Sechstes Kapitel

[206] Über den Umgang unter Freunden


1.


Da bei dem Betragen gegen unsre Freunde alles auf die Wahl der selben ankommt, so muß ich zuerst einige Bemerkungen über diesen Gegenstand vorausschicken. Keine freundschaftlichen Verbindungen pflegen dauerhafter zu sein, als die, welche in der frühern Jugend geschlossen werden. Man ist da noch weniger mißtrauisch, weniger schwierig in Kleinigkeiten; das Herz ist offner, geneigter sich mitzuteilen, sich anzuschließen; die Charaktere fügen sich leichter zusammen; man gibt von beiden Seiten nach und setzt sich in gleiche Stimmung; man erfährt miteinander so manches, erinnert sich der sorglosen, gemeinschaftlich vollbrachten glücklichen Jugendjahre und rückt mit gleichen Schritten in Kultur und Erfahrung fort. Dazu kommen dann Gewohnheit und Bedürfnis; wird einer aus dem vertrauten Zirkel durch die Hand des Todes dahingerissen, so kettet das die übrig bleibenden Gefährten um desto fester aneinander. – Ganz anders sieht es aus in reifern Jahren. Von Menschen und Schicksalen vielfältig getäuscht, werden wir verschloßner, trauen nicht so leicht; das Herz steht unter der Vormundschaft der Vernunft, die genauer abwägt und sich selbst Rat zu schaffen sucht, bevor sie sich andern anvertraut. Man fordert mehr, ist edler in der Wahl, nicht mehr so lüstern nach neuen Bekanntschaften, wird nicht so lebhaft betroffen von glänzenden Außenseiten; man hat echtre Begriffe von Vollkommenheit, von dauerhaften Bündnissen, vom Nutzen und Schaden einer gänzlichen Hingebung; der Charakter ist fester; die Grundsätze sind auf Systeme zurückgeführt, in welche die Gesinnungen und Theorien eines uns fremden Menschen selten passen; folglich wird es schwerer, eine dauerhafte[206] Harmonie zustande zu bringen, und endlich sind wir in so manche Geschäfte und Verbindungen verflochten, daß wir kaum Muße und wenigstens selten Drang haben, neue zu schließen. Also vernachlässige man seine Jugendfreunde nicht; und wenn auch Schicksale, Reisen und andre Umstände uns in der Welt umhergetrieben und von unsern Gespielen getrennt haben, so suche man doch jene alten Bande wieder anzuknüpfen, und man wird selten übel dabei fahren.


2.


Es ist ein ziemlich allgemein angenommener Grundsatz, daß zu vollkommner Freundschaft Gleichheit des Standes und der Jahre erfordert werde. Die Liebe, sagt man, sei blind; sie feßle durch unerklärbaren Instinkt Herzen aneinander, die dem kalten Beobachter gar nicht füreinander geschaffen zu sein schienen, und da sie nur durch Gefühle, nicht durch Vernunft geleitet werde, so fallen bei ihr alle Rücksichten des Abstandes, den äußere Umstände erzeugen, weg. Die Freundschaft hingegen beruhe auf Harmonie in Grundsätzen und Neigungen; nun aber habe jedes Alter sowie jeder Stand seine ihm eigene Stimmung, nach der Verschiedenheit der Erziehung und Erfahrungen, und desfalls finde unter Personen von ungleichen Jahren und ungleichen bürgerlichen Verhältnissen keine so vollkommne Harmonie statt, als zu Knüpfung des Freundschaftsbandes erfordert werde.

Diese Bemerkungen enthalten viel Wahres, doch habe ich schon zärtliche und dauerhafte Freundschaften unter Leuten wahrgenommen, die weder dem Alter noch dem Stande nach sich ähnlich waren, und wenn man sich an dasjenige erinnert, was ich zu Anfange des ersten Kapitels in diesem Teile gesagt habe, so wird man dies leicht erklären können. Es gibt junge Greise und alte Jünglinge; feine Erziehung, Mäßigkeit in Wünschen, Freiheit in Denkungsart und Unabhängigkeit der Lage erheben den Bettler zu einem Mann von hohem Stande, so wie verachtungswürdige Sitten, unedle Begierden und niedrige Gesinnungen selbst einen Fürsten zu dem Pöbel herabwürdigen können. Das ist aber zuverlässig[207] gewiß, daß zu einer dauerhaften, innigen Freundschaft Gleichheit in Grundsätzen und Empfindungen erfordert wird, und daß dieselbe auch bei einer zu großen Verschiedenheit in Fähigkeiten und Kenntnissen nicht leicht Platz finden kann. Fällt nicht eine der höchsten Glückseligkeiten bei solcher Verbindung, die Austauschung von Ideen und Meinungen, die Mitteilung verschwisterter Gefühle, die Berichtigung dunkler Ahnungen und Zurechtweisung in wichtigen Fällen alsdann weg, wenn unser Freund sich durchaus nicht in unsre Lage hineindenken kann, wenn ihm unsre Empfindungen gänzlich fremd sind? Es gibt Leute, die man nur bewundern darf, an welchen man immer hinaufschauen muß, und diese Menschen verehrt man, aber – man liebt sie nicht, oder man verzweifelt wenigstens daran, von ihnen wiedergeliebt zu werden. In der Freundschaft müssen beide Teile gleich viel gehen und empfangen können. Jedes zu große Übergewicht von einer Seite, alles, was die Gleichung hebt, stört die Freundschaft.


3.


Warum haben sehr vornehme und sehr reiche Leute so wenig wahren Sinn für Freundschaft? Sie fühlen weniger Seelenbedürfnis. Ihre Leidenschaften zu befriedigen, rauschenden, betäubenden Freuden nachzurennen, immer zu genießen, geschmeichelt, gelobt, geehrt zu werden, darum ist es ihnen allen mehr oder weniger zu tun. Von Personen ihresgleichen werden sie durch Eifersucht, Neid und andre Leidenschaften getrennt; die noch Größeren suchen sie nur auf, wenn sie ihrer zur Begünstigung eigennütziger oder ehrgeiziger Absichten bedürfen; die Geringern und Ärmern aber halten sie in einer so großen Entfernung von sich, daß sie von ihnen weder die Wahrheit annehmen, noch den Gedanken ertragen können, sich mit ihnen gleichzustellen. Auch bei den Besten unter ihnen erwacht früh oder spät die Vorstellung, daß sie von besserem Stoffe seien, und das tötet dann die Freundschaft.
[208]

4.


Allein selbst unter den Menschen, die Dir an Stand, Vermögen, Alter und Fähigkeiten gleich sind, rechne nur auf die dauerhafte Freundschaft derer, die nicht von unedlen, heftigen oder törichten Leidenschaften beherrscht, noch wie ein Wetterhahn von Launen und Grillen hin und her getrieben werden. Wer rastlos rauschenden Freuden und Zerstreuungen sich ergibt; wer wilden Begierden, der Wollust, dem Trunke, dem vermaledeieten Spiele alles aufopfert; wessen Abgott falsche Ehre, Gold oder sein eigenes Ich ist; wer, wankelmütig in Grundsätzen und Meinungen, einen Charakter hat, der sich wie Wachs von jedem in jede Form drücken läßt, der mag vielleicht ein guter Gesellschafter, aber nie wird er ein beständiger, treuer Freund sein. Sobald es auf Verleugnung, Aufopferung, auf Beharrlichkeit und Festigkeit ankommt, wird ein solcher Dich im Stiche lassen; Du wirst allein dastehn und Dich hintergangen glauben, da doch Du allein Dich betrogen, indem Du unvorsichtig gewählt hast. Überhaupt ist es in dieser Welt so oft der Fall, daß unsre Phantasie uns die Menschen malt, wie wir gern möchten, daß sie aussehn sollten, und es nachher sehr übelnimmt, wenn sie gewahr wird, daß die Natur nicht das Original dem Gemälde gleich geschaffen hat.


5.


Man pflegt zu sagen: das sicherste Mittel, Freunde zu haben, sei keiner Freunde zu bedürfen; aber jeder Mensch von Gefühl bedarf Freunde – und sollte es denn wirklich so schwer sein, in dieser Welt treue Freunde zu finden? Ich meine, nicht halb so schwer, als man gewöhnlich glaubt. Unsre empfindsamen jungen Herrn schaffen sich nur zu überspannte Begriffe von der Freundschaft. Freilich, wenn wir gänzliche Hingebung, unbedingte Aufopfrung, Verleugnung alles eigenen Interesses in höchst kritischen Augenblicken, blinde Ergreifung unsrer Partei gegen eigene bessere Überzeugung, sogar Bewundrung unsrer Fehler, Billigung unsrer Torheiten, Mitwirkung bei unsern leidenschaftlichen Verirrungen – mit einem Worte, wenn wir mehr von[210] unsern Freunden fordern, als Billigkeit und Gerechtigkeit von Menschen verlangen darf, die Fleisch und Bein sind und freien Willen haben, so werden wir nicht leicht unter tausend Wesen eines finden, daß sich so gänzlich in unsre Arme würfe. Suchen wir aber verständige Menschen, deren Hauptgrundsätze und Gefühle mit den unsrigen übereinstimmen, kleine unmerkliche Verschiedenheiten abgerechnet; Menschen, die Freude finden an dem, was uns freut; die uns lieben, ohne von uns bezaubert, das Gute in uns schätzen, ohne blind gegen unsre Schwächen zu sein; die uns im Unglücke nicht verlassen, uns in guten und redlichen Dingen treu und standhaft beistehen, uns trösten, aufrichten, tragen helfen, uns, wo es höchst nötig ist und wir dessen wert sind, alles aufopfern, was man ohne Verletzung seiner Ehre und der Gerechtigkeit gegen sich selbst und die Seinigen aufopfern darf, uns die Wahrheit nicht verhehlen, uns aufmerksam auf unsre Mängel machen, ohne uns vorsätzlich zu beleidigen, uns allen andern Menschen vorziehen, insofern es ohne Unbilligkeit geschehen kann – suchen wir ernstlich solche, nun, so finden wir deren gewiß – viele? nein! das sage ich nicht, aber doch wohl ein paar für jeden Biedermann – und was braucht man mehr in dieser Welt?


