17.

[370] Die allgemeinste Art von Undank und dessen wir Alle uns wohl, mehr oder weniger, schuldig machen, ist der Undank gegen[370] den liebreichen Schöpfer der Natur. Der Zweck des Daseyns aller lebendigen Geschöpfe ist der: Glück und Freude zu finden in der Welt; Alle können diesen Zweck erreichen und das, was vernünftige Wesen wahrhaftig glücklich macht, liegt fast allein in ihnen und ist nicht abhängig von äussern Umständen, noch fremdem Willen, in so fern sie nur richtige Begriffe von Glück haben und zweckmäßige Mittel ergreifen, um dazu zu gelangen. Gegen die zahlreichen Freuden, die der Weise und Tugendhafte schmecken kann, ist die Summe der unvermeidlichen Leiden sehr geringe, und selbst diese wird er vergessen, wenn er, durch Betrachtung der Vollkommenheit des unermeßlichen Ganzen, seinen Geist erhebt und sein Herz erwärmt. Man rechne einmal von der Anzahl der Ungemächlichkeit und Widerwärtigkeiten des Lebens diejenigen ab, die wir uns selbst, durch Einbildung, durch Vorurtheile, durch[371] eitle, thörichte Wünsche, durch unnützer Weise vervielfältigte Bedürfnisse des Luxus, der Eitelkeit, der Weichlichkeit und der Unmäßigkeit erschaffen – wie viel bleibt übrig, das einer Klage werth wäre? Wo ist der Mensch auf Erden, der, gänzlich ohne seine Schuld, oder Veranlassung, (sey es nun durch grobe Vergehungen, oder Unvorsichtigkeit) endlos elend geworden wäre und keine Hülfe hätte finden können? Ich gestehe es offenherzig, daß mir, der ich doch viel harte Schicksale erlebt habe, noch nie etwas würklich Unangenehmes begegnet ist, (Hierunter rechne ich aber nicht die Entbehrung des Reichthums und solcher unerwarteter Glücksfälle, die freylich Manchem zu Theil werden, worauf aber eigentlich kein Mensch gegründeten Anspruch machen kann) ich sage, daß mir nie etwas wahrhaftig Unangenehmes begegnet ist, wozu ich nicht auf irgend eine Weise, durch Mangel an[372] weisem Betragen, Veranlassung gegeben hätte, und daß ich dasselbe bey allen den unglücklichen Begebenheiten wahrgenommen, die ich andre Leute habe erleben gesehn. Allein wir pflegen dann, um ein Recht zu erhalten, undankbare Klagen gegen die Vorsehung auszustoßen, nur unsre Enthaltung von groben Vergehungen in Anschlag zu bringen. Der Mensch, der mit einem kränklichen Körper zu kämpfen hat, macht sich groß damit, daß er nicht durch wilde Ausschweifungen seine Gesundheit zu Grunde gerichtet habe; von der Vernachlässigung einer einfachen, seiner Constitution gänzlich angemessenen Lebensordnung hingegen schweigt er. Wenn ein Andrer darüber winselt, daß er von seinen Eltern, Statt eines großen Vermögens, nur Schulden geerbt habe; so vergißt er, sich zu fragen: was für ein Recht denn wohl überhaupt ein Mensch haben könne, von der Wiege an, ohne Arbeit und[373] Mühe, das zu besitzen, was andre bessere Leute erst im Schweisse ihres Angesichts erwerben müssen? Und wenn ein Dritter die widrigen Vorfälle aufzählt, die ihm begegnet sind; vergißt er in die andre Wagschale die Menge angenehmer Begebenheiten zu legen, die ihm unverhofft, unverdient, ja! oft dann begegnet sind, wenn er durch unkluge Aufführung vielleicht das traurigste Schicksal verdient gehabt hätte. In einer Welt, in welcher der Schöpfer nicht unaufhörlich Wunder würken will, muß jedermann die Folgen seiner Handlungen tragen. Wie weit, in der großen Kettenreihe der Ursachen und Würkungen, diese Folgen reichen werden, das läßt sich nicht bestimmen; daß aber durch kleine Vergehungen sehr große Uebel herbeygeführt werden können, das weiß jedes verständige Wesen und muß jene vermeiden, wenn es diesen ausweichen will. Noch einmal also! die Summe der[374] gänzlich unverdienten, würklichen, unabhelflichen Leiden in der Welt ist klein und selbst zu Hebung und Erleichterung dieser hat der liebreiche Urheber der Natur für Mittel gesorgt. Kein unschuldig gekränkter, von Unglück niedergebeugter Mann bleibt lange gänzlich verlassen, ohne von dem Mitgefühle andrer guten Menschen Beystand und Trost zu erhalten. Wer von uns hat nicht schon an sich selbst die Erfahrung gemacht, daß in Augenblicken, wo Muth und Hofnung auf immer zu verschwinden droheten, auf einmal die Hülfe von einer Seite her erschien, von welcher man sie gar nicht hatte erwarten dürfen? Wer dergleichen Erfahrungen wegraisonniren will, der thut seiner eignen Seelenruhe den größten Schaden. Dazu kömmt dann noch die wohlthätige Stimmung aller menschlichen Gemüther, durch welche sie nichts so leicht vergessen, als überstandenen Schmerz, da hingegen die Erinnerung[375] an froh verlebte Tage und die Erwartung eines bevorstehenden Vergnügens, der Einbildung fast eben so viel Wonne gewähren, als der würkliche Genuß; auch ist es wahr, und ich habe das oft an mir bestättigt gefunden, daß selbst der heftigste Schmerz einen gewissen Grad nicht überschreiten kann, die Stuffen der Freude aber unzählich sind; und endlich, daß ohne alle Abwechselung mit Leidens-Empfindungen und Entbehrungen, uns kein Vergnügen schmackhaft seyn würde.

Wenn zu diesem Allen nun noch die Ueberlegung kömmt, daß wir doch unmöglich bloß für die kurze Reihe, halb im Schlafe und in sorgloser Kindheit dahineilender Jahre geschaffen seyn können, folglich in einer bessern Zukunft die gütige Vorsehung uns reichlich für die kleinen unbedeutenden Plackereyen dieses spannenlangen Lebens entschädigen kann; wo ist dann Elend?[376]

Wie undankbar handelt also nicht der Mensch, der mit unaufhörlichen Klagen den Himmel bestürmt! Und doch jammern mehrentheils grade diejenigen am heftigsten über Unglück, denen nichts Widriges begegnet, als daß nicht alle ihre thörichte Wünsche nach eingebildetem Glücke erfüllt, nicht alle ihre unersättliche Begierden und unnütze Bedürfnisse befriedigt werden. Aber schlaget solchen Leuten, wenn sie andre Menschen beneiden, vor, mit diesen grade auf zu tauschen; und sehet zu, ob sie den Vertrag einzugehn bereit seyn werden! Ja! dort möchte ein Mann gern den Reichthum seines Nachbars besitzen; fraget ihn aber, ob er auch zugleich dessen Geiz, seine Dummheit, seine Feinde, oder seine Kränklichkeit, oder seine garstige alte Frau, mit übernehmen möchte? – Schwerlich wird er sich dazu verstehn wollen. Wer aber nicht willig ist, sein ganzes Wesen, nebst allen innern[377] und äußern Umständen, gegen die vollständigste Existenz irgend eines Andern zu vertauschen, der beweiset dadurch, daß er noch etwas zu besitzen glaubt, worauf er Werth setzt, und daß er folglich nicht ganz unglücklich ist.

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Ueber Eigennutz und Undank. Leipzig 1796, S. 370-378.
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