Der 6. (51.) Kühlpsalm

[225] Als er di Prophetin Tanneke Denys in London angetroffen, und so manche fälle neusehend, darüber in di allertifste Busbetrachtung seines und aller Geschöpffes Abfalls gerith: vor Gott stat aller Geschöpffe busgethränet zu London den 6. Aug. 1679.


1.

O Heilger Gott! Gott Vater, Sohn und Geist!

Schau gnädigst an, was neu zu dir auffleust!

Ich schäme mich, durch aus in mir entsätzt,

Das ich so offt dich, Heilger Gott, verletzt!

Ich schäme mich und kan vor dir nicht stehn!

Verzeih, verzeih mein schändliches vergehn!


2.

Imehr ich mich mit allem thun betracht,

Imehr ich schrekk und werde roth gemacht!

Ich bin nicht werth, das mich di Erd i trägt,

Weil undank noch mein gantzes leben pflegt!

Ich bin nicht werth, das meine stimm erhöhrt!

Mein Gott, mein Gott! ach, das ich dich versehrt!


3.

Ich armer Wurm! elender, als ich kenn!

Kein wahrer mensch: weil ich stets mich verrenn!

Ich Misgeschöpff! War dis des Schöpffers sinn?

Was ist in mir vom angeschaffnem inn?

Ach hab ich nichts als den verdinten fluch!

Ich bin nicht werth des antlitzs, das ich such.


4.

I tiffer ich zu meinem Ursprung dring,

I tiffre scham, mit der ich (Jesus!) ring!

Ich Misgeburt! War dis des Heilands dank?[225]

Der mich erlöst, als er stat meiner sank?

Ich Ungeheur! Wem bin ich worden gleich?

Bald werd ich roth, bald von der Bosheit bleich!


5.

Thränt, Augen, thränt, weil noch kein auge thränt!

O steinern hertz, von Gotteshertz entwehnt!

Ich thirscher Mensch! Ist dis des Heilgen art?

Des heilgen Geists nach Jesus himmelfahrt?

Ach hündischer, als i der hündsche hund!

Wi werd ich mir aus dir, mein Jesus, kund?


6.

Unsprechlich ernst, der mich mit ernst angreift?

Ich schau und schau, wi Gotteslibe treuft!

Gott schuf uns O! nach sich zu seinem Bild

Barmhertziglich, freiwillig, güttig, mild!

Gott gab uns sich! Gott hat uns alls geschenkt,

Ach Jammer ach, das wir uns ihm entschenkt.


7.

Nichts grausamers hält zeit und ewikeit,

Als das von Gott trat sein Geschöpff so weit!

Nichts thörichter, als solchen tummen fall!

Das nur in Gott, verläst sein alles all!

Nichts greulicher als wider Gott und gutt

Zuschänden sich und sein so heilig blutt!


8.

O heilger Gott! Ich sinke dir zu fus!

Voll scham und reu! voll ernst, voll leid und bus,

Ich wünschte mich von glid und glid zerstükkt,

Viltausendfach, das nur das bös entrükkt!

Ich wünschte mich aus reiner lib in nichts,

Das ewig weg nur der geschöpff ihr Ichts!


9.

Hochgrauser Flekk, mit dem wir uns beflekkt!

Das wir geschöpff des schöpffers zorn erwekkt?

Ich wünschte mich zu aller pein verdammt,

Das Gotteslob nur in Geschöpffen stammt!

Ich wünschte mir zutragen aller last,

Das Gotteslob nur aller Ruh und Rast!
[226]

10.

Nichts schrekklichers dann das mein Gott verlohr,

Di er aus sich zu seiner lust erkohr!

Gott schuf geschöpff, di er mit sich erlabt,

Das etwas wär aus ihm mit ihm begabt!

Gott ists sich alls! Als er sich mitgetheilt,

Ist sein geschöpff von ihm ach! weggeilt!


11.

Welch unrecht? ach! Was wird dadurch bekand?

Der Rechtstag zeugt nur der geschöpffe schand!

I tiffer ich in dise tiffen tiff;

I tiffer Angst, das ein geschöpff ablif!

Dis unrecht ist so unergreifflich gros!

O GottGottGott! Ach mach uns ewig los!


12.

O heilger Gott, vernihm mein eifrigs flehn!

Las uns genad (ist möglich) neugeschehn!

Si wissen nicht, was si an dir vollbracht,

So lange si in ihres Abfalls nacht!

Dreieinger, sih, was ich vor dir ausschütt!

Doch nur dein Will sei mas in Wunsch und bitt.

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 225-227.
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