6.


Hast Du nun einen solchen treuen Freund gefunden, so bewahre ihn auch! Halte ihn in Ehren, auch dann, wenn das Glück Dich plötzlich über ihn erhebt, auch da, wo Dein Freund nicht glänzt, wo Deine Verbindung mit ihm durch die Stimme des Volks nicht gerechtfertigt zu werden scheint. Schäme Dich nie Deines ärmern, weniger hochgeschätzten Freundes. Beneide nicht den Dir vorgezogenen Freund. Hänge fest an ihm, ohne ihm lästig zu werden. Fordre nicht mehr von ihm, als Du selbst leisten würdest, ja, fordre nicht einmal so viel, wenn Dein Freund nicht in allen Stücken mit Dir einerlei lebhaftes Temperament, einerlei Fähigkeiten, einerlei Grad von Empfindnis hat. Ergreife warm und eifrig die Partei Deines Freundes, aber nicht auf Unkosten der[211] Gerechtigkeit und Redlichkeit. Du sollst nicht seinetwegen blind gegen die Tugenden andrer sein, noch, wenn Du die Macht in Händen hast, eines würdigen, geschickten Mannes Glück zu bauen, diesen dem weniger fähigen Freund nachsetzen. Du sollst nicht seine Übereilungen verteidigen, seine Leidenschaften als Tugenden erheben, in kleinen Zwistigkeiten mit andern Menschen, wenn er unrecht hat, vorsätzlicherweise die Partei des Beleidigers verstärken; nicht Dich mit in sein Verderben stürzen, wenn ihm dadurch nicht geholfen wird, noch vielleicht gar durch unkluge Verteidigung seine Feinde mehr erbittern und Dich und die Deinigen in das Verderben stürzen. Aber retten sollst Du seinen Ruf, wenn er unschuldig verleumdet wird, auch dann, wenn jedermann ihn verläßt und verkennt, sobald Du hoffen darfst, daß dies ihm irgend Vorteil bringen kann. Öffentlich ehren sollst Du den Edeln und Dich nie Deiner Verbindung mit ihm schämen, wenn Schicksale oder böse Menschen ihn unverdient zu Boden gedrückt haben. Nicht mitlächeln sollst Du, wenn lose Buben hinter seinem Rücken her ihn höhnen. Mit Vorsicht und Klugheit sollst Du ihm Nachricht geben von Gefahren, die ihm und seiner bürgerlichen Ehre drohen; aber nur insofern dies dazu dienen kann, dem Übel auszuweichen oder Unvorsichtigkeiten wieder gutzumachen, nicht aber, wenn er dadurch bloß eine unruhige Stunde gewinnt.


7.


Freunde, die uns in der Not nicht verlassen, sind äußerst selten. Sei Du einer dieser seltenen Freunde! Hilf, rette, wenn Du es vermagst, opfre Dich auf – nur vergiß nicht, was Klugheit und Gerechtigkeit gegen Dich und andre von Dir fordern. Aber tobe nicht, klage nicht, wenn andre nicht ein Gleiches für Dich tun. Nicht immer herrscht böser Willen bei ihnen. Ich habe vorhin gesagt, daß schwache und durch Leidenschaft beherrschte Menschen unsichre Freunde sind; doch wie wenige gibt es, die ganz fest und unerschütterlich in ihrem Charakter, ganz frei von kleinen Leidenschaften und Nebenabsichten wären, die nicht bei ihrer[212] Anhänglichkeit an Dich mit Rücksicht nähmen auf Deinen äußern Ruf, auf Deine Verhältnisse, darauf, daß sie, wo nicht durch Dich geehrt werden, doch wenigstens nicht Schande vor der Welt wegen ihrer Zuneigung zu Dir auf sich laden wollen.

