Der 15. (30.) Kühlpsalm

[89] Als er den 1 August 1678, im Osten mit den 1 August 1674 in Mitternacht überlegte, und er gleichen übersinnlichen fortgang hir in Constantinopel, wi dort in Amsterdam erschaute; gesungen höchstbestürtzet gegen über und vor des im Muscowischen Krige abwesenden Grostürken Pallast auf der Grichischen Constantinopolitanisch Smyrnischen Bark, zu Constantinopel den 19 Aug. 1678. über dessen letzten Worten plötzlich er mit vollem Winde abfuhr, voller Geheimnus vor beide Rome im Wunder Daniels.


1.

O Gott! wi umgekehrt vorm Menschlichem gesichte

Sind deine Wunderweg, und deine Weltgerichte?

O welche tiffste Tiff! Ein Abgrund grundes los!

Wann di Vernunfft nachfasst, wird von Vernunfft si blos.


2.

Kein Mensch hat ni den Rath des Höchsten noch erfahren;

Kein Sinn, wi sinnreich, kan denselben offenbahren.

Wann höchster Witz gedenkt, er hab es in der hand,

So ist gleich dar di Stund, darinn er wird zu schand.


3.

O heimlichst heimlikeit der Führung, di von oben!

Von der dem Staube gleich nachsinnung stets verstoben!

Ach gantzverborgner Gott! Verborgen ist dein schlus,

Den weder Geist noch Mensch noch Engel sehen mus.


4.

Du öffnest, was du wilst, und wann es scheinet offen,

Verschleustdu, wi du wilst, das eitel scheinet hoffen:

Dadurch wird di Gewalt gewaltiger geschändt,

Der Witz entwitziget, di gröste List verblendt.


5.

Wer ungelassen folgt, der wird sich schnell verlauffen:

In deiner Leitungs Meer pflegt Selbstheit zuersauffen.

Wivil der Heiligen, ach! machte dises zag?

Wivil Propheten führn ob solches Wunder Klag?


6.

Von ersten Eltern ists uns allen angeerbet:

Es kostet Heilge vil, eh dises Ichts gesterbet.

Schon Eva wolte ihn, den erst Maria seugt;

Nach dem virtausend Jahr ach! manche stund geneigt.


7.

Wi gings der ersten Welt, dem Zehen heilger Glider?

Was Gott mit ihnen sprach, lif der Vernunfft zuwider.[90]

Wi anders fil und fil, als ider offt gedacht?

Doch ward des Höchsten Rath darunter fortgebracht.


8.

Wi gings der zweiten Welt, den heiligen Semiten?

Sehr langsam schin offt Gott di Hülfe darzubiten:

Imehr der Glaube wuchs, imehr wuchs Prüfung auf,

Das ihnen wunderlich gewesen Gottes Lauf.


9.

Beschau den Abraham, eh ihm ein Sohn gegeben,

Und dem er nehmen solt hernach auch noch das Leben!

Beschau des Isaaks weg, und wi sein Jakob fuhr!

Es ist entgegen gantz der Menschlichen Natur.


10.

Beschau den Joseph doch, wi umgekehrt er kommen,

Zu dem ihn Gott der Herr von Ewikeit genommen!

Beschau den Moses recht und seine lange Flucht!

Er floh als er selbst half, eh ihn Jehova sucht!


11.

Beschau des Jesse Sohn, und sein so manches leiden,

Und als er König ward und wi er muste scheiden!

Beschaue bis auf den, der nur allein erwehlt!

Urtheile, ob Vernunfft nicht allezeit gefehlt?


12.

Wi gings der dritten Welt der wahren JesusSöhne?

Nur unbegreiflicher erschallt hirvon Gethöne,

Was erst bezeichet ward, dann mächtig figurirt,

Das ward im Jesu Christ nun wesentlich volführt.


13.

Der Mann, von dem di Schrifft hocheintzig vorgehandelt,

Als er im Fleische war, hat so verkehrt gewandelt,

Das weder Fleisch noch Blutt bis heute recht ihn weist,

Ohn ein gebohrener aus Gott dem Heilgen Geist.


14.

Beschau sein Jüngerzvölf, wi es von ihm geflogen,

Bis er als TodesPrintz es neu ihm zugezogen!

Beschau was noch von ihm am Ölberg ward gefragt,

Und wi am Pfingsten erst ihr eusseres betagt!


15.

Beschau di Märtyrer! beschau di ersten Christen!

Was letzter Zeit gebührt, das war schon ihr gelüsten.

Beschau wi wunderlich di Heilgen durchgekreutzt!

Ni wi ihr Fleisch gewollt, ihr Ichts si angereitzt.


16.

Beschau das heilge Paar der auserkohrnen Zeugen,

Das stets dem Antichrist den Hochmutt wolte beugen![91]

Si gingen wundersam den gantzen Lebensgang,

Bis si erlerneten des Stephans Sterbgesang.


17.

Wi solte Gott der Herr nicht itz di Weg umhüllen,

Nachdem der Seiger Eilf um alles zuerfüllen?

Lasst liber lernen uns, das nun an uns di Rei,

Und dis der alte Weg, den wir geachtet neu.


18.

Was sind wir so bestürtzt, das uns Gott selbsten zihe,

Das alle Selbstheit fall und Jesuslib entglühe?

Das uns Gott nidrige, das er in uns sei hoch,

Und werff aus uns durch uns das Babylonsche Joch.


19.

Si werden meinen bös und sind doch Gottes Treiber,

Befödern, schaden nicht, des Babels Selbstaufreiber:

Wann David wird verklagt, so wird nur angeflammt,

Daraus dem Saul di Straff und ihm der Segen stammt.


20.

Di Frommen läutern sich, wann Gott di Prüfung schikket:

Das Heuchelvolk verdirbt, di Falschheit wird entschmükket.

Di würtz und Warheit gibt durch drukk und Kreutz Geruch.

Nur Noth entwikkelt recht das weiss und blaue Buch.


21.

Di Heilgen beten ernst, wann Petrus in der Ketten,

Das selbst der Engel da denselben zuerretten:

Gott lässt Herodes zu, das er erweise Krafft:

I näher Noth und tod, i näher Hülf geschafft.


22.

Drum Höchstgethröneter! erhöhr ein eifrigs sehnen!

Komm Jesus, Jesus komm! du must mich dir gewehnen!

Dir übergab ich einst Leib, Seel und Geist zur Gab!

Dir übergeb ichs nun, mehr ist nicht, das ich hab.


23.

Jehova Tsebaoth! der du vor mich wilst streiten,

Wi du mirs mündlich sprachst! du wirst mich nun begleiten!

Du sihest, wi auf mich der starke Nimroth laurt!

Wi er mit seiner Macht mich täglich mehr ummaurt!


24.

Des grossen Hauptmanns Burg mus ich vorüberschiffen!

Du weists di Widerkunfft, di mir nun unergriffen!

Ich eil und geh zurükk, wiwohl zu grösserm Trug:

Getrost! Er wird strakks sein ein höchstgewünschter Pflug.
[92]

25.

Dreieinger Vater, hilf! dein Kühler Osttau kühle!

Sei Kühlmann Sudscher hitz, das Ost Nordkühlung fühle!

Sei Kühlmann mir in mir, ein Kühlmann meinem Haus:

So heissts:

Gott fängt erst an, wann alle Welt rufft


AUS.


Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 89-93.
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