[131] Der podagrische Sir John auf einem Stuhle mit Rädern, sein krankes bewickeltes Bein vor sich ausgestreckt – Liddy sitzt neben ihm und liest ihm die Zeitungen vor.
SIR JOHN. Auweh!
LIDDY. Schon wieder Schmerzen?
SIR JOHN. Nicht anders als ob ein Pulk Baschkiren in jedem Fußzeh wirtschaftete.
LIDDY. Armer Vater!
SIR JOHN. Gute Liddy!
LIDDY. Wer doch helfen könnte!
SIR JOHN. Auch dieser Wunsch ist Arznei. Du bist ja das einzige Geschöpf hier im Hause, das meinen kranken Körper pflegt, und meine kranke Seele mit einem guten Wunsche erquickt.
LIDDY. Nicht doch! –
SIR JOHN. Ja doch! ja doch! Sieh, ich gebe dir das Zeugnis vor Gott, du bist der einzige Trost meines kränklichen Alters.
LIDDY. Sie vergessen, daß Sie Söhne haben.
SIR JOHN. Söhne? Nun ja. Ich Tor murrte mit der Vorsicht, als mir vor achtzehn Jahren eine Tochter geboren wurde. Söhne wollt' ich haben, Söhne! rasche flinke Bursche! die, dacht' ich, sind leichter versorgt, helfen sich besser durch die Welt – ja, ja, sich helfen sie durch, und lassen den armen kranken Vater im Stiche. Da ist der Samuel.
LIDDY. Seine vielen Geschäfte –
SIR JOHN. Pfui! Dankbarkeit gegen Vater und Mutter soll sein das erste Geschäft eines Kindes. Samuel ist ein Schleicher; und der Robert –
LIDDY mit vieler Teilnahme. Nun der Robert, lieber Vater?
SIR JOHN. Dein Auge glüht, wenn ich ihn nenne. Nun ja der Robert ist besser als sein Bruder, aber er ist ein Wildfang.[131]
LIDDY. Er liebt Sie so zärtlich.
SIR JOHN. In einer Entfernung von tausend Meilen hab ich den Henker von seiner Liebe. Da kreuzt er auf unbekannten Meeren, von einem Weltteil zum ändern, indessen mir das Podagra durch alle Glieder kreuzt.
LIDDY. Wahrlich nur um Ihrentwillen läßt er sichs sauer werden. Vielleicht kommt er nun bald zurück. Ich sehe jeden Morgen nach der Windfahne, und wenn er nun mit einer reichen Ladung zurückkehrt, wenn er unsere Armut in Wohlstand verwandelt – – sehn Sie, lieber Vater, das vermag ein Sohn, die Tochter muß zu Hause sitzen, kann nichts tun, als ihren kranken Vater pflegen.
SIR JOHN. O das ist mehr, als wenn mir Robert die Leckerbissen beider Indien zuführte. Gute Liddy! wenn dein sanftes Auge so teilnehmend mit mir spricht; ich kann dir nicht beschreiben, wie wohl das tut. – Du denkst wohl manchmal, der Vater schlummert, wenn ich so mit geschlossenen Augen auf meinem Sessel sitze? – Nein Liddy, der Vater betet für dich!
LIDDY. Wie süß belohnend ist dieser Augenblick! Sie küßt seine Hand. Ihren Segen mein Vater! – Sie kniet nieder an seinem Stuhl.
SIR JOHN legt die Hand auf sie. Gott segne dich! und möchte die Natur mir nur noch so lange das Leben fristen, um diesen meinen herzlichen Vatersegen in Erfüllung gehen zu sehen. Gott segne dich!
LIDDY. Und meinen Bruder Robert –
SIR JOHN. Auch ihn! –
LIDDY. Und meinen Bruder Samuel –
SIR JOHN. Ich fluch ihm nicht.
LIDDY. Aber Ihren Segen –
SIR JOHN. Er hat den Segen der Mutter.
LIDDY. Lieber Vater!
SIR JOHN. Nun wohl denn! ich segne ihn! aber nicht als Vater, sondern als Christ. Steh auf.
LIDDY. Unseliger Parteigeist in einer so kleinen Familie.
SIR JOHN. Wer trägt die Schuld! deine Mutter! Wer quält mich armen Mann vom Frühstück bis zum Abendbrot? Wer wirft mir meinen unverschuldeten Bankerott bei jedem kargen Bissen vor? Wer verachtet meine gute bürgerliche Herkunft und brüstet sich mit deutschen Ahnen? Wer läßt mich darben? Wer schwatzt unsern Mietsleuten das Geld ab, und[132] verpraßt die schmalen Einkünfte, welche der Besitz dieses Hauses mir noch übrig ließ? Hast du es gehört, wie ich gestern abend um eine Pfeife Knaster, und eine Kanne Porter bat? – Samuel fuhr mit deiner Mutter in die Komödie, und ich mußte meinen Appetit verschlummern.
LIDDY. Bester Vater! es soll Ihnen heute an nichts mangeln.
SIR JOHN. Gute Liddy! Möchte doch irgendein braver wohlhabender Mann dich kennen, wie ich dich kenne! möcht er dir seine Hand bieten! Dann zog ich mit zu dir, und ließe mich von dir zu Tode füttern Etwas leise auf die Tür gegenüber deutend. der fremde Mann scheinet Wohlgefallen an dir zu finden.
LIDDY betroffen. An mir?
SIR JOHN. So scheint es. Nun er ist nicht jung mehr, aber bieder, und dein Herz ist ja frei?
LIDDY verlegen. Mein Herz ist frei.
SIR JOHN. Sieh, das wäre eine Versorgung für deinen alten Vater. Nun wir wollens der Zeit, und dem Schicksal anheimstellen. – Auweh! da zieht mirs schon wieder von der Fußsohle bis in den Schenkel.
LIDDY. Das viele Reden greift Sie an Das Zeitungsblatt ergreifend. soll ich fortfahren.
SIR JOHN. Tue das. Vielleicht gelingt es mir, ein wenig zu schlummern.
LIDDY. Aber täten Sie denn nicht besser, wenn Sie sich nach Ihrem Zimmer fahren ließen? Hier ist ja ein ewiges Laufen, ein ewiges Türenschlagen, bald hier bei uns, bald dort auf der Seite der Fremden.
SIR JOHN. Nein Liddy, ich bleibe hier im Vorsaale, denn dort keift mir deine Mutter den Schlaf vor den Augen. Was ists denn nunmehr? Laß sie laufen und Türen schlagen, so viel sie wollen; man kann sich an alles gewöhnen, nur nicht an die Stimme eines zänkischen Weibes.
LIDDY liest. Paris den 16. Januar.
SIR JOHN. Oder noch besser liebe Liddy! setze dich an dein Klavier, spiele oder sing mir was vor, dabei entschlummert man so süß.
LIDDY. Recht gern. Sie setzt sich, ans Klavier und spielt oder singt so lang, bis sie sieht, daß der Alte eingeschlafen ist, dann steht sie auf. Er schläft! sanft sei deine Ruhe, und heiter dein Erwachen! Nun geschwind! – Tom wird schon lange auf der Lauer stehen. Sie schleicht an ein Fenster und[133] winkt und pstet. Er versteht mich schon. Sie kommt zurück und sucht aus ihrem Nähbeutel ein paar fertige Manschetten vor. Wenn nur die Mutter mich nicht überrascht oder Samuel, der mißtrauische Frager Nach dem Vater schielend. oder wenn gar der Vater erwachte – o weh! – da wär ich in schöner Verlegenheit.
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