Wenn diese nun, sobald ein Ungewitter sich über deinem Haupte zusammenzieht, einen kleinen Schritt zurücktreten oder wenigstens ihre Liebe und Verehrung in eine Art von Protektion und Ratgeberrolle verwandeln – nun, so sei billig! Schiebe die Schuld auf das ängstliche Temperament der mehrsten Leute, auf ihre Abhängigkeit von äußern Umständen, auf die Notwendigkeit, heutzutage durch Gunst sein Glück zu machen, um bei den wahrhaftig teuren Zeiten fortzukommen. Wie wenig Menschen würden übrigbleiben, mit denen Du Hand in Hand auf dieser Erde durch dick und dünn wandeln könntest, wenn Du es so genau nehmen wolltest. Zuweilen ist auch der Fall da, daß wirklich unsre Freunde (wenn wir uns durch kleine oder große Unvorsichtigkeiten unser Schicksal selbst zugezogen haben) sich die Rechtfertigung schuldig sind, öffentlich zu zeigen, daß sie nicht in unsre Torheiten verwickelt gewesen. Oft werden sie durch unsre widrige Lage grade so gestimmt, als sie immer hätten gestimmt sein sollen, das heißt: sie hören auf, uns so zu schmeicheln, wie sie es vorher aus Furcht, uns zu verlieren, taten, solange wir von jedermann aufgesucht wurden und unsre Freunde wählen konnten. Ich habe in einigen blendenden Situationen meines Lebens einen Haufen von Leuten sich mir aufdrängen gesehn, die mir ohne Unterlaß Weihrauch streuten, jeden meiner witzigen Einfälle mit lauter Bewunderung auffingen, schmeichelhafte Verse auf mich machten, meine Worte als Orakelsprüche ausschrien und meinen Ruf im Posaunenton erhoben. Ich kannte das Menschengeschlecht genug, um nicht alles das für bare Münze anzunehmen, sondern fest überzeugt zu sein, daß, wenn ich einst in eine weniger angenehme Lage kommen und sie meiner nicht mehr bedürfen, sie mir ganz anders begegnen würden. Ich irrte nicht, aber deswegen waren diese doch nicht insgesamt Schurken[213] und Heuchler. Viele von ihnen, es ist wahr, lernte ich als solche kennen; sie erlaubten sich die ärgsten. Niederträchtigkeiten gegen mich; es befremdete mich nicht; ich verachte sie; aber manche waren vorher nur von dem Strome mit fortgerissen worden. Die Stimme meiner Feinde erweckte sie nun; sie stutzten, betrachteten mich mit forschendem Auge und sahen meine Fehler; sie warfen mir diese Fehler durch Worte und einige Kälte in ihrem Betragen vielleicht ein wenig zu unsanft vor, gaben mir dadurch Gelegenheit, selbst aufmerksam auf dieselben zu werden, an mir zu arbeiten, und wahrlich, diese sind mir nützlichre, echtre Freunde gewesen als manche andre, die nicht aufhörten, mich in meiner Eitelkeit und Selbstgenügsamkeit zu bestärken.


8.


Kein Grundsatz scheint mir unfeiner und eines gefühlvollen Herzens unwürdiger als der: daß es ein Trost sei, Gefährten oder Mit leidende im Unglücke zu haben. Ist es nicht genug, selbst leiden und dabei überzeugt sein zu müssen, daß in der Welt noch viele ebenso redlich gute Menschen, wie wir sind, nicht weniger Elend zu tragen haben? Sollen wir noch die Summe dieser Unglücklichen mutwilligerweise dadurch vermehren, daß wir andre zwingen, auch unsre Last mitzutragen, die dadurch um nichts leichter wird? Denn man sage doch nicht, daß es Erleichterung sei, sich von seinem Schmerze zu unterhalten! Nur für einige alte Weiber, nicht aber für einen verständigen Mann, kann Geschwätzigkeit von der Art Wohltat werden. Ich habe im ersten Kapitel des ersten Teils davon geredet: ob es gut sei, andern seine Widerwärtigkeiten zu klagen. Damals sagte ich zur Beantwortung dieser Frage nur das, was Weltklugheit und Vorsichtigkeit lehren; im Umgange mit Freunden hingegen, wovon hier die Rede ist, muß uns auch Feinheit des Gefühls vorschreiben, unsre unangenehme Lage vor dem mitempfindenden, zärtlich teilnehmenden Freunde so viel möglich zu verbergen. Ich sage: so viel möglich, denn es können Fälle kommen, wo die Bedürfnisse des gepreßten Herzens, sich zu entladen, zu groß, oder die liebreichen Anforderungen[214] des Freundes, der den Kummer auf unsrer Stirne liest, zu dringend werden, wo länger zu schweigen Folter für uns oder Beleidigung für den Vertrauten werden würde. In allen übrigen Fällen lasset uns der Ruhe unsers Freundes wie unsrer eignen schonen. Das aber versteht sich, daß hier nicht von Gelegenheiten die Rede ist, wo sein Rat oder seine Hilfe uns retten kann. – Was wäre Freundschaft, wenn man da schwiege?


9.


Klagt Dir ein Freund seine Not, seine Schmerzen so höre ihn mit Teilnehmung an. Halte Dich nicht mit moralischen Gemeinsprüchen auf, mit Bemerkungen über das, was anders hätte sein und was er hätte vermeiden können, da es doch einmal nicht anders ist. Hilf, wenn Du es vermagst, tröste und verwende alles, was ihm Linderung geben kann, aber verzärtle ihn nicht an Leib und Seele durch weibische Klagen. Erwecke vielmehr seinen männlichen Mut, daß er sich erhebe über die nichtigen Leiden dieser Welt. Schmeichle ihm nicht mit falschen Hoffnungen, mit Erwartungen eines blinden Ungefährs, sondern hilf ihm, Wege einschlagen, die eines weisen Mannes würdig sind.


10.


Aus dem Umgange mit Freunden muß alle Verstellung verbannt sein. Da soll alle falsche Scham, da soll aller Zwang, den Konvenienz, übertriebene Gefälligkeit und Mißtrauen im gemeinen Leben auflegen, wegfallen. Zutraun und Aufrichtigkeit müssen unter innigen Freunden herrschen. Allein man überlege dabei, daß die Entdeckung von Heimlichkeiten, deren Mitteilung gar keinen Nutzen stiftet, hingegen durch die kleinste Unvorsichtigkeit in Bewahrung derselben Nachteil bringen kann, kindische Geschwätzigkeit ist; daß wenig Menschen unter allen Umständen unverbrüchlich ein Geheimnis zu bewahren vermögen, wenn auch diese Menschen alle übrigen Eigenschaften haben, die zur Freundschaft erfordert werden; daß fremde Geheimnisse nicht unser Eigentum sind, und endlich, daß es auch eigne Geheimnisse[215] gehen kann, die man ohne Schaden, Gefahr und Nachteil durchaus keinem Menschen auf der Welt anvertrauen darf.


11.


Jede Art von schädlicher Schmeichelei muß im Umgange unter echten Freunden wegfallen, nicht aber eine gewisse Gefälligkeit, die das Leben süß macht, Nachgiebigkeit und Geschmeidigkeit in unschuldigen Dingen. Es gibt Menschen, deren Zuneigung man augenblicklich verloren hat, sobald man aufhört, ihnen Weihrauch zu streun, sobald man nicht in allen Dingen einerlei Meinung mit ihnen ist, einerlei Geschmack mit ihnen hat. In ihrer Gegenwart darf man den größten Vorzügen andrer Leute ja nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Gewisse Saiten kann man gar nicht berühren, ohne sie aufzubringen. Haben sie eine Torheit begangen; sind sie blindlings eingenommen für oder gegen eine Sache, für oder gegen eine Person; werden sie von Phantasie oder Leidenschaft irregeleitet; haben sie unanständige oder schädliche Gewohnheiten an sich; findet man in ihrer Art zu leben und zu wirtschaften etwas mit Grunde auszusetzen und man untersteht sich, hierüber etwas zu sagen, so schlägt das Feuer allerorten heraus. Andre werden hierdurch nicht sowohl beleidigt als gekränkt. Sie sind gewohnt, sich so zu verzärteln, daß sie die Stimme der Wahrheit gar nicht hören können. Man soll nur von solchen Dingen mit ihnen reden, die ihren faulen Seelenschlummer befördern. – »Wenn ich Dich bitten darf«, sagen sie, »so laß uns davon abbrechen. Das sind Gegenstände, die ich nicht gern in mein Gedächtnis zurückrufe. Es ist nun einmal nicht anders, ich weiß wohl, daß ich unrecht habe, daß ich vielleicht anders handeln sollte; aber es würde einen zu schweren Kampf kosten – meine Gesundheit, meine Ruhe, meine schwachen Nerven vertragen es nicht, daß ich ernstlich darüber nachsinne.« – Pfui, ein Mensch von festem Charakter, und der ernstlich das Gute liebt und sucht muß den Mut haben, bei jedem Gegenstande mit reifer Überlegung verweilen zu können. – Alle solche weichgekochten Seelen taugen nicht zur Freundschaft. Man muß das Herz haben, Wahrheit[216] zu sagen und Wahrheit anzuhören, auch dann, wenn diese Wahrheit hart ist und unser Innerstes erschüttert. Der Freibrief eines Freundes, dem andern die Wahrheit nicht zu verhehlen, berechtigt ihn aber nicht, dies mit Grobheit, mit Ungestüm, mit Zudringlichkeit zu tun, ihn durch lange Predigten zu er müden und zu erbittern oder mit ängstlichen Besorgnissen zu erfüllen, wenn seinem Temperamente oder den Umständen nach gar kein Nutzen davon zu erwarten steht.


12.


Ich habe vorhin gesagt, daß alles, was die Gleichheit unter Freunden aufhebt, der Freundschaft schädlich sei; da nun das Verhältnis zwischen einem Wohltäter und dem, welcher Wohltaten empfängt, am wenigsten mit Gleichheit bestehn kann, so scheint es der Zartheit der Gefühle angemessen, zu verhindern, daß durch ein zu großes Gewicht von Wohltaten auf einer Seite ein Freund dem andern gleichsam unterwürfig werde. Verbindlichkeiten von der Art sind der Freiheit, der uneingeschränkten Wahl entgegen, auf welcher die Freundschaft beruhn soll. Sie bringen etwas in dies Bündnis hinein, das nicht hinein gehört, nämlich die Dankbarkeit, welche nicht freiwillig, sondern Pflicht ist. Man hat selten den Mut, so kühn und offenherzig mit dem Wohltäter zu reden als mit dem Freunde. Dazu kommt, daß, wenn ich einen Freund um eine Gefälligkeit bitte, er aus Delikatesse mir nicht gern abschlägt, was er vielleicht einem Fremden abschlagen würde. Ich weiß wohl, daß es ein edles, stolzes Herz, wenn es Wohltaten annimmt, fast mehr kostet, als wenn es gibt, selbst dann, wenn das, was es hingibt, Aufopfrung fordert; allein immer ist dann doch auf einer Seite Last der Verbindlichkeit – und heißt das nicht, unter Freunden, auf beiden Seiten? Wäre es endlich auch nur das der einzigen Rücksicht, daß empfangene Wohltat uns parteiisch für den Wohltäter macht und Parteilichkeit Bestechung ist, so wünschte ich doch schon darum, dergleichen so viel möglich aus der Freundschaft verbannt zu sehn. Also sei man äußerst edel in Erheischung und Annahme von Freundschaftsdiensten.[217] Man suche lieber in Fällen, wo irgendeine solche Bedenklichkeit stattfinden möchte, Hilfe bei Fremden, besonders in Geldsachen. Doch gibt es Fälle, in denen man ohne Scheu sich an Freunde wenden muß, nämlich, wenn die Freundschaftsdienste, deren wir bedürfen, von der Art sind, daß der Freund sie uns ohne Ungemächlichkeit erweisen, oder ohne uns in Verlegenheit zu setzen und uns im mindesten zu beleidigen, verweigern kann; wenn wir in den Umständen sind, ihm gelegentlich wieder gleiche Gefälligkeiten zu erweisen, wenn niemand so gut als er von der Lage der Sache, von der Sicherheit, mit welcher er unsre Bitten zu gewähren vermag, überzeugt ist, oder wenn unser ganzes Glück auf Verschweigung einer Sache beruht; wenn wir uns keinem andern sicher, ohne Gefahr und Schaden anvertraun, von keinem andern Hilfe erwarten dürfen, und wenn wir dann gewiß wissen, daß unser Freund dabei nichts verlieren, keiner Gefahr ausgesetzt sein kann. In allen diesen und ähnlichen Fällen würden wir gegen das Zutraun sündigen, da wir ihm schuldig sind, wenn wir ihm unsre Verlegenheit verschwiegen.


13.


Etwas von dem, was ich über das Verhältnis unter Eheleuten gesagt habe, findet auch bei Freunden statt, nämlich, daß man sich hüten muß, einander überdrüssig zu werden oder durch zu öftern, zu vertraulichen Umgang widrige Eindrücke zu veranlassen. Zu diesem Endzwecke wähle man dieselben Mittel, die ich bei jener Gelegenheit vorgeschlagen habe. Man sehe sich nicht so übermäßig oft, daß die Gesellschaft unsers Freundes aufhört Wohltat, daß sie anfängt, etwas Alltägliches für uns zu werden, daß wir zu genaue Bekanntschaft mit den kleinen Fehlern des Freundes machen, deren jeder Mensch mehr oder weniger hat, die auch nicht so sehr auffallen, wenn man nicht immer miteinander lebt, die aber bei manchen Stimmungen und Launen auf die Länge von nachteiliger Wirkung sein können. Diese Vorsicht ist noch nötiger in der Freundschaft als in der Ehe, da in jener nicht, wie in dieser, andre Rücksichten und der Gedanke, daß[218] man nun einmal auf die ganze Lebenszeit miteinander zu Freude und Leid, zu gemeinschaftlicher Ertragung und um ein Leib und eine Seele zu sein, vereint ist; da, sage ich, dieser Gedanke und manches andre Band der Liebe in der Freundschaft wegfällt, folglich die Beständigkeit derselben von feiner Schonung abhängt. Es ist wahr, daß jene unangenehmen Eindrücke bei edeln und verständigen Menschen nicht von Dauer sind und daß es nur eines Zwischenraums von wenig Tagen bedarf, um uns wieder die Augen zu öffnen über den Wert und Vorzug unsers Freundes vor andern mittelmäßigen Leuten, mit denen wir indes gelebt haben; allein besser ist es doch, wenn dergleichen Empfindungen gar nicht in unser Herz kommen, und das kann man ja ändern. Man verbanne daher auch aus dem Umgange mit Freunden jene pöbelhafte Vertraulichkeit, jenen Mangel an Höflichkeit und jene Nachlässigkeit im Äußern, wovon ich im dritten Kapitel dieses Teils, besonders in dessen viertem Abschnitte geredet habe, und lege endlich auch dem Freunde keine Art von Zwang auf, verlange nicht, daß er sich nach unsern Launen, nach unserm Geschmacke richten, noch daß er den Umgang solcher Leute, gegen welche wir eingenommen sind, fliehn solle.

Ebenso wichtig aber ist es auch, sich den Umgang mit geliebten Personen nicht so sehr zum Bedürfnisse zu machen, daß man ohne sie durchaus nicht leben zu können glaubt. Wir sind auf dieser Welt nicht Herr über unser Schicksal. Man muß sich gewöhnen, Trennungen durch Tod, Entfernung und andre Umstände zu ertragen, und wenn man ein Gut besitzt, sich mit dem Gedanken gemeinmachen, daß man dies Gut auch verlieren könne. Ein weiser Mann baut nicht seine Existenz auf das Dasein eines andern Wesens.


14.


