Der 10. Gesang

[32] Als er nach seiner Zurükkunfft aus York, des Constantinens Krönungsstadt, di gegen ihn unter Gottes Nahmen theils zugesandte, theils gemeingemachte allerschwereste Rothische Gesichte des 1675. und 1676. Jahres sehr traurig überwog, zu London 1676. und zu Bromly bei Boo 1677.


1.

Schau, Vater, her! du kennst allein mein Hertz!

Wi lange sol sich mehren Angst und Schmertz?

Besuchstdu mich mit solchen Prüfungsplagen?

Komm, Jesus, komm um meine Last zutragen.


2.

Ich bin bestürtzt, wann ich daran gedenk!

Das Auge thränt, wohin ich mich auch lenk!

Di Lipp erblasst! Mein gantzer Leib erschüttert!

Ist wohl ein Glid, das nicht darob erzittert?


3.

Ward dis Gesicht auf dein Gebot geschikkt?

Ists dein Befehl? mein Sinn ist gar verrükkt!

Verstokkstdu, Gott, mich nach der Pharonsweise!

Mein Geist und Blutt verwandeln sich zu eise!


4.

Hauptschwere zeit! Durchaus verwirrte welt!

Wem war vor mir dergleichen dargestelt?

Ich bin versucht von aussen und von innen.

Drum möchte blutt, nicht blosse thränen rinnen.


5.

Ist dis dein Wort? Welch jammervoller stand?

Ists aber nicht? wi wirds von mir verbannt?

Wo dis von dir, wi kan mein thun bestehen?

Ach woltestdu, das ich sol untergehen?


6.

Von Kindheit auf ward ich schon hochbedrängt!

Das Elendsfeur hat mich nur stets versengt!

Das Teufelvolk begehrt auf mich zudraben!

Was ist der Mensch? ein Anflug höllscher Raben.
[33]

7.

Welch widriges (Ach Jesus!) wird vermerkt?

Ich werd in dir, wi vormals, neu bestärkt!

Kein Zeitblikk ist di Lichtwelt mir entrissen!

Das Christusthun bleibt feste mein beflissen!


8.

Wi offt ward mir verfälschtes aufgelegt?

Manch Eifer ward aus Eifersucht erregt!

Gedult (du weists!) besigte Streit und Zanken!

Ich wuchs und wuchs und hatte dir zudanken!


9.

Was grosses ward mir neulich zugesagt,

Als mir erschin, der dir so hoch behagt,

Dein selger Böhm, um klärlich anzuzeigen,

Ich würde dis, was er noch nicht, ersteigen.


10.

Welch wunder war, was kurtz darauf geschach?

Du führtest mich zu einem Gnadenbach,

Wo auf Befehl vil musten meiner warten!

Dann konte ich wi Wachs in dir erharten.


11.

Wi wunderlich erfuhr ich, was dein will?

Ich gab mich dir und hilt in allem still.

Dein junger Baum, nach deinem offenbahren,

Fing aus dem Kern des altens rauszufahren.


12.

So bald drei Heer, und Stände vorgebildt,

Ja Noachs zeit durch hundert Tag erfüllt,

So muste gleich dein rechter Zwekk bekleiben,

Und mächtiglich mich zu der Wurtzel treiben.


13.

Ich ward und ward zum rechten weg gerafft!

Du schenktest mir auch täglich neue Krafft!

Was du gewollst, das wolt ich mir erwehlen,

Und mich mit dir in deiner Braut vermählen.


14.

So ists, so gings! Ich stund auf festerm Fus,

Weil du mit mir vollzogen deinen Schlus![34]

Es blib und blib dem Freund und Feind verborgen,

Weil ichs verbarg, und lis dich selbsten sorgen.


15.

Das Lichtesvolk umschwirrte Platz und Haus:

Di Höll erschrakk und sah ihr würken aus.

Di Engelschafft di muste Uns geleiten,

Und unter Uns der Hände paar zerbreiten.


16.

Wiwohl Betrug durch Falschheit Uns umfasst:

Doch half uns Gott, der unser Wirth und Gast.

Di tifste List, di sich auf Uns verschworen,

Verfil mit schmach, eh si an Tag gebohren.


17.

Vil hindernis gab mir zwar manchen stos

Zum grösten nutz: doch eh diselbe gros,

So wolstdu si, Herr Tsebaoth, zerschellen,

Und stissst di drei, wi drei volbracht, zur Höllen.


18.

Drauf führtestdu, mein Vater, mich zum Port!

Du sätztest mich nach deinem Worte fort.

Dort bellten Hund', hir nannten mich Hyänen,

Doch musten si darmit mich schöner krönen.


19.

Du munterst auf nun täglich meinen Geist:

Ich schau und schau, wi Kirch und Monde gleisst;

Drum schlüsse ich, was über aller Glauben,

Das bald der Mond den Mittagsbaum werd lauben.


20.

Dis ist mein thun. Wi aber? was für sehn?

Wil ich dein Werk, wi dieser sah, verdrehn?

Ists deine Stimm, mein Gott, was dar zuhöhren?

Und wilstu Gott, mein Gott, mich gantz zerstöhren?


21.

Herr Tsebaoth, Jehova, schaff mir Recht!

Sih, Jesus, sih, wi dises mich offt schwächt!

Komm, Tröster, komm für Gott mich zuvertreten!

Erhöhr, erhöhr mein Seufftzen, Hertz und Beten!
[35]

22.

Ist möglich? Ach, das du, mein Gott, hir sprichst?

Das deinen Zorn auf mich, mein Gott, du richst?

Ist möglich? wi? von wem dis wunderführen?

Von wem di Krafft? dis unaussprechlichs rühren?


23.

Hab ich den Ruf, den Ruf, mein Gott, gesucht?

Ist alles nicht gefolgt wi auf der Flucht?

Eh ichs gewust, bin ich schon worden offen?

Eh ichs gedacht, Ach! hat es mich getroffen?


24.

So hertzlich gern dich lobt mein gantzer Sinn,

Weil loben Gott mein ewiger gewinn:

So hertzlich gern wil er Ruff, Seel, Geist, Leben

Und was du gabst, dir, Höchster, widergeben.


25.

Ach offenbahr, O Vater, was dis sei!

O reiss und reiss ein Gaukelnetz entzwei!

Entdekke, Gott, dergleichen Schlags Gesichter!

Komm, Vater, komm! dich ruff ich an zum Richter!

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 32-36.
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