Drittes Kapitel

[91] Der Augenblick der Abreise war gekommen. Der junge Löwenstern brachte mir außer der verlangten Arzenei auch einen Pelzschlafrock, einen Tuchmantel mit Ärmeln, ein paar baumwollene Schlafmützen, ein Paar Stiefel und Gott weiß was sonst noch. Ich umarmte ihn und bat ihn nur, meine gute Frau von meinem Schicksal zu benachrichtigen. Er versprach es heilig. Die Tränen, die in seinen Augen standen, sind mir Bürge dafür, daß er Wort gehalten hat. Mit dem ganzen Feuer des ersten unverdorbnen Gefühls und mit dem ganzen Vertrauen auf andre Menschen, welches dieses Gefühl oft so täuschend einflößt, ergriff er die Hand des Hofrats und beschwor ihn, mich gut zu behandeln und mich den Versuch der Flucht nicht entgelten zu lassen. Der Hofrat benahm sich höflich, gerade so, wie er sich gegen meine Frau benommen hatte. Das gutmütige Kammermädchen, dessen Gestalt mir unvergeßlich ist, stand am Fenster und weinte. Herr Prostenius hatte das Seinige getan und ließ sich nicht weiter sehen; wenigstens habe ich ihn nicht bemerkt. Auch von den übrigen Bewohnern des Gutes kam mir niemand zu Gesicht. Der angespannte Karren stand vor der Herberge bereit; mein Wagen war auf der Station zurückgeblieben.

Ich wurde nun mit meinen Habseligkeiten auf den offnen Karren geworfen, von einer neugierigen Menge begafft und von einigen wenigen bedauert. Der Hofrat pflanzte sich neben mich, der Kurier hinter mich, und nach einer Stunde hatten wir die Station auf der Witebskischen Grenze wieder erreicht.

So endigte sich der Versuch zu einer Flucht, zu der ich,[92] von allen Seiten betrachtet, vollkommen berechtigt war. Solange ich hoffen durfte, nach Petersburg zu einer Untersuchung geführt zu werden, so lange war es gewissermaßen Pflicht gegen mich selbst, dieser Untersuchung nicht auszuweichen, weil eine frühere Flucht ein falsches Licht auf meine Unschuld geworfen haben würde. Auch konnte der Kaiser berechtigt sein, in seinen Staaten durch strenge Vorsicht aller möglichen Unruhe vorzubeugen, und ich ehre die Rechte der Regenten. Sobald ich aber wußte, daß weder meine Papiere noch meine etwa erweisliche Unschuld hier in Betracht kamen, sondern daß die härteste aller Strafen der Untersuchung vorhergehen sollte – welches göttliche oder menschliche Recht konnte mir auferlegen, mich als einen Gefangenen zu betrachten?

Die dicke Posthalterin auf der Grenz-Poststation schien eine große Freude über meine Wiederergreifung zu empfinden. Sie hatte, wie sie sagte, bereits einen Boten an das zunächst im Quartiere stehende Regiment abgesandt und erwartete jeden Augenblick einen Haufen Soldaten, der mich suchen helfen sollte. In Zukunft, riet sie dem Hofrat, ja immer des Nachts eine Wache zu dingen. Eins ihrer Pferde war durch sein ewiges Hin- und Herfahren sehr angegriffen worden; es blies und drohte umzufallen. Das wurde die gute Frau jetzt erst gewahr. Nun ließ sie ihren ganzen Grimm an mir aus, und ein Strom von Scheltworten, bald russisch, bald deutsch, ergoß sich über mich. Vielleicht würde ich ihr zu einer andern Zeit das Schelten verboten haben; jetzt war es ein Mückenstich für einen Menschen, der auf der Tortur liegt. Nur ein bittres Lächeln entschlüpfte mir einige Mal. Dadurch wurde sie aber noch aufgebrachter,[93] und ich glaube, sie würde sich endlich an mir vergriffen haben, wenn der Hofrat sich nicht ernstlich ins Mittel gelegt hätte. Indes hatte ihr Geschrei eine Menge Bauern herbeigelockt; es waren ihrer wohl dreißig, die neugierig gaffend die Stube füllten und die Luft darin verderbten. Der Hofrat jagte plötzlich sie alle hinaus und bat auch die Posthalterin, ihn mit mir allein zu lassen. Ich stutzte; aber ich erschrak nicht mehr. Ich empfand eine gewisse Entschlossenheit, wie nur die Verzweiflung sie gibt.

Als wir allein waren, sagte er mir sehr höflich, ich möchte es ihm nicht übel nehmen, wenn er eine etwas strengere Maßregel gegen mich gebrauchen müsse. In diesem Augenblick dachte ich an Ketten, und fast sinnlos griff ich mit der Hand nach meiner Schere, um sie mir in die Brust zu stoßen. Er erklärte sich aber bald deutlicher. Ich hatte einen kleinen, mit Leder überzogenen Kasten bei mir, der allerlei Notwendigkeiten enthielt. Den Schlüssel zu diesem sollte ich ihm abgeben und all mein Geld, wie auch was ich etwa noch sonst in den Taschen hätte, da hineinlegen. So oft ich, sagte er, Geld brauchte, würde er es mir, ohne sich zu weigern, verabfolgen lassen; bei mir dürfe ich aber nichts tragen.

Ich wurde ruhiger und gehorchte; das Ausleeren der Taschen war mir ja nicht mehr neu. Ich gab Schlüssel, Geld, Schere, Bleistift, Papierschnitzel und was ich sonst in der Tasche hatte, auch meine Uhr willig her; und so war auch diese Expedition vollendet, ohne daß ich auch nur eine Silbe darum verloren hätte. Der Herr Hofrat geruhte selbst meine Taschen nochmals zu befühlen und verschloß darauf den Kasten sorgfältig. Das Leinewandsäckchen auf meiner Brust war seinen Nachforschungen[94] dennoch entgangen. Jetzt erst verstand ich meine Wohltäterin und segnete sie im stillen.

Indessen war alles wieder auf meinen eigenen Wagen gepackt worden, und wir fuhren weiter. Wie mir in den ersten Tagen unserer Reise zu Mute war, wage ich nicht zu beschreiben. Ich konnte weder essen noch trinken noch schlafen; und daß ich meinen Verstand nicht verlor, habe ich wahrscheinlich allein dem wohltätigen Rütteln des Wagens zu verdanken: denn so oft wir die Pferde wechselten oder sonst stillhielten, ergriff mich jedes Mal ein betäubender Schwindel. Ich war froh, wenn wir nur erst wieder fuhren; und auf den holperichtsten Wegen, auf Knüppelbrücken und Steindämmen fühlte ich mich am meisten erleichtert. Gesprochen habe ich in den ersten zwei Tagen nicht ein Dutzend Worte. »Nein!« war meine gewöhnliche Antwort auf jedes Anerbieten von Speise, Trank oder sonst dergleichen. In die Ecke des Wagens gedrückt, starrte ich vor mich hin; die Landschaften gingen ungesehen an mir vorüber; Wind, Kälte und Regen fühlte ich nicht. Meine Kräfte nahmen sichtbar ab: ich konnte nicht mehr ohne Hülfe des Kuriers aus oder in den Wagen steigen. Und wenn ich von ungefähr in einen Spiegel sah, erschrak ich vor meinem Gesichte.

Ich muß hier noch eines vergessenen Umstandes erwähnen. Am ersten Mittag nach meiner Wiederergreifung kamen wir in ein kleines Städtchen, dessen Name mir entfallen ist, von dem ich indessen weiß, daß es einem gewissen Starosten von Korf zugehört, der daselbst in einem antiken Schlosse residiert. Es war da kein Pferdewechsel; aber dennoch hielten wir auf seinem Schloßhofe. Er kam selbst herunter, lud den Hofrat sehr dringend[95] zur Tafel ein, empfahl seinen Leuten, den Kurier gut zu bewirten, und sprach zu mir nicht allein kein Wort und ließ mir auch weder zu essen noch zu trinken anbieten, sondern ließ vielmehr, damit ich, während meine Begleiter schmausten, ja in sicherer Verwahrung sein möchte, die Schloßtore verschließen und den Wagen von einem unverschämten herzlosen Haufen umgeben, der mich beständig angaffte und mir ins Gesicht lachte. So unbarmherzig wurde ich eine ganze Stunde lang zur Schau gestellt. Hierauf geleitete der Herr Starost seine wohlgenährten Gäste selbst wieder bis an den Wagen. Ein brennender Durst überwand mein empörtes Gefühl; ich bat um etwas zu trinken. Da ließ er mir ein Glas Bier geben, und wir fuhren weiter. Ich würde diese Anekdote gar nicht erwähnen, wenn ich nicht nachher in Riga erfahren hätte, daß Herr von Korf sich gerühmt, er habe mich an seiner Tafel bewirtet und mich überhaupt sehr menschenfreundlich behandelt.