Bleibe aber immer, auch in der Entfernung, ein warmer Freund Deiner Freunde, sonst scheint es, als habest Du aus Eigennutz, um den Genuß ihrer Unterhaltung zu schmecken, Dich an sie geschlossen. Sei nicht so nachlässig im Briefwechsel mit ihnen, als[219] wohl manche Menschen es sind. Wie leicht ist nicht ein Zettelchen beschrieben! Wer hat so viele Geschäfte, daß ihm nicht täglich wenigstens eine Viertelstunde frei bliebe? Wie erfreulich für einen entfernten Freund und wie wohltuend für uns selbst können aber nicht oft ein paar zärtliche, tröstliche Zeilen sein. Ich lasse auch die Entschuldigung nicht gelten, daß man zuweilen lange Zeit hindurch gar nicht gestimmt sei, seine Gedanken in Ordnung auf das Papier zu bringen. Briefe an den Vertrauten unsers Herzens sind keine rednerische Ausarbeitungen; jedes Wort wird ihm willkommen sein, das Abdruck dessen ist, was in unsrer Seele vorgeht, und auf diese Weise wird uns ja die Trennung von geliebten Personen erträglich.


15.


Man sieht zuweilen Menschen ebenso eifersüchtig in der Freundschaft wie in der Liebe sein. Das zeugt mehr von einer neidischen als von einer zärtlichen Gemütsart. Freuen soll es uns, wenn auch andre Leute den Wert dessen zu schätzen wissen, der uns teuer ist; freuen soll es uns, wenn unser Liebling noch außer uns gute Seelen findet, denen er sich mitteilen, in deren Gemeinschaft er reine Wonne schmecken kann. Er wird darum nicht blind gegen unsre Vorzüge, nicht undankbar gegen uns werden – und würden wir denn dadurch mehr innern Wert bekommen, daß wir ihm die Augen über die Vortrefflichkeiten andrer zuhielten?
[220]

16.


Alles, was Deinem Freunde angehört, sein Vermögen, sein bürgerliches Glück, seine Gesundheit, sein Ruf, die Ehre seines Weibes, die Unschuld und Bildung seiner Kinder – das alles sei Dir heilig, sei ein Gegenstand Deiner Sorgfalt und Deiner Schonung. Auch Deine heftigste Leidenschaft, Deine unmäßigste Begierde müßte diese Unverletzlichkeit respektieren!


17.


Gaben, Anlagen und die Art, seine Empfindungen an den Tag zu legen, sind bei den Menschen verschieden. Nicht immer ist derjenige der Gefühlvollste, welcher am mehrsten von innern Regungen und Empfindungen schwätzt, nicht immer derjenige der treueste und beharrlichste Freund, der mit dem heftigsten Feuer uns an seine Brust drückt, der mit der größten Hitze hinter unserm Rücken sich unsrer annimmt. Alles Überspannte taugt nicht, dauert nicht; ruhige, stille Hochachtung ist mehr wert als Anbetung, Verehrung, Entzückung. Man verlange daher nicht von jedem denselben Grad von äußern Freundschaftsbezeugungen, sondern beurteile seine Freunde nach der fortgesetzten, immer gleichen Zuneigung und treuen Ergebenheit, welche sie uns in der Tat ohne Übertreibung und ohne Schmeichelei beweisen. Leider aber klassifiziert unsre Eitelkeit mehrenteils den Wert der Menschen nach dem Grade der Huldigung, welche sie uns leisten, und die mehrsten Leute suchen solche Freunde um sich her zu versammeln, an deren Seite sie in doppelt vorteilhaftem Lichte erscheinen und denen ihre Worte Orakelsprüche sind.


18.


Werbe nicht ängstlich um Freunde. Mache nicht Jagd auf jeden guten Mann, daß er Dir besonders zugetan werden soll. Jede Art von Andringlichkeit, wäre sie auch noch so gut gemeint, pflegt in dieser Welt Verdacht zu erwecken, und wer in der Stille auf dem Pfade fortwandelt, den Redlichkeit und Klugheit bezeichnen, und dabei ein wohlwollendes, zur Mitteilung gestimmtes Herz in[221] seinem Busen trägt, der bleibt nicht unbemerkt, nicht unaufgesucht; er findet planlos ein paar Edle, die ihm die Hand zum brüderlichen Bunde reichen.


19.


Es gibt Menschen, die gar keinen vertrauten Freund, sondern nur Bekannte haben; entweder weil ihnen der Sinn für dies Seelenbedürfnis fehlt oder weil sie keinem lebendigen Wesen trauen oder weil ihre Gemütsart kalt, unverträglich, verschlossen, eitel oder zänkisch ist. Andre sind aller Welt Freunde; sie werfen ihr Herz jedermann vor die Füße, und deswegen bückt sich keiner, greift niemand darnach, es aufzunehmen. – Lasset uns zu keiner von beiden Klassen gehören!


20.


Auch unter den vertrautesten Freunden können Irrungen entstehn, Mißverständnisse eintreten. Wenn man darüber Zeit verstreichen läßt oder zugibt, daß sich dienstfertige Leute hineinmischen, so erwächst daraus nicht selten eine dauerhafte Feindschaft, ja, eine Feindschaft, die mehrenteils um so heftiger wird, je zärtlicher, je vertrauter die Verbindung gewesen, und je ärger man sich also hintergangen glaubt. Es ist wahrlich ein trauriger Anblick, auf diese Weise zuweilen die edelsten Seelen gegeneinander empört zu sehn. Dringend rate ich daher, bei dem ersten Schatten von Unzufriedenheit über irgendein Betragen des Freundes nicht säumen, ohne Zutun eines Dritten, auf Erläuterung zu dringen. Da pflegt alles sehr bald verglichen zu werden, vorausgesetzt, daß kein böser Wille obwaltet, wie man es denn bei gutgesinnten, wohlwollenden Freunden voraussetzen muß.


21.


Wie aber, wenn uns nun Freunde täuschen, wenn wir nach einiger Zeit wahrnehmen, daß unser gutes Herz uns irregeleitet, uns an Menschen gekettet hat, die unsrer nicht wert sind? – Meine Leser! Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß wir mehrenteils[222] selbst daran schuld sind, wenn wir bei näherm Umgange die Menschen anders finden, als wir sie uns anfangs gedacht haben. Parteiische Gefühle, Sympathie, Ähnlichkeit des Geschmacks, der Neigung, feine Schmeichelei, Seelendrang in Augenblicken, wo jeder uns ein Wohltäter scheint, der nur einige Teilnahme an unserm Schicksale zeigt – diese und andre dergleichen Eindrücke lassen uns von den Menschen, denen wir unser Herz schenken, solche Ideale fassen, die nachher unmöglich wahrgemacht werden können. Wir denken sie uns engelrein und sind nachher viel unduldsamer gegen diese unsre Lieblinge als gegen fremde Leute, sobald wir menschliche Schwachheiten an ihnen gewahr werden, indem wir daraus eine Ehrensache für unsre Klugheit machen. Spannet Eure Erwartung, Eure Meinung von Euren Freunden nicht zu hoch, so wird Euch ein menschlicher Fehltritt, den sie in Augenblicken der Versuchung begehen, nicht befremden, nicht ärgern. Habet Nachsicht! Ihr bedürft deren vielleicht selbst bei andern Gelegenheiten. Richtet nicht, damit auch Ihr nicht gerichtet werdet! – Und was für Recht hast Du denn auch über die Moralität Deines Freundes? Was ist er Dir anders schuldig als Treue, Liebe und Dienstfertigkeit? Wer hat Dich zum Sittenrichter über ihn bestellt? – Suche einen vollkommnen Mann auf dieser Erde, und Du kannst hundert Jahre alt werden und noch immer vergebens umherrennen.

Vor allen Dingen aber soll man sich hüten, jedem elenden Geschwätze, womit böse oder schwache Menschen zum Nachteile unsrer Freunde unsre Ohren erfüllen, Glauben beizumessen. Leute, die heute mit einem Manne, den sie bis in den Himmel erheben, ihren letzten Bissen teilen würden, und morgen, wenn irgendein altes Weib ihnen ein ärgerliches Märchen aufgehängt hat, denselben zu dem verächtlichsten Betrüger herabwürdigen; Leute, die einen vieljährigen, geprüften Freund, auf Angabe des niederträchtigen, unwürdigen Pöbels, einer ihm schuld gegebenen Schandtat fähig halten können – wäre auch alle Wahrscheinlichkeit auf seiten der Verleumder – solche wankelmütigen, elenden Lumpenseelen verdienen nur Verachtung, und der Verlust[223] ihrer Freundschaft ist barer Gewinst. Der Anschein ist oft sehr trüglich; man kann Veranlassungen haben, es können Notwendigkeiten eintreten, die es uns unmöglich machen, gewisse zweideutig scheinende Schritte zu erläutern; aber daß ein bewährter, edler Mann keine schlechte Handlung begangen habe, davon bedarf es gar weiter keines Beweises als dessen, daß ein edler Mann nie eine schlechte Handlung begeht.


22.


Wenn denn nun aber wirklich unser Freund sich so moralisch verschlimmert, oder unser leichtgläubiges Herz sich in einem solchen Grade in seinem Zutrauen zu ihm betrogen, daß er unsre Vertraulichkeit gemißbraucht, uns mit Undank belohnt hätte nun, so hört er auf, unser Freund zu sein; ich meine aber, er behält doch nicht mehr und nicht weniger Rechte auf unsre Duldung als jeder andre, uns fremde Mensch. Ich halte es für eine falsche Delikatesse, an welcher mehrenteils die Eitelkeit, indem wir uns ungern wollen geirrt haben, ihren Feil hat, wenn man glaubt, man müsse nun von einem solchen Verräter immer mit großer Schonung reden, weil er einst unser Freund gewesen. Das einzige, was uns bewegen kann, seiner zu schonen, ist der Gedanke, daß überhaupt das menschliche Herz ein schwaches Ding ist und daß man leicht zu weit in seinem Widerwillen geht, wenn eine Art von Rache sich in unser Urteil mischt. Von der andern Seite aber macht der Umstand, daß der Mann uns betrogen, sein Verbrechen auch nicht um ein Haar breit größer, berechtigt uns nicht, ärger gegen ihn zu Felde zu ziehn als gegen jeden andern Schelm, der andre Menschen und überhaupt die Tugend betrügt.[224]

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Frankfurt a.M. 1977, S. 206-225.
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Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

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Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

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Große Erzählungen der Hochromantik

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Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

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