wollen, daß eine grade Linie der kürzeste Weg zwischen zwey Puncten ist.

In Deidesheim sahen wir ein Haus der barmherzigen Brüder – Ich schätze diesen Orden sehr – Sie nehmen Kranke von allen dreyen Religionspartheyen auf, behandeln dieselben mit bewundernswürdiger Sorgfalt und Reinlichkeit, und reichen ihnen alle diese wahrhaftig christlichen Liebesdienste und die erforderlichen Arzeneyen unentgeldlich.[222]

Morgen gehen wir nach Speyer. Dort werden wir einen neuen Brief an Sie, bester Wohlthäter! anfangen. Der gegenwärtige ist so lang, daß wir beschlossen haben, ihn auf die Post zu schicken. Ich füge also nichts mehr, als die Versicherung meiner unübertrefbaren Ehrerbiethung hinzu.


Wallitz.

Fußnoten

1 Wandläuse.


2 Der Herausgeber glaubt keinen Tadel zu verdienen, wenn man hier und bey andern Gelegenheiten dieser Art zuweilen Dinge beschrieben findet, die im Jahre 1771 noch nicht da waren; Ein Roman ist ja keine Historie.


3 wovon sich aber hier nichts findet.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 4, Riga 1781–1783, S. 224.
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