Dem Hofrat schien bei meinem Zustande doch bange zu werden. Mitleid empfand er nicht, aber Furcht, seinen rühmlichen Auftrag nicht ganz vollenden zu können und dann vielleicht einiger Verantwortung ausgesetzt zu sein. Er suchte alles mögliche hervor, um mich zu beruhigen. Er wetteiferte mit dem Kurier, mir Tobolsk als eine der schönsten Städte in der Welt und die Lebensart daselbst als die fröhlichste, angenehmste vorzustellen. Die Empfehlungsgründe des Kuriers waren hauptsächlich die Güte und Wohlfeilheit aller Lebensmittel. »Welche Fische!« rief er, wie begeistert: »die besten Sterlette zu zehn Kopeken, für welche die Leckermäuler in Petersburg ebenso viele Rubel bezahlen. Und Zeterino, welch ein Zeterino! Fleisch, Brot, Branntwein,[96] alles in Überfluß!« Der Hofrat fügte noch einige andre Gründe hinzu, die etwas mehr Eindruck auf mich machten. »Sobald Sie dort ankommen,« sagte er, »sind Sie frei, gänzlich frei, können gehen und kommen, wann und wohin es Ihnen beliebt; können sich mit der Jagd belustigen, dürfen im ganzen Gouvernement umherfahren, sprechen und umgehn, mit wem Sie wollen. Von Tobolsk aus dürfen Sie auch an den Kaiser, an Ihre Frau, kurz an jedermann schreiben. Sie können Ihre Domestiken und was Sie sonst nötig haben, nachkommen lassen und leben, wie es Ihnen gefällt. Auch finden Sie in Tobolsk Bälle, Maskeraden und ein vortreffliches Theater.«

Ich lächelte wider meinen Willen und fragte nur, ob er mir dafür stehen könne, daß die Korrespondenz dort völlig ungehindert sein werde? Er schwor es mir auf seine Ehre; und diese Versicherung gab mir wirklich den ersten Hoffnungsstrahl.

»Aber,« dachte ich bei mir selbst: »werde ich auch wirklich in Tobolsk bleiben? ... Irkutsk ist noch 3000 Werste weiter. Mit eben dem Rechte, mit welchem der Kaiser mich nach Tobolsk schickt, kann er mir auch den Aufenthalt in Irkutsk anweisen.«

Ich will alles sagen: bei dem rastlosen Hin- und Hersinnen nach der Ursache meiner Verbannung war mir auch eingefallen, daß ich vor zehn Jahren ein Schauspiel Graf Benjowsky geschrieben habe. Als es im Druck erschien, sandte die verstorbene Kaiserin Katharina einen geheimen Befehl an den Gouverneur von Reval, mich unter der Hand, und ohne sich seinen Auftrag merken zu lassen, zu befragen, aus welcher Absicht ich dieses Schauspiel geschrieben hätte. Es geschah. Ich antwortete natürlich:[97] die Geschichte des Grafen Benjowsky habe mir ein guter Stoff zu einem Schauspiele geschienen und sei auch schon vor mir durch Herrn Vulpius dazu benutzt worden.

Dabei blieb es; und die große Monarchin hat sich, wie vorauszusehen war, nicht weiter darum bekümmert.

»Sollte vielleicht,« flisterte der Argwohn mir zu, »der Kaiser den Stoff dieses Schauspiels anstößig finden und noch zehn Jahre hinterher eine vielleicht zu lebhafte Darstellung der Leiden eines Verbannten an mir durch ähnliche Leiden bestrafen wollen?« In diesem Falle mußte ich mich auf eine Reise nach Kamtschatka gefaßt machen, welches von Irkutsk abermals 6000 Werste entfernt ist.

Der Hofrat schwor mir aber bei seinen Heiligenbildern und fügte ausdrücklich hinzu: er wolle eine Kanaille sein, wenn ich weiter als bis Tobolsk gebracht würde. Ich fragte ihn, wie er selbst so sicher davon überzeugt sein könne, da er doch vermutlich nur eine versiegelte Order an den Gouverneur bei sich habe und folglich nicht wisse, was sie enthalte. Er gestand zwar, daß die Order versiegelt sei, gab mir aber zu verstehen, daß er selbst sie geschrieben habe. »Ferner,« sagte er, »ist es gar nicht gewöhnlich, gleichsam einen Absatz in der Reise zu machen. Wären Sie nach Irkutsk bestimmt, so hätte ich selbst die Order bekommen, Sie dahin zu begleiten, wie ich schon mehrere dahin begleitet habe. Da aber mein Befehl und meine Podoroschne bloß auf Tobolsk lauten, so können Sie ganz ruhig sein. Sie fühlen auch wohl,« setzte er noch hinzu, »daß es nicht anständig für den Kaiser wäre, seinen Befehl zur Qual des Gefangenen gleichsam zu zerstückeln und ihm von[98] Distanz zu Distanz neue Martern zu bereiten. Die Sache wäre nicht rein« – nje tschisti war sein Ausdruck. Alles das leuchtete mir wirklich ein, und ich fing an, die Hoffnung zu fassen, daß ich wirklich nur nach Tobolsk bestimmt sei. (Wie viel ich auf diese Hoffnung und auf die Schwüre des Herrn Hofrats bauen konnte, wird der Leser in der Folge sehen.)

Was mich aber weit mehr als die Aussicht, in Tobolsk zu wohnen, beruhigte, war eine Erzählung des Hofrats. Er hatte nämlich etwa vor einem Jahre ein Frauenzimmer nach Sibirien bringen sollen und war mit ihr bereits bis unweit Kasan gekommen, als ein anderer Kurier ihn einholte und ihm, da das Frauenzimmer bei näherer Untersuchung völlig unschuldig befunden worden war, den Befehl überbrachte, augenblicklich umzukehren und sie wieder nach Hause zu ihren Kindern zu geleiten. Diese Erzählung erschütterte mich tief. »Ich darf also noch eine Untersuchung hoffen, wenngleich in meiner Abwesenheit? Ich darf hoffen, daß auch meine Unschuld erkannt werden wird?«

»Allerdings.«

»Und was sagte das Frauenzimmer? Wie betrug sie sich?«

»Sie rang die Hände, brach in Tränen aus und gab mir eine goldene Uhr.«

Meine Einbildungskraft hielt diese Vorstellung fest, und ich kann nicht beschreiben, welchen Trost sie mir gewährte. Immer sah ich die Frau vor mir, wie sie die Hände rang, wie sie weinte, wie sie die goldene Uhr mit Freuden aus der Tasche nahm; wie nun der Wagen umkehrte, dahinflog, ihrer Heimat näher und immer näher; wie sie endlich ihr Haus wieder von fern erblickte,[99] die Kinder am Fenster, die Kinder vor der Haustür; wie sie aus dem Wagen sprang, in ihre Umarmungen stürzte! Ja, der Mann hatte, ohne es zu wissen, den rechten Balsam ergriffen, der die Schmerzen meiner verwundeten Seele linderte.

Von diesem Augenblick an hoffte ich stündlich auf einen Kurier. So oft sich das Glöckchen, welches man in Rußland den Postpferden anzuhängen pflegt, hinter uns hören ließ, klopfte mein Herz gewaltsam. »Man wird,« dachte ich, »meine Papiere untersuchen; der gerechte Kaiser muß und wird mich unschuldig finden; schnell wird ein Kurier sich aufmachen, mir nachsetzen, mich einholen, und dieser Augenblick wird mir jedes Leiden dreifach vergüten.« Freilich bedachte ich nicht oder entfernte vielmehr den Gedanken, daß ich ja nicht wegen meiner Papiere, die noch keines Menschen Auge gesehen hatte, verbannt worden war, sondern daß eine andre frühere Ursache zu Grunde liegen mußte. Ich malte mir mit den lebendigsten Farben bloß das Bild des hinter mir her eilenden Kuriers. Ich berechnete wohl hundertmal, wie viele Tage meine Papiere gebraucht hätten, um von Mitau in Petersburg anzulangen, wie viele Tage dort ungefähr nötig sein möchten, um sie zu untersuchen. Und ich beschloß, die Reise so viel als möglich zu verzögern, daß der Kurier Zeit gewönne, mich zu erreichen.

Es war der dritte Tag, seitdem wir Stockmannshof verlassen hatten. Jetzt wollte ich zum ersten Male wieder essen und trinken. Mein Danziger Likör war von meinen Begleitern ausgetrunken und meine italienische Wurst verzehrt. Ein Bündel mit Brot, Butter und Kalbsbraten, welches Frau von Beyer vermutlich für mich mit[100] auf den Karren legen lassen, hatten sie auch schon längst zu sich genommen. Ich wünschte mir eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein; beides war aber nicht zu haben, und ich mußte mich mit ein paar frischen Eiern und einem Glase Wasser begnügen. Die Nächte waren sehr kalt, die Tage windig und kühl. Ich wollte den dicken Tuchmantel, den der junge Löwenstern mir geschenkt hatte, über meine Füße breiten; aber der Kurier hatte ihn sogleich zu seinem Eigentum gemacht und auch die Stiefel schon angezogen. Ich mochte ihm keins von beiden wieder abfordern. So ging es auf der ganzen Reise. Alles dessen, was mein war, bedienten sich meine Begleiter ohne Bedenken, als ob es das Ihrige wäre; und hatten sie es einmal genutzt, so gaben sie es auch gar nicht wieder her. Dies saubere Verfahren erstreckte sich sogar bis auf mein Geld. Wenn eine Kleinigkeit für mich zu kaufen war oder eine Wagenreparatur bezahlt werden mußte, so gab ich eine meiner Banknoten von fünfundzwanzig Rubeln. Sie wurde gewechselt, der Überschuß aber mir selten, wenigstens nie ganz, zurückgegeben. Weiterhin, da es dem Hofrat an Gelde zu fehlen anfing, borgte er auch oft bei mir. Und als ich zuletzt Schwierigkeiten machte, um mich nicht ganz zu entblößen, veränderte sich sein Betragen so auffallend, daß ich aus hundert Ursachen genötigt war, ihm nachzugeben. Alle Zehrungskosten mußte ich ohnehin tragen. Kurz, ob ich gleich auf der ganzen Reise nichts als Milch und Eier und dann und wann ein Stück Kalbsbraten genossen habe, so hat sie mir doch mehr als vierhundert Rubel gekostet, den Wagen ungerechnet. Milch und Eier wurden überdies meistenteils mit Gewalt zusammengetrieben. Ich bezahlte sie; meine Begleiter[101] steckten das Geld in die Tasche oder vertranken es in Branntwein, und die armen Bauern wagten es nicht, ihre Bezahlung zu fordern.

Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit der echten anspruchlosen Gastfreiheit der russischen Bauern zu erwähnen, welche immer sichtbarer wird, je tiefer man in das Reich kommt. Sie wetteifern miteinander, ihre Wohnungen zum Nachtlager anzubieten; sie finden sich geehrt, wenn man bei ihnen einspricht; sie tragen alles auf, was sie haben, und die Freude glänzt in ihren Augen, wenn man tüchtig zulangt. Ich erinnere mich noch einer Bauersfrau, die geschäftig herumtrippelte und ängstlich klagte: »Ach! Da sind nun unvermutet drei Gästchen gekommen, und ich habe nichts im Hause, sie zu bewirten!« Das Diminutivum, dessen sie sich bediente, um ihre Freude über unseren Besuch auszudrücken, entlockte mir ein Lächeln.

Als wir zum ersten Male wieder in einem Posthause übernachteten, sah ich vor dem Schlafengehen gewaltige Anstalten zur Versicherung meiner Person treffen. Es wurden Wachen ausgestellt, die Fensterläden verschlossen und mein Bett ganz dicht neben das Bett des Hofrats gesetzt. Der Kurier legte sich auf die Erde, so daß ich hätte über ihn wegschreiten müssen, um aus der Tür zu kommen. Diese Vorsicht wurde von nun an jeden Abend beobachtet.

Mein Bart war indessen zu einer fürchterlichen Länge herangewachsen. Ich wollte mich rasieren und forderte mein Barbierzeug. Es wurde mir verweigert und statt dessen zu einem Barbier geschickt. Vergebens sagte ich, daß ich seit vielen Jahren gewohnt sei, dies Geschäft selbst zu verrichten, und daß ich es unleidlich finde,[102] unter den Fäusten eines schmutzigen Dorfbarbiers zu ächzen. Vergebens stellte ich vor, daß, wenn ich Lust hätte, mich ums Leben zu bringen, ich ja nur bei der ersten Überfahrt über einen Fluß ins Wasser springen dürfe. Es half nichts; ich selbst durfte kein Rasiermesser in die Hand nehmen. Auch ließ der Hofrat sich den Wink wegen des Wassers nicht zweimal gesagt sein, sondern stellte sich von nun an bei Überfahrten immer dicht neben mich, um mich im Notfall von einem verzweifelten Sprunge abzuhalten.

Armer schwacher Mann! So weit reicht nicht einmal die Gewalt deines Kaisers. Nur ein Weg führt ins Leben, tausende führen hinaus, und keine Gewalt kann mich hindern, die Ketten zu zerbrechen, wenn sie mich erdrücken. Ich erinnere mich, (wenn ich nicht irre, im Raynal) gelesen zu haben, daß zuweilen gepeinigte Negersklaven ihre eigene Zunge im Munde umkehren, hinterschlucken und so augenblicklich ersticken. Welche Gewalt auf Erden vermag das zu hindern? Aber dem Himmel sei Dank! So weit ist es mit mir noch nicht gekommen. Das Samenkorn der Hoffnung liegt noch in der erstarrten Brust; ein einziger warmer Sonnenstrahl kann es wieder hervorlocken.

Polozk war die erste Stadt von einiger Bedeutung, welche wir erreichten, wo wir aber bloß die Pferde wechselten. Während dies geschah, schrieb der Hofrat seinen ersten geheimen Rapport nach Petersburg, mit der großen Nachricht, daß er seinen Gefangenen nun glücklich bis hierher gebracht habe. Diese Rapporte wiederholte er aus jeder Stadt, und sie waren es vorzüglich, die mich bewogen, ihn mit Vorsicht zu behandeln und ihm nicht leicht etwas abzuschlagen. Daß er meines Versuches[103] zur Flucht nicht erwähnen würde, davor war ich wohl ohnehin sicher. Er mußte befürchten, daß seine eigene Nachlässigkeit ihn um den angenehmen Dienst bringen könnte, in Zukunft Verbannte zu begleiten, sein Auge an der Trennung von ihren Familien, sein Ohr an ihren ersten Jammerklagen zu ergetzen. Aber es war doch möglich, daß er manches andre in den Rapport einfließen ließ, was mir nachteilig sein konnte. Und wer weiß, ob es nicht vielleicht dennoch geschehen ist, so geduldig ich mich auch von ihm habe rupfen lassen!

Daß er kein großer Geschäftsmann war, bemerkte ich bald an der Länge der Zeit, die er auf die wenigen Zeilen des Rapports verwendete, und aus der ängstlichen Sorgfalt, mit welcher er ein etwas schief geratenes Kuvert dreimal anders machte. Der Herr Hofrat war also zu nichts zu gebrauchen als zum Büttel, der die Verurteilten auf den Richtplatz schleppt. Dieses Amt verstand er aber auch meisterlich und hatte es, wie ich nach und nach erfuhr, schon sehr fleißig verwaltet: nur mit dem Unterschiede, daß er bis jetzt als Offizier bei dem Regimente gestanden, welches zum Dienste des Senats bestimmt ist, und daß man ihn bloß um der gegen mich beabsichtigten Expedition willen ins Zivil versetzt und zum Hofrat ernannt hatte. Warum man es gerade für notwendig gehalten, mir einen Zivilisten zuzugeben, ob man dadurch allen Anschein von Wache und Soldaten vermeiden wollen oder welche Ursache sonst zum Grunde gelegen haben mag: das weiß ich nicht. So viel ist gewiß, daß er sein Schergenamt zum ersten Male als Hofrat verwaltete und sich nicht wenig auf seinen Titel zugute tat. Auch auf mich hatte seine Transformation insofern einigen Einfluß, daß die Leute mich Gott weiß[104] für welche angesehene, höchst wichtige Person hielten, da sonst Männer meines Standes und auch wohl Generale ohne viele Weitläuftigkeiten mit einem Feldjäger in einem Kibitken versandt werden.

Auf dem Wege von Polozk nach Smolensk ergriff mich mein altes Übel, die Krämpfe im Unterleibe, sehr heftig. Es gesellten sich dazu noch andere Übel, die mir bisher fremd waren: ein unwillkürliches Zittern und Zucken der Glieder; eine Hitze, die mir bald in die Brust, bald in den Kopf stieg, mir auf der Brust ein sehr ängstliches Gefühl des Erstickens gab und im Kopfe ihre Gegenwart durch einen unbeschreiblichen Druck, durch Funken vor den Augen und Sausen vor den Ohren ankündigte. Dabei ging der Puls bald sehr langsam, voll und hart, bald sehr geschwind, klein, kaum fühlbar und ungleich. Appetit und Schlaf fehlten mir gänzlich. Zuweilen hatte ich aber eine Art von wachenden Träumen: ich glaubte einen Augenblick, Gegenstände zu sehen, die nicht außer mir da waren, und fuhr erschrocken zusammen, wenn ich meinen Irrtum bemerkte. Alles was ich dachte, war verworren und meine Vorstellungen ganz ohne Deutlichkeit: ein Umstand, der wenigstens dazu diente, jede Empfindung abzustumpfen. Der Gedanke an Frau und Kinder gab mir anstatt der bisherigen Wehmut gleichsam ein störrisches Gefühl, und der Gedanke an den Tod hatte seine Bitterkeit verloren.

Außer einem unbedeutenden Mittelsalze und dem auf Stockmannshof erhaltenen Cremor tartari hatte ich keine Arzenei bei mir. Alle die Rezepte, die ich von den berühmtesten Ärzten Deutschlands, Zimmermann, Selle, Marcard, Gall, Hufeland usw. seit vielen Jahren gesammelt hatte, waren mit meinen übrigen Papieren versiegelt[105] worden, so dringend ich auch gebeten hatte, daß man sie mir zurückgeben möchte. (Vielleicht hielt man sie für eine geheime Korrespondenz in Chiffren.) Ich hatte also unterwegs gar keine Hülfe. Und da ich bei dem Hoffnungsfunken, der noch in mir glimmte, mir doch Selbsterhaltung schuldig zu sein glaubte, so empfand ich eine Art von Vergnügen bei unserer Ankunft in Smolensk, wo ich einige Ruhe, Bequemlichkeit und einen Arzt zu finden hoffte.

Es war bereits spätabends. Der Hofrat, der sorgfältig alle Wirtshäuser vermied, ließ auch hier sogleich nach dem Posthause fahren: aber glücklicherweise konnte man uns daselbst nicht beherbergen. Und da ich ihm trocken erklärte, daß ich nicht weiter könne und wolle, so sah er sich genötigt, ein Wirtshaus zu suchen. Wir hielten vor einem ansehnlichen Hause. Der Wirt empfing uns mit zwei Lichtern, führte uns eine breite Treppe hinauf, in einen geräumigen Vorsaal, und es gewann das Ansehen, als ob wir hier endlich einmal sehr bequem ausruhen würden. Als nun aber der Wirt das uns bestimmte Zimmer aufschloß – lieber Gott, welch ein wüster Anblick! Eine große, hohe Stube, in welcher jeder Fußtritt widerhallte. Zerbrochene Fensterscheiben und, anstatt aller Möbel, ein einziger wackelnder Tisch und eine leere Bettstelle. Kein Stuhl, keine Bank, noch weniger ein Spiegel oder etwas dem Luxus Ähnliches. An den Wänden hingen die Fetzen von vormaligen Tapeten.

