Der 4. (19.) Kühlpsalm

[55] Als er di Gefährlikeit Erleuchteter Kinder Gottes aus dem Heil. Geiste in den Weltgeist zufallen, betrachtete, um wahre Gelassenheit gesungen zu Paris den 26. Mertz 1678.


1.

Gefährlich ist Erleuchter thun,

Wo si nicht sind in Gott gelassen:

Gott kan in ihnen nicht mehr ruhn,

Wann si in sich di Selbstheit fassen.

Der Heilge Geist entweichet fern:

Dann herrschen über si di Stern,

Und sind vom irdschen Führer trunken,

Ob si sich meinen Gottversunken.

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt.


2.

Ein Mensch wird zwar gar Sonnengleich,

Wann Gottes Sonn in ihm aufgehet:

Doch bleibet er im Feuerreich,

Weil er vom Feuersquall bestehet.

Das Feuer ist der Seelengrund,

Und wird im Lichte nimmer kund:

Doch wo di Seel ihr selbst erspigelt,

So ist das Licht von ihr geflügelt.

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt.


3.

Vil stunden einst im Gottesglantz,

Di heute säen irrthumssamen:

Ach si versahen Wall und schantz,

Als si stat Nichts das Ichts annahmen!

Drauf wich von ihnen Gotteshall:

Doch merken si nicht ihren fall.

Was wunder, das si sich verlauffen?

Und ihren Bruder mitverkauffen?[56]

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt.


4.

Was half den Saul, das ihn Gott krönt,

Als er den Ruf von Gott vergessen?

Kein David hat di Sünd beschönt,

Kein Petrus, als er sich vermessen.

Ob Jonas trug di Christfigur:

Doch fällte ihn, wi uns, Natur.

Kein Heilger ward so hoch gestellet,

Das sich nicht Sünd ihm zugesellet.

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt.


5.

Der fehlet meist, der nimmer fehlt:

Der irret stets, der ni wil irren.

Welch Mensch sich ni um Sünde quält,

Der wird sich selbst und vil verwirren.

Wer schon in allem heilig gleisst,

Der ist, der sich von Gott abreisst,

Weil Gottes Gnad er ihm zuschreibet,

Di eh verdirbt, eh si bekleibet.

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt.


6.

Di eusre Schrifft ist unser Buch,

In welcher wir di innre kennen:

Den triffet Gottes Zorn im Fluch,

Der dise wil von jener trennen.

Wem schon di eusre Schrifft zuschlecht,

Der hat di innre Schrifft ni recht.

Seel, Geist und Leib sind ni zutheilen:

Wi wolten vil nicht itzo feilen?

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt.


7.

Wann di Vernunfft im Lichte fleugt,

So mus di Demutt strakks verlodern:

Dann fängt si glast: der leugt und treugt,

Und eher wil, als wir, vermodern.[57]

Di Geister reichen Gunst und Dunst!

Doch ist si weit von Himmelkunst,

Vom Heilgem Lichte weggegangen,

Ob si schon wil, wi erstlich, prangen.

Drum Jesu Christ! Sei stets mit mir zur hutt!

Ni sicher sein, als nur in dir, ist gutt!

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 55-58.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Kühlpsalter, Band 1
Der Kühlpsalter I: BD 1 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke)
Der Kühlpsalter: Band 1

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon