53. [16.]

[368] Es ist eine sehr unangenehme Lage, wenn das Gefühl der Dankbarkeit mit dem Eifer für Gerechtigkeit, mit strenger Wahrheitsliebe, oder mit der Sorgfalt für das Wohl des Ganzen in Zusammenstoß kömmt.[368] Allein dann muß die untergeordnete Pflicht der höhern weichen; und der handelt nicht undankbar, der, aus Erkenntlichkeit gegen Individuen, nicht zum Verräther an dem gemeinen Wesen werden, nicht aus niedriger Gefälligkeit gegen einen Bösewicht, der einst sein persönliches Interesse befördert hat, zu dem Unrechte schweigen will, wodurch Tausenden Uebles zufließt. In eine nicht ganz so unangenehme Lage, die doch aber auch nicht wünschenswerth ist, wird man versetzt, wenn Leute, die man nicht schätzen kann, Menschen von geringem geistigen und moralischen Werthe, sich uns mit Huldigung, Aufmerksamkeit und würklichen Dienstleistungen aufdringen und dadurch ein Recht auf dankbare Erwiedrung zu erzwingen suchen. Den Verlegenheiten der erstern Art kann man fast immer ausweichen, wenn man sich hütet, von Personen, die Verachtung verdienen, Wohlthaten anzunehmen,[369] und wenn man in allen Fällen sich den Ruf erwirbt, da, wo es Wahrheit und Recht gilt, alle persönlichen Rücksichten bey Seite zu setzen. In den Fällen der andern Art aber wird brüderliche Duldung uns zu Erwiederung jeder unschuldigen Gefälligkeit und Höflichkeit, auch gegen weniger achtungswerthe Leute, bewegen. Man muß ja mit so Manchen leben, den man sich nicht grade zum Freunde wählen würde und das Bewußtseyn, daß wir vielleicht besser sind, als Andre, befreyet uns noch nicht von der Verbindlichkeit, gesellige und moralische Pflichten gegen sie auszuüben, in so fern diese Pflichten nicht mit höhern Obliegenheiten streiten.

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Adolph Freiherr von Knigge: Ueber Eigennutz und Undank. Leipzig 1796, S. 368-370.
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