Ich sah mich frostig um, hielt es aber nicht der Mühe wert, eine Klage laut werden zu lassen, sondern forderte bloß ein wenig Heu auf die leere Bettstelle; und als ich das erhielt, warf ich mich stumm darauf nieder. Der[106] scharfe und kalte Nachtwind strich durch die zerbrochenen Fenster gerade auf mein Lager. Ich hatte außer dem geschenkten Schlafpelz und meinem Mantel nichts zur Bedeckung; Frost und Ungeziefer ließen mir die Nacht hindurch keinen Augenblick Ruhe. Als der Morgen anbrach, hatte ich ein starkes Fieber, das mich heftig schüttelte und dessen Glut mir dann wieder die Augen aus dem Kopfe zu drücken drohte. Ich erwartete mit Sehnsucht das Erwachen des Hofrats, um einen Arzt zu verlangen. Der Unmensch schlug mir dieses Begehren rund ab. Er meinte, die Ruhe werde mich ohne andere Mittel wieder herstellen, und ich könne, wenn ich Lust dazu habe, hier einen Tag verweilen. Der Kurier fügte hinzu, ich sollte nur brav essen und trinken; dann würde ich schon gesund werden. Essen und Trinken war ihm das Universalmittel gegen alle Krankheiten des Leibes und der Seele.

Ich war von diesem grausamen Verfahren so indigniert, daß ich meinen Henker bloß durch ein verachtendes Schweigen bestrafte. Das Anerbieten, mich einen Tag in diesem öden Kerker verweilen zu lassen, lehnte ich ab und erklärte, daß ich lieber unter freiem Himmel auf der Landstraße sterben wollte. Ich wurde also die Treppe halb hinunter getragen und in den Wagen gehoben, der nun weiterfuhr. Da ich mir unterwegs einige Mal ein Glas Rheinwein zur Erquickung gewünscht, so hatte der Hofrat in Smolensk eine Bouteille für mein Geld gekauft. Sie kostete zwei Rubel, und es war kein Tropfen davon zu genießen. Sie mußte endlich ausgegossen werden. Denn meine Begleiter tranken keinen Wein, sondern nur Branntwein.

Zwischen Smolensk und Moskau verschlimmerte sich[107] mein Zustand so sehr, daß ich meistenteils in einem dumpfen Hinbrüten lag und an allem, was um mich vorging, weiter keinen Teil nahm. Wenn ich meine damaligen Empfindungen deutlich beschreiben soll, so kann ich sie bloß mit den Empfindungen eines Menschen vergleichen, der in einer dicken Finsternis erwacht, sich vergebens besinnt, wo er sei, um sich her tappen will, damit er seinen Aufenthalt erkunde, dann aber plötzlich fühlt, daß er an Händen und Füßen gebunden ist. Nur dann und wann leuchtete mir sekundenlang das Bild meiner guten Frau durch diese Dunkelheit. Es war kein Blitz, sondern ein sanfter Strahl, der bloß meine Augen auf sich zog, mir aber die Gegenstände umher nicht erhellte.

Der Hofrat schien es sich endlich selbst nicht länger verhehlen zu können, daß mein Zustand gefährlich sei. Er hatte manche Aufmerksamkeit für mich und versprach mir von freien Stücken, mir einen Arzt zuzuführen, so bald wir in Moskau angekommen sein würden. Fast war mir jede Hülfe jetzt gleichgültig geworden, und hätte nicht meine fieberhafte Einbildungskraft zuweilen meine Frau mit unsren Kindern bittend um mich her gestellt: ich würde dem Tode als einem lange erwarteten Freunde in die Arme gelaufen sein.

Am 7ten Mai nach altem Stil, vormittags, kamen wir in Moskau an. Der Hofrat hütete sich abermals vor den Wirtshäusern und führte mich durch die unansehnlichsten, übel bebautesten Straßen in eine Hütte, welche einer seiner Freunde und Kameraden, ein gewisser Major Maximow, bewohnte. Dieser Mann hatte nichts als eine kleine Stube mit einer noch kleineren Kammer und teilte beides überdies mit einem Fähnrich. Da nun noch[108] drei Personen hinzukamen, so kann man sich denken, welche Bequemlichkeit diese Wohnung mir gewährte. Der Major indessen, der zwar ebenso roh, aber doch weit gutmütiger schien als der Hofrat, tat alles, was in seinen Kräften stand, mir meine Lage zu erleichtern. Er räumte mir sein eigenes Bett ein, ließ mir eine Hühnersuppe kochen und bewirtete mich mit dem lange entbehrten Kaffee. Ich warf mich auf sein hartes Soldatenlager und genoß wirklich einen Augenblick Linderung.

Als ich meine Augen geschlossen hatte und man glaubte, daß ich schliefe, teilte der Hofrat seinem alten Kameraden seine bisherigen Schicksale mit, und ich hatte das Vergnügen, zu hören, daß der Major ihm zwar zu seinem Avancement Glück wünschte, ihm aber gradeheraus sagte: er möchte doch nicht an seiner Stelle sein; das Amt, welches er da verwalte, sei ein schlechtes Amt. Der Hofrat ließ sich das nicht anfechten, sondern antwortete, wie ich blinzelnd gewahr wurde, bloß durch ein Lächeln seiner Nasenfalten, stand dann auf und begab sich in die heiße Badstube, um jedes Gefühl, das sich etwa noch bei ihm regen mochte, durch die Schweißlöcher abzutreiben.

Vergebens wartete ich indessen von einer Stunde zur andern auf den versprochenen Arzt. Er kam nicht und sollte auch nicht kommen; denn als ich endlich meinen Peiniger an sein Wort erinnerte, versetzte er mit Achselzucken: er dürfe mir diese Bitte nicht gewähren; sie laufe gegen seine Instruktion.

»Sie sind also angewiesen, mich hülflos sterben zu lassen?«

Er meinte: ich würde nicht sterben; ich sollte nur mehr essen und trinken.[109]

Ich schwieg, an jeder Hülfe für meinen entkräfteten Körper verzweifelnd. Gehe es wie Gott will, dachte ich, wenn ich nur wenigstens meine letzten Wünsche, meine letzten Verordnungen und mein Lebewohl an Frau und Kinder noch zu Papiere bringen kann!

Das Verlangen, mein Testament zu machen, war jetzt das einzige, was sich noch in meiner Brust regte und wovon ich eine deutliche, bestimmte Idee hatte. Da ich aber leicht voraussehn konnte, daß der Hofrat mir noch weniger einen Notarius als einen Arzt bewilligen würde, so sagte ich ihm, ich wolle das heilige Abendmahl genießen, und forderte einen Prediger. Aber auch den verweigerte er mir hartnäckig.

Vergebens führte ich ihm zu Gemüt, daß, wenn er sich auch um das Heil meiner Seele wenig bekümmere, er doch wenigstens bedenken solle, daß ich ein Mann sei, der verwickelte Geldgeschäfte habe; daß ich dieselben notwendig vor meinem Tode regulieren müsse, wenn meine unschuldige Familie nicht darunter leiden solle; daß der Kaiser doch gewiß meine Frau und Kinder nicht habe strafen wollen; daß das Recht zu testieren ein heiliges Recht sei, welches man sogar einem überwiesenen Verbrecher selten verweigere. Alles umsonst! Ich predigte tauben Ohren.

»Nun denn,« sagte ich, »so wird mir doch wenigstens vergönnt sein, einige Zeilen, die Sie selbst lesen mögen, an meine Frau zu schreiben. Sie haben es ihr versprochen und mir selbst dieses Versprechen unterwegs mehrere Male wiederholt.«

Er bedachte sich einen Augenblick und bewilligte endlich diese letzte Bitte. Ich schrieb fünf Zeilen; sie enthielten nichts von meinem jammervollen Zustande,[110] sondern nur eine liebevolle Ermahnung zur Standhaftigkeit und zur Selbsterhaltung für unsere vaterlosen Kinder. Ich übersetzte das Briefchen dem Hofrat, versiegelte es und übergab es ihm. Er bat in meiner Gegenwart den Major, es auf die Post zu schicken, und ich war ruhig. Aber einige Stunden nachher ergriff der Kurier einen günstigen Augenblick, mir zuzuflistern: das Briefchen sei bereits in der Küche verbrannt worden. Ich schauderte. Dieser Unmenschlichkeit hatte ich den Hofrat doch nicht fähig geglaubt. Bisher verachtete ich den Menschen, jetzt haßte ich ihn.

Indes fand ich, trotz seiner strengen Wachsamkeit, dennoch Gelegenheit, aus Moskau einen Brief an meine Frau abzusenden. Ich darf nicht sagen, wie mir das gelang, aus Furcht, einen gutherzigen Menschen zu kompromittieren. Gott segne ihn für sein Mitleid! Ich hoffe, meine liebe Christel habe die wenigen, flüchtig und ängstlich, unter Beobachtung von sechs Augen geschriebenen Zeilen richtig erhalten. Ich wurde betrogen. Sie hat sie nicht erhalten. Alexander Schülkins, dem ich trotz seiner Roheit mehr Gefühl zutraute als seinem Vorgesetzten, der sich durch ansehnliche Summen bestechen ließ und mir mit aufgereckten Fingern vor seinen Heiligenbildern schwor, den Brief zu bestellen, hat mich dennoch hintergangen.

Am 8ten Mai, gegen Abend, verließen wir Moskau, bei schöner, warmer Frühlingswitterung. Wir fuhren lange mitten in der Stadt an einer Birkenallee hin, die viel Ähnlichkeit mit den Linden in Berlin hatte und in welcher so wie dort an heiteren Tagen die schöne Welt zum Spazierengehen versammelt war: ein buntes Gewimmel von glänzenden Equipagen, schön geschmückten Damen[111] und leichtfüßigen Herren. Keine und keiner warf einen Blick auf den armen Autor, der vielleicht noch diesen Abend im Theater durch eins seiner Stücke sie amüsierte.

Ich weiß nicht, ob die eingetretene warme Witterung oder meine vollkommne Resignation, meine gänzliche Hoffnungslosigkeit schuld daran waren – denn auch nichts mehr hoffen, gewährt zuweilen Ruhe – genug, ich erholte mich, nachdem wir Moskau verlassen hatten, und gewann mit jedem Tage neue Kräfte. Nach und nach fing ich sogar an, mir selbst wieder Mut zuzusprechen und mich durch Beispiele aus der alten und neuen Geschichte zu trösten. Die neuere Geschichte besonders lieferte mir dergleichen in Menge. Ich dachte an Napper Tandy; aber er hatte doch wirklich bei den Unruhen seines Vaterlandes eine wichtige Rolle gespielt: und was hatte ich getan? Ich dachte an die Deportierten in Cayenne; sie mußten weit mehr, weit gräßlicher leiden als ich: aber sie hatten doch wirklich teil an der Verwaltung des zerrütteten Staates genommen; sie litten zwar mit Unrecht, aber doch wegen Meinungen, die sie wirklich geäußert hatten: welche Meinung hatte ich denn geäußert? So gesellte sich zu jedem dieser Trostgründe ein zweifelndes Aber. Und wenn ich mir gleich gestehen mußte, daß meine Leiden geringer waren, so hatte ich doch dagegen die Überzeugung, daß meine Unschuld klarer sei. Keine Qual ist marternder als der Zustand eines Menschen, der, wochenlang in sich selbst gekehrt, immer und immer an derselben Unglücks-Idee zerren muß; der sich vergebens bemüht, sich davon loszuwinden, und immer fester von ihr umschlungen wird, wie Laokoon von seinen Schlangen. So saß ich in meinem Winkel[112] – kein Mensch, der mir raten konnte – keiner, der mich trösten mochte – nicht einmal einer, dem ich klagen durfte. Der Kurier vertrieb sich die Langeweile entweder durch Singen oder durch den Schlaf. Sein gellender Gesang, den noch obendrein der Postillion oft akkompagnierte, war mir äußerst widrig; noch mehr aber die elenden Späßchen, durch die es dem Hofrat seinen Witz zu zeigen beliebte, die sehr oft wiederkamen und immer dieselben blieben. Wenn z.B. der Kurier schlief, so spielte jener ihm mit der Quaste seines Stockes so lange um die Nase, bis er erwachte; oder wenn er erwachte, so kitzelte er ihn mit dem Stockknopfe zwischen den Schultern; oder wenn ein hoher, steiler Berg kam, so rief er ihm zu: molodinka gora! (ein junges Berglein!) oder wenn es nur ein unbedeutender Hügel war: wot starucha! (siehe da, ein alter Berg!) und was dergleichen Armseligkeiten mehr waren, die besonders durch ihre Wiederholung unausstehlich wurden.

Man muß so wie ich immer den feinsten, ausgesuchtesten Umgang genossen haben, um zu fühlen, daß das Unangenehme meiner Lage durch eine solche Gesellschaft einen nicht geringen Zuwachs erhielt. Denn so oft auch der Hofrat versicherte, daß er ein wohlhabender Mann sei, der 500 Seelen besitze, so kann ich doch mit gutem Gewissen beteuern, daß er nicht eine halbe in seinem Vermögen hatte.

Die einzige Tugend, die ich zuweilen an ihm zu bewundern Gelegenheit fand, war eine Art von Tollkühnheit, mit welcher er jeder Gefahr trotzte, selbst dann, wenn er sie vermeiden konnte.

Es war bei einer kleinen Stadt, wenn ich nicht irre, heißt sie Wasilskoe, wo wir die Sura passieren mußten, welche[113] dort in die Wolga fällt. Die ganze Gegend umher war meilenweit überschwemmt; hin und wieder sah man die Spitzen der Bäume aus dem Wasser hervorragen. Im Sommer mag die Überfahrt unbedeutend und kurz sein; jetzt betrug sie vielleicht eine Stunde Weges. Wir kamen während eines heftigen Sturmes daselbst an. Der Prahm befand sich gerade nicht am diesseitigen Ufer, und wir mußten wohl einige Stunden warten, ehe man uns jenseits gewahr wurde. Endlich sahen wir den Prahm in Bewegung, und aus der Langsamkeit, mit welcher er sich unbeladen näherte, konnten wir berechnen, wie viele Zeit er beladen gebrauchen würde, um uns an Ort und Stelle zu bringen. Doch waren dieses Mal, wider die Gewohnheit, fünf Mann darauf, die aber sämtlich bei ihrer Ankunft erklärten, daß es kaum möglich sei, gegen den Sturm zu kämpfen, und uns rieten, da wo wir wären zu übernachten.

Der Hofrat bestand aber darauf, sogleich übergesetzt zu werden, und ich, der ich sonst eine fast unüberwindliche Furcht vor dem Wasser habe, stimmte diesmal mit einer Art von Trotz in sein Verlangen. Es war mir, als müßte ich das Schicksal herausfordern: versuch es einmal, mich noch unglücklicher zu machen als ich bin! Die Fährleute mußten einwilligen, da wir uns auf unseren Kurierpaß beriefen. Sie kreuzten sich auf Brust und Stirn, murmelten einige Mal ihr Gospodin pomilu! – Herr, erbarme dich unser! – und stießen vom Ufer. Anfangs ging es noch so ziemlich; denn wir fuhren eine Zeitlang im Schutze einer Landspitze, wo der Sturm nicht seine ganze Gewalt an uns auslassen konnte. Als wir aber höher hinauf kamen und freier um uns schauen konnten, da ergriff er uns mit Wut und fing sich noch obendrein in[114] meinem halben Wagen. Trotz allem Steuern, Rudern und verdoppelten Anstrengungen trieben wir unaufhaltsam von unserer Bahn ab, nach einem noch ziemlich entfernten, dem Anscheine nach niedrigen Gebüsche hin. Der Steuermann schrie aus Leibeskräften seinen Leuten zu. Die Leute ruderten aus Leibeskräften. Umsonst! Wir kamen dem Gebüsch immer näher. Ich konnte anfangs nicht begreifen, warum der Steuermann dies so sehr zu fürchten schien; denn, dachte ich, auf den schlimmsten Fall kann man doch da nicht ertrinken, höchstens stranden, und bei der Nähe der Stadt würde uns ja doch irgendjemand zu Hülfe kommen. Aber ich wurde meinen Irrtum bald gewahr, als der Sturm uns nun wirklich mitten in das vermeinte Gebüsch hineintrieb. Es waren nur die Wipfel hoher Bäume, und die längste Stange fand da keinen Grund.

Jetzt saßen wir fest; die Baumstämme unter dem Wasser hielten nämlich das Fahrzeug gegen den Sturm. Diese Lage war nicht allein sehr unangenehm, sondern auch, wie ich bald einsah, im höchsten Grade gefährlich. Denn erstens wurden die Zweige, mit welchen die Kähne aneinander befestigt waren, durch den Sturm heftig an den entgegenstehenden Baumstämmen gerieben und konnten unmöglich lange Widerstand leisten. Trennten sich aber die Kähne, so blieb uns nichts anderes übrig, als links und rechts in dieselben zu springen, und dann fiel der Wagen mit allen unsern Habseligkeiten ins Wasser. Indessen hätten wir durch diesen Fall doch unser eigenes Leben wahrscheinlich noch gerettet. Es ergab sich aber bald noch eine zweite, schlimmere Gefahr. Einer unserer Kähne nämlich saß vermutlich gerade auf dem Wipfel eines Baumes und wurde von demselben so schief gehoben,[115] daß der andre dadurch ins Wasser gedrückt wurde und die Wellen häufig hineinschlugen. Dadurch füllte sich der letztere immer mehr mit Wasser und sank immer tiefer, indessen der erstere immer höher stieg. Die vier Pferde, die mit auf dem Prahme standen, konnten sich kaum mehr halten, daß sie nicht hinabglitten, und wurden dadurch sehr unruhig; wir selbst mußten uns an dem Wagen festhalten. Es ist gewiß, daß diese Lage nur wenige Minuten dauern durfte, wenn sie uns nicht unfehlbar den Untergang bringen sollte.

Jetzt sah endlich der Hofrat ein, daß seine Verwegenheit ihr Ziel finden könne. Er war leichenblaß, ergriff wie der Kurier eine lange, mit eisernen Haken versehene Stange und stemmte sie mit Anstrengung aller Kräfte gegen den nächsten Baum. Zu gleicher Zeit ward Ruder und Steuer beiseite gelegt; alles bewaffnete sich mit Stangen, um nur, wo möglich, den Umsturz oder vielmehr das Sinken zu verhüten. Ich stand, in meinen Mantel gewickelt, an ein Wagenrad gelehnt, und nie hätte ich geglaubt, daß ich dem Tode mit solcher Fassung entgegensehen würde.

Es gelang endlich den vereinten Bemühungen, den Prahm durch die Stangen von den Baumgipfeln abzuhalten; ja, wir schoben uns auf diese Weise sogar ein wenig weiter aufwärts. Unser Ziel zu erreichen, war und blieb aber unmöglich. Verließen endlich – was doch bald geschehen mußte – die Arbeitenden ihre Kräfte, so befanden wir uns augenblicklich wieder in der vorigen Gefahr, und der Himmel weiß, ob wir ihr abermals entronnen sein würden, wenn man nicht zum Glück in der Stadt unsere Not gewahr geworden wäre. Es kam uns ein leichter Kahn mit vier Menschen zu Hülfe. Sie banden ihren[116] Nachen an den Prahm und sprangen zu uns herauf. Mit dieser Verdoppelung unserer Kräfte gewannen wir endlich nach drei mühseligen Stunden den Hafen.

Wenn ich aufgelegt wäre zu scherzen, so könnte ich sagen, ich habe wie Prinz Tamino in der Zauberflöte durch Feuer und Wasser gehen müssen, um in die Sibirischen Mysterien eingeweiht zu werden. Denn ein andermal erreichten wir in der Nacht einen Wald, der zu beiden Seiten des schmalen Weges heftig brannte.

Anfangs, als wir noch ziemlich weit von der brennenden Strecke entfernt waren, ergetzte mich dieses Schauspiel, das wirklich, besonders in der Dunkelheit, einen erhabenen Anblick gewährte. Als wir aber näher kamen und ich gewahr wurde, daß unser Weg gerade hindurch führte, erschreckte mich besonders die Neuheit dieser Gefahr. Lichterloh brennende Tannen hatten sich hier und da quer über den Weg an gegenüberstehende Bäume gelehnt; und so mußten wir gleichsam durch eine brennende Ehrenpforte passieren. Oft war – ein Umstand, den ich noch immer nicht begreife – etwa sechs Fuß hoch, von der Wurzel an gerechnet, das Inwendige eines Baumes in Brand, und nur die äußere unversehrte Rinde schien ihn noch zu halten. Er konnte jeden Augenblick stürzen. Endlich kamen wir sogar an eine große Fichte, die quer über dem Wege lag und mit allen ihren emporgestreckten, hell brennenden Zweigen die Straße geradezu versperrte. Was war zu tun? Zu halten schien hier ebenso gefährlich als weiterzufahren, vielleicht noch gefährlicher. Wir ermunterten also die schnaubenden Pferde aus allen Kräften, und sie setzten glücklich mit uns über den dünnsten Teil des brennenden Baumes. Gewiß war die glühende Strecke, welche wir auf diese[117] Weise zurücklegten, mehr als tausend Schritte lang. Ich habe während der Reise wohl hundertmal Wälder brennen sehen, doch nie wieder so nahe. Es werden nirgends Gegenanstalten getroffen; auch ist man, glaube ich, bei den unendlichen Wäldern eher froh darüber, daß das Feuer sich die Mühe nimmt, sie ein wenig zu lichten.

Wir hatten jetzt Wladimir und Nischni Nowgorod passiert. Eines Morgens, als wir in einem Dorfe übernachtet hatten und unsere Pferde eben wieder vorgespannt werden sollten, wurde ich heftig durch den wohlbekannten Klang des Postglöckchens erschüttert, welches mir von dem Moskowischen Wege her in die Ohren tönte. Ein Bauer, der über den Zaun in die Ferne sah, rief aus: »Ein Kurier!«

Ich stand eingewurzelt und zitterte heftig. Jetzt kam die Glocke immer näher – jetzt bog das Kibitken um die Ecke, und es war wirklich ein Kurier – aber auch er führte einen Unglücklichen nach Sibirien!

Ein ziemlich alter Mann in einem Schlafrocke und einer Schlafmütze stieg, mit Ketten belastet, aus dem Kibitken. Er war, wie ich nachher erfuhr, ein Obristlieutenant aus Rjasan, ein wohlhabender Mann, auch Gatte und Vater, den man wegen eines Wortwechsels mit dem Gouverneur mitten in der Nacht aus seinem Bette gerissen, gefesselt und im Schlafrocke auf den Wagen geworfen hatte, ohne ihm auch nur einmal zu erlauben, daß er Kleider und Wäsche mitnehmen durfte. Die Füße des alten Mannes waren von den ungewohnten Ketten geschwollen. Er konnte nicht gehen und schien überhaupt sehr krank. Ihn begleitete außer einem Unteroffizier ein Polizeibeamter aus Rjasan, ein Grieche von Geburt, der[118] gut Italienisch sprach und ein menschlicher, sehr aufgeweckter Mann zu sein schien. Er tat alles mögliche, das Schicksal seines Arrestanten zu erleichtern. Er nahm ihm in der Folge sogar die Ketten ab, die mein Hofrat, wie ich glaube, gern mir selbst angelegt haben würde. Überhaupt war er ein nicht ungebildeter Mann. Wegen seiner Munterkeit schien auch der Hofrat ihn in Affektion zu nehmen und verstattete ihm sogar, sich mit mir zu unterhalten, welches um so bemerkenswerter ist, da wir uns italienisch, folglich in einer Sprache, die mein Peiniger nicht verstand, unterreden mußten. Mir war es, ob ich gleich nur schwach in der italienischen Sprache bin, eine unbeschreibliche Wohltat, endlich einmal ein Wort mit einem vernünftigen Menschen sprechen zu können, da ich nun seit länger als drei Wochen ganz isoliert gelebt hatte.

Wir setzten unsere Reise von nun an mehrenteils gemeinschaftlich fort und trennten uns zwar bisweilen, fanden uns aber auch oft wieder zusammen. Der Obristlieutenant schien ein sehr sanfter, gesetzter Mann, der sich in seine üble Lage männlich fügte. In Rücksicht seines Begleiters war er weit glücklicher als ich. Ich mußte aber mir selbst gestehen, daß mein Zustand in jedem andern Stücke weit erträglicher sei als der seinige: denn er war entblößt von allem und hatte nur eben noch Zeit genug gehabt, eine Summe Geldes zu sich zu stecken, womit er sich aber freilich unterwegs weder Kleider noch sonst eine Bequemlichkeit verschaffen konnte. Dies vor meinen Augen befindliche solamen miserum wirkte einigermaßen auf mich. Ich nahm ein Beispiel an seiner gelassenen Ergebung und versuchte, es ihm gleichzutun. Da ich Tee und Zucker bei mir hatte, so erquickte ich ihn[119] zuweilen damit. Er lächelte mir dann so dankbar zu und schien so gern mit mir sprechen zu wollen; doch dieser Trost war ihm und mir versagt.

Ungefähr 80 oder 90 Werste von Kasan stießen wir auf eine Naturseltenheit, deren ich nicht umhin kann zu erwähnen. Es war ein Mann von hundert und dreißig Jahren. Sein Sohn war über achtzig alt, glich aber einem Manne von kaum fünfzig. Enkel und Urenkel hatte er ohne Zahl. Der Greis lag auf einer Bank und schlummerte auf einem harten Unterpfühl mit einem Kopfkissen. Er konnte wenig mehr sehen; die übrigen Sinne fehlten ihm aber nicht. Zuweilen ging er noch selbst in den Wald, um sich Baumrinde zu seinen Schuhen zu holen. Besonders auffallend waren mir seine Hände, die nicht wie sonst gewöhnlich entfleischt und runzelig, sondern voll und rund waren. Als er hörte, daß Gäste gekommen wären, forderte er sein Oberkleid, um aufzustehen, und bot mir, da ich ihm zunächst stand, sein Bett zum Lager an. Ich kann nicht beschreiben, wie mich das rührte. Ein Mann, der 1670 geboren war, wollte mir – einem fast hundert Jahre jüngeren Manne – sein Lager einräumen und die Nacht auf der bloßen Erde liegen! Ich konnte nicht satt werden, ihn zu betrachten, und trennte mich ungern von ihm. Gern hätte ich recht viel von seiner vormaligen Lebensweise erfahren, durch welche er ein so hohes Alter erreichen konnte. Aber die Leute waren so beschäftigt und ich selbst noch so fremd in der russischen Sprache, daß ich weiter nichts herausbrachte, als daß er selten Branntwein getrunken und spät geheiratet habe.

Auf der letzten Station vor Kasan holten wir einen gewissen General Mertens ein, einen Deutschen, den ich[120] vormals gekannt hatte. Er reiste nach Perm, wo er zum Vizegouverneur ernannt worden war. Wir trafen an der Wolga zusammen; und da auch hier die ganze Gegend weit und breit unter Wasser stand, so machten wir in Gesellschaft eine Überfahrt von mehreren Stunden. Er war der erste Mensch, mit dem ich wieder Deutsch sprechen konnte, der mich an die guten alten Zeiten erinnerte und meine Klagen teilnehmend hörte. Der Hofrat hatte vormals unter ihm gedient, bezeugte ihm noch immer viel Ehrfurcht und wagte es nicht, unser Gespräch zu stören. Von ihm erfuhr ich allerlei, was jetzt in der großen Welt vorging, doch wenig Tröstliches. Auch er war mit seinem Lose sehr unzufrieden. Als ein alter Generalmajor war er plötzlich, ohne sein Wissen oder Verlangen, in den Zivilstand versetzt und nach Perm, 2000 Werste von Petersburg, kommandiert worden. Der Posten eines dortigen Vizegouverneurs war für ihn kein Avancement, sondern vielmehr eine Art von Degradation. Überdies hatte er in Petersburg Frau und Kinder zurücklassen müssen, von welchen er mit vieler Zärtlichkeit sprach, wodurch er schnell mein Herz gewann. Ich will seine Geschichte sogleich vollenden. Die böse Laune des Glückes, die ihn nach Perm nicht viel besser als ins Exilium gejagt hatte, verwandelte sich plötzlich in eine holde Laune; oder vielmehr, das Glück hatte nur einen freilich etwas derben Scherz mit ihm getrieben: denn in Perm fand er seine Bestallung als Gouverneur von Twer vor sich, welches unweit Moskau liegt, einen ehrenvollen Rang unter den russischen Provinzen einnimmt, seinen Statthalter reichlich nährt und wohin er seine Familie leicht konnte nachfolgen lassen. Die Art und Weise, wie er dazu gelangte, war freilich etwas[121] sonderbar; indessen wohl ihm. Er ging per aspera ad astra; und wollte Gott, der Kaiser hätte mich von Mitau über Sibirien nach Petersburg führen lassen, wie gern würde ich die Marterkammer meines Gedächtnisses zerstören, in welcher meine Reisegeschichte aufbewahrt liegt!

In Kasan, wo wir des Abends ziemlich spät anlangten, flohen wir wie gewöhnlich die Wirtshäuser, und ich bekam von dieser merkwürdigen Stadt wenig oder gar nichts zu sehen. Der Hofrat hatte auch hier wieder alte Freunde, bei denen er sein Absteigequartier zu nehmen pflegte. Diesesmal geschah es in der wohl drei Werste von der Stadt entlegenen sogenannten Tatarischen Vorstadt, bei einem gewissen Leutnant Justifei Timofeitsch – der Zuname ist mir entfallen – einem Manne von wenigstens fünfzig Jahren und einem der gutherzigsten Menschen seines Zeitalters. Er war verheiratet, aber kinderlos. Durch die Freundschaft des Hofrats fand er sich sehr geehrt und empfahl sich alle Augenblicke in dessen hohe Protektion. Er war nicht reich; doch sowohl er als seine Frau bewirteten uns mit einer so herzlichen Willigkeit und gaben so gern, so reichlich, so oft alles, was sie hatten und auftreiben konnten, daß das Bild dieser guten rohen Menschen mir nie aus dem Gedächtnis kommen wird. Ihren Wünschen Genüge zu leisten – dazu hätte ein andrer Magen gehört als der meinige. Zwar kam ich wirklich mit einem ziemlich starken Appetit in Kasan an, denn die letzten Stationen vor dieser Stadt werden größtenteils von den unfreundlichen, schmutzigen und aller Gastfreundschaft Hohn sprechenden Tscheremissen, Tschuwaschen und Wotjaken bewohnt, bei denen man durchaus gar nichts erhält, ja[122] deren säuische Stuben man nicht einmal betreten kann. Aber dessenungeachtet würde ich ein weit stärkerer Esser als Sancho Pansa haben sein müssen, wenn ich alles das hätte verzehren wollen, was Justifei Timofeitsch mir vorsetzte. Des Morgens früh Kaffee mit Semmel und frischer Butter; eine Stunde nachher Piroggen (eine Art von kleinen Fleischpasteten) mit Branntwein; ein paar Stunden nachher wieder Branntwein, marinierte Fische, Wurst und dergleichen; dann das Mittagessen von vier derben Schüsseln; um drei Uhr Kaffee mit Zwieback; um fünf Uhr Tee mit allerlei Gebackenem und endlich wieder ein reichliches Abendbrot. Hilf Himmel, wie ließen es meine Begleiter sich schmecken! Sie brachten mich auf die Vermutung, daß ihr Magen einem Hamsterkopfe mit großen Backen ähnlich sein müsse und daß sie darin einen Vorrat für magere Zeiten verwahrten.

Hier schlief ich auch zum ersten Male wieder in einem guten Bette. Und wirklich würde der Aufenthalt in Kasan mich sehr erquickt haben, wenn nicht die zahllose Menge von Tarakanen – Blatta orientalis, im Deutschen auch Kakerlake genannt – alle jene leibliche Wohltaten mir größtenteils verbittert hätte. Man hat keinen Begriff von der unendlichen Anzahl dieser widerlichen Geschöpfe, welche in dem einzigen Zimmer hausten. Ich habe auch weder vor- noch nach her, selbst nicht in den schlechtesten Bauernstuben jemals wieder so viele beisammen gesehen. Sie liefen tausendweise an den Wänden und an der Decke herum, und diese Tausende vermehrten sich zu Millionen, sobald abends Licht in das Zimmer gebracht wurde. Ein Stück Brot auf dem Tische war in einem Augenblick von ihnen bedeckt. Den Tisch, auf[123] welchem man etwas essen oder trinken wollte, mußte man ja nicht unterlassen, vorher von der Wand abzurücken; denn sonst war es nicht möglich, sich ihrer zu erwehren. Und auch dann noch liefen sie an die Decke und ließen sich von da auf die Speisen herunterfallen. Am wenigsten waren sie noch den Schlafenden beschwerlich; und obgleich die Bettvorhänge voll von ihnen saßen, so habe ich doch nicht gespürt, daß sie mich gebissen hätten.

Wir blieben zwei ganze Tage in Kasan oder vielmehr in der Tatarischen Vorstadt. Ich hatte hier abermals Gelegenheit, ein (zwar nur mit Bleistift geschriebenes) Briefchen an meine Frau auf die Post zu schicken. Sie hat es nicht erhalten. Übrigens beschäftigte ich mich damit, die Materialien zu einem Mémoire an den Kaiser schriftlich zu entwerfen. Da mir alles Schreiben aufs schärfste verboten war, so wird man neugierig sein zu wissen, wie ich das angefangen habe.

Der Kurier hatte mir in Moskau mit Vorwissen des Hofrats einen Bleistift gekauft; ich gab vor, daß ich bloß die Entfernungen der Stationen voneinander damit notieren wollte. Ferner hatte ich mir in Moskau, um mich in der russischen Sprache zu üben, ein Wörterbuch in zwei Quartbänden angeschafft. Dieses war auf gutes Schreibpapier gedruckt und hatte an den Seiten, besonders aber unten, einen weißen, ziemlich breiten Rand. Auf diesen Rand nun schrieb ich alles, was mir einfiel. Ich benutzte dazu jeden Augenblick, in welchem der Hofrat mir nicht zur Seite war. Besonders gewährten mir einige notwendige Wagenreparaturen ein paarmal das Vergnügen, mehrere Stunden darauf verwenden zu können. Denn der Hofrat pikierte sich, ein Kunstverständiger zu sein,[124] und stand immer selbst in der Schmiede, solange an dem Wagen gearbeitet wurde. Auf diese Weise hatte ich schon manches unbemerkt niedergeschrieben, und itzt setzte ich diese Arbeit in einem mit Vorhängen rings umgebenen Bette fort, wo ich Licht genug hatte, ohne doch bemerkt werden zu können. Man meinte, ich sei der Ruhe benötigt, und störte mich nie. Ich hielt diese Arbeit jetzt schon für notwendig, besonders deshalb, weil ich der Versicherung des Hofrats, daß ich aus Tobolsk ungehindert würde schreiben können, nicht so recht traute und auf den Fall des Verbots wenigstens eine Gelegenheit wußte – nämlich Alexander Schülkins –, den fertigen Brouillon meiner Frau zu senden, die ihn dann ins Reine schreiben und an die Behörde befördern konnte.

Die übrige Zeit verfloß mir freilich in Kasan höchst langweilig. Ich saß meistens am Fenster, welches auf den Hof hinausging, und betrachtete meinen daselbst stehenden Wagen, wobei ich alle die Empfindungen gleichsam wiederholte, die mich nun seit länger als drei Wochen in seinem engen Bezirke gepeinigt hatten. Eine einzige kleine Zerstreuung gewährte mir ein sehr hübsches und junges tatarisches Weib, die Frau eines alten Tataren, der unter uns wohnte; nicht als ob ihre Jugend und Schönheit mich im mindesten interessiert hätten, sondern weil mir die tatarischen Sitten so neu waren. Ein tatarisches Weib oder Mädchen muß nämlich, so oft sie eine fremde Mannsperson gewahr wird, fliehen oder ihr Gesicht verhüllen. Nun hatte die arme junge Frau sehr oft etwas in einer Art von Vorratskammer zu schaffen, welche quer über den Hof, meinem Fenster gerade gegenüber, war. Wenn sie nun ihr Geschäft vollendet[125] hatte und mich am Fenster erblickte, so zog sie sich zuerst schnell zurück und wartete ab, ob ich das Fenster nicht bald verlassen würde. Dauerte ihr aber ihre Gefangenschaft zu lange, so bedeckte sie sich mit einem Tuche oder, wenn sie keins bei der Hand hatte, auch wohl nur mit den vorgehaltenen Armen, was ihr zuweilen sehr sauer wurde, da sie gewöhnlich allerlei geholt und folglich die Hände nicht frei hatte. Zuweilen versuchte sie es auch, sich des Zipfels von ihrem Halstuch zu bedienen. Dann geriet aber wohl gar ihr Busen in Gefahr, gesehen zu werden. Wenn sie diese Gefahr in aller Geschwindigkeit verhüten wollte, so fiel ihr etwas aus der Hand: sie mußte sich bücken, es aufzuheben; und siehe da! Gesicht und Busen standen indessen den ungeweihten Blicken offen. Es ist unmöglich, mehr Schamhaftigkeit mit mehr Koketterie zu verbinden als diese junge Frau; und zu einer andern Zeit würden mich ihre kleinen Künste sehr ergetzt haben.

Eine der erschütterndsten Empfindungen hatte das schadenfrohe Schicksal mir für den Augenblick unserer Abreise von Kasan aufgespart. Schon waren die Pferde vorgespannt und schon wollten wir von unserm gutmütigen Wirte Abschied nehmen, als der Kurier, der am Fenster stand, plötzlich ausrief: »Ein Senatskurier!« Mit diesen Worten riß er das Fenster auf, nannte den Kommenden bei Namen und fragte ihn: »Wen suchst du?« – »Dich!« war die Antwort. Ich selbst war ans Fenster gesprungen und sah den Kurier von einem Postbeamten begleitet. Was Wunder, daß meine Knie zitterten, daß mir Hören und Sehen verging! Alles eilte hinaus, dem Ankommenden entgegen. Ich hatte nicht das Herz, auch nicht die Kraft zu folgen; aber eine Hoffnung leuchtete mir heller[126] als jemals. »Ein Senatskurier, der uns aufsucht, dem ein Postbeamter unsere Wohnung zeigt: was kann er wollen? Was kann er bringen? Auf jeden Fall muß sein Auftrag mich betreffen – was werde ich hören!« –

Ach! Es war nichts. Zwei Senatoren befanden sich auf der Reise, um die sibirischen Gouvernements zu untersuchen. Der Kurier, den man ihnen zur Begleitung mitgegeben, hatte in Kasan unsere Anwesenheit erfahren und seinen alten Bekannten Schülkins aufgesucht. Ich wüßte mich in meinem Leben keiner so bittern Täuschung zu erinnern; auch währte es mehrere Stunden, ehe das Zittern aller meiner Glieder völlig nachließ. Seit diesem grausamen Augenblick gab ich die Hoffnung gänzlich auf, durch einen nacheilenden Kurier zurückberufen zu werden, und ich beschleunigte unsere Reise, die ich vorher verzögert hatte. Denn jetzt lag mir selbst daran, je eher je lieber an Ort und Stelle zu sein, teils um den ganzen Umfang meines Unglücks endlich übersehen, teils um desto früher an den Kaiser und an meine Frau schreiben zu können.

Wir verließen Kasan am 17ten oder nach unserm Stil am 29sten Mai und fanden von jetzt an überall noch viel Schnee in den Wäldern, ungeachtet der schon lange anhaltenden warmen Witterung. Der Weg von Kasan nach Perm beträgt nahe an 600 Werste und führt überall durch die fürchterlichsten Nadelwälder, in denen man kaum alle drei bis vier Meilen ein elendes Dorf findet. Die Straße ist zwar breit und ziemlich gerade durch die Wälder gehauen, aber größtenteils morastig und mit Baumstämmen belegt, welche einem das Herz aus dem Leibe zu rütteln drohen.

Hier trafen wir auch zum ersten Male große Haufen von[127] Verwiesenen an, die zum Teil paarweise aneinander gekettet waren und zu Fuß nach Irkutsk oder in die Nertschinskischen Bergwerke gingen. Es befanden sich auch einige junge Mädchen unter ihnen, und sie wurden von einer Schar bewaffneter Bauern zu Fuß und zu Pferde begleitet. Solche Verwiesene bringen auf ihrer Reise oft ein halbes Jahr, auch wohl länger, zu; ihre Wache wird auf jedem Dorfe abgewechselt. Sie bettelten uns an.

Ach, ob ich gleich in einem Wagen an ihnen vorbeifuhr, so war mein Zustand doch vielleicht schlimmer als der ihrige! Nur die Seele gibt den Maßstab der Leiden.

In Perm, wo wir ohne weiteres Hindernis ankamen, hatte mein Hofrat glücklicherweise keinen Bekannten. Auch nahm die Furcht vor meiner Entweichung nach und nach bei ihm ab, und wir quartierten uns daher bei einem Uhrmacher ein, der eine Art von Wirtshaus hält. Perm ist ein elender Ort; aber bei dem Uhrmacher, einem gebornen Rigaer namens Rosenberg, der vormals dem verwiesenen Prinzen Biron gedient hatte, befanden wir uns ziemlich wohl. Der Hofrat ließ mich hier öfters allein. Auch mein Reisekasten blieb jetzt meistens offen, und in einem dieser günstigen Augenblicke sonderte ich, ohne selbst recht zu wissen warum, noch hundert Rubel von meiner übrigen geringen Barschaft ab und verwahrte sie sorgfältig, recht, als ob es mir geahndet hätte, daß mein Begleiter hier den letzten Ausfall auf meine erschöpfte Kasse tun würde. Wenige Stunden nachher bat er mich um Geld. Ich schlug es ihm anfangs geradezu ab. Er wurde aber so unwillig, so bitter und ließ so manches bedeutende Wort von Rapporten fliegen, daß ich endlich meinen Kasten öffnete. »Sehen Sie,« sagte ich,[128] »hier sind noch 110 Rubel. Wie wenig für einen Menschen, der an einem völlig fremden Orte sich jedes Bedürfnis anschaffen und davon auch so lange leben soll, bis er seine Not fünfhundert Meilen weit in seine Heimat berichtet und von dort aus wieder Geld bekommen hat! Dessenungeachtet will ich noch einmal, zum letzten Mal, mit Ihnen teilen. Hier sind fünfzig Rubel. Mehr kann ich nicht entbehren; und wenn Sie damit nicht zufrieden sind, so mögen Sie tun, was Sie verantworten können. Aber auch ich kann klagen.« Die letzten Worte schienen ihm sehr aufzufallen. Er wurde geschmeidiger, nahm die fünfzig Rubel und fiel mir nachher in dieser Rücksicht nicht wieder beschwerlich. Übrigens aber schien er gerade die umgekehrte Maxime der Schiffer zu haben, die gewöhnlich im Anfange der Reise grob zu sein pflegen und je näher sie dem Hafen kommen, desto höflicher und freundlicher werden. Mein Hofrat wurde immer unfreundlicher, immer ungefälliger, je mehr wir uns dem Ziele der Reise näherten; vermutlich, weil er nicht mehr fürchtete, daß ich ihm entwischen könnte.

Von Perm nach Tobolsk hat man noch etwas über neunhundert Werste. Die Wege sind aber weit besser und die Gegenden weit freundlicher als zwischen Kasan und Perm. Man trifft gar keine dicke Nadelwälder mehr an, sondern meistens nur junges Birkenholz und dazwischen große Strecken des schönsten, angebauten Erdreichs mit üppigen Saaten. Wohlhabende Dörfer, bald russische, bald tatarische, liegen in geringen Entfernungen voneinander. Und wenn man es nicht wüßte, sollte man besonders an Sonn- und Feiertagen, wo alles von frohen Menschen wimmelt, wohl nie daran denken, daß man[129] in Sibirien sei. Auch die Häuser der sibirischen Bauern sind weit reinlicher und bequemer als die Häuser der übrigen Russen. Fast alle haben außer der gewöhnlichen Wohnstube (Isba) noch ein recht gutes Zimmer (Gornitza), wo man Fenster von Marienglas, einen mit einem Teppich bedeckten Tisch, reinliche Bänke, schön geschmückte Heiligenbilder und allerlei Hausgerät findet, welches man lange in den Bauernwirtschaften vermißte, z.B. Gläser, Tassen usw. Auch scheinen die Sibirier beinahe noch gastfreier zu sein als die Russen. Übrigens kann man sie sehr leicht an einem besondern Dialekt unterscheiden.

Nur an Werkeltagen wurde der Mangel an Bevölkerung immer sichtbarer. Denn wir fuhren oft meilenweit, ohne einem Menschen zu begegnen, und die öden Felder schienen gleichsam durch Zauberruten in ihren blühenden Stand versetzt zu sein. Nichts aber ist fröhlicher und munterer als das russische Landvolk an Feiertagen. Auf jedem freien Dorfplatze findet man einen Zirkel von rot und weiß oder blau gekleideten Mädchen, die einander bei den Händen fassen und zu ihrem eigenen Gesange tanzen, oder auch junge Burschen, die sich mit irgendeinem Spiele ergetzen. Das letztere ist indes seltener. Denn es schien mir, als hätten vielleicht die häufigen Rekrutenaushebungen in neueren Zeiten das junge Mannsvolk sehr vermindert: überall sah ich augenscheinlich mehr Weiber und Mädchen. Beide Geschlechter untereinander habe ich nie beim Spielen angetroffen. Kinder gab es in großer Anzahl, doch fast nur solche, die noch unter der vorigen Regierung geboren sein mußten. Überhaupt erinnerten sich die Bauern ihrer Matuschka (Mütterchen) – so nannten sie die verstorbene Kaiserin – mit vieler[130] Liebe. Vom jetzigen Kaiser sprachen sie nicht oder, wenn es geschah, nur mit furchtsamer Zurückhaltung.

Im Permischen Gouvernement trifft man nur noch eine einzige Stadt von Bedeutung: Jekaterinburg. Dort war es, wo der Hofrat endlich durch einen Zufall bemerkte, daß ich die weißen Ränder meines Wörterbuches fast ganz beschrieben hatte. Er erschrak, geriet in heftigen Zorn und wollte das Geschriebene vernichten. Ich setzte mich aber mit gleicher Heftigkeit dagegen. Er drohte, es dem Gouverneur von Tobolsk anzuzeigen. Ich sagte, das möge er immerhin tun; was ich geschrieben, sei der Entwurf eines Memorials an den Kaiser und er selbst hätte mich ja versichert, ich dürfe an den Kaiser schreiben. »Das hängt,« fuhr er heraus, »von den Instruktionen ab, welche der Gouverneur Ihretwegen vermutlich bekommen hat.«

»So?« versetzte ich: »also wußten Sie das nicht gewiß, trotz Ihren heiligsten Versicherungen? Also wissen Sie auch wohl ebenso wenig gewiß, ob ich bestimmt bin, in Tobolsk zu bleiben oder nicht, da es Ihnen doch zu sagen beliebte, Sie wollten eine Kanaille sein, wenn es nicht geschähe?«

Er wurde betreten, schwor aufs neue, daß er keine Order habe, mich weiter zu bringen, und vergaß über meine Vorwürfe Wörterbuch und Memorial; wenigstens sprach er nicht weiter davon. Aber in mein gequältes Herz hatte er einen neuen Stachel gedrückt. Ich wußte nun sicher, daß mein Schicksal noch unentschieden war und daß ich vielleicht den Kelch noch nicht bis auf die Hefe geleert hatte.

Quelle:
Kotzebue, August: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 91-131.
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Cardenio und Celinde

Cardenio und Celinde

Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.

68 Seiten, 4.80 Euro

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