306.

[97] Zu Martini ziehen in Barßen bei Pyrmont die Kinder umher und singen:


»Märten, Märten, hîner,

heir komet de arme kîner,

gäft us wat un låt us chån,

låt us nich to lange stån.«


Dafür erhalten sie Aepfel und Nüße. Zu Rheda lautet der (wie es scheint, ursprünglich für das Michaelisfest bestimmte) Spruch:


»Michaile, Michaile, hillig mann!

de appeln un biëren us chiwen kann,

de chiwe us wat un låte us chån,

wi möttet nô drei stunne wiëges chån;

chiwet us ainen kauken,

do kön-we de brëût upjauken,

chiwet us ainen wågen,

do kön-we de brëût upjågen.«


Wenn sie nichts kriegen, ziehen sie unter dem Rufe: »Chîre, chîre, pickeltiëwe« ab.

In Tecklenburg lautet der Spruch:


»Sünte Miärtens gäuseken,

dat was woll êr so bäuseken,

dat beit de jungen wîwer

de titten van de liwer.

Rosenblatt,

giëft us wat

giëft us wat to drinken

to kumm'd jår en sschinken.«


Bekommen sie nichts, so rufen sie:
[97]

»Der N.N. häw en ossen sschlachtet;

fell is fett un flêsk is mager,

N.N. is en knåkentank.«


Vgl. Norddeutsche Gebräuche, Nr. 122; Meier, Gebräuche, Nr. 177.

Die letzten Worte stehen in Bezug zu der in Niederdeutschland fast allgemeinen Sitte, zu Martini zu schlachten, vorzugsweise Rinder; auch in England heißt das im Herbst geräucherte Rindfleisch Martlemasbeef; an ox or cow killed at Martinmas an dried for winter use heißt Mart. In einem andern Glossary heißt es: »Martlemasbeef. Beef dried in the chimney like bacon, so called, because it is usual to kill the beef for this purpose about the feast of St. Martin, November the eleventh.« Ess. a. Suff. Bei den Angelsachsen führte der November bekanntlich den Namen blotmonað, von den Thieropfern, welche den Göttern geweiht wurden, Kemble, I, 307; ebenso heißt er bei den Friesen slachtmoänne, während bei den Schweden blotmånad, slagtmånad, sowie das gleichbedeutende altnordische gormânuðr den October bezeichnet; Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, S. 90 fg.; vgl. Simrock, Mythologie, S. 518.

Auf eine Verbindung des heiligen Martinus mit der Fruchtbarkeit der Rinder deutet auch der Ausdruck Free-martin bei Halliwell s.v.: »If a cow has twin calves of different sexes, the female is termed a free-martin, and is said never to breed.« Ein verschnittenes junges Rind heißt a Martin, Halliwell, s.v. Dagegen deutet die Redensart: »She has had Martin's hammer knocking at her wicket (pudendum muliebre)« said of a woman who has had twins (Halliwell, s.v. Martin's-hammer), allgemeiner auf Verbindung der Vorstellung von dem Heiligen oder seinem heidnischen Vorgänger mit weiblicher Fruchtbarkeit; zugleich scheint der Hammer auf Donar zu deuten, dessen weihender Hammer der Braut in den Schoß gelegt wurde und auf den auch das Sünte Mertesvüegelken mit seinen roten küegelken zu beziehen sein wird, welches Woeste und nach ihm Wolf, Beiträge, I, 52, auf den rothhaubigen Schwarzspecht deuten. Das französische martinet bezeichnet die Hausschwalbe, und dasselbe bedeutet englisch martlet, welches in derselben Weise aus martinet entstellt ist, wie Martlemas aus Martinmas. Diese Schwalbe hat aber rothe Brust und rothe Stirn und wird daher[98] der im Liede gemeinte Vogel sein; die Benennung ist durch Diminutivbildung von dem Eigennamen entstanden, wie die des Rothkehlchens Robin aus Robert, Hruodperaht, welches dem Donar heilig war. Daß dies auch bei der Hausschwalbe der Fall sei, geht aus den Gebräuchen und dem Aberglauben hervor, Nr. 211, 212, wonach dieselbe das Haus vor Blitzschaden bewahrt und, wenn sie nicht wiederkehrt, dasselbe abbrennt. Wie daher Wolf schon beim heiligen Michael annahm, daß er auch mehrfach an die Stelle des Donar getreten sei (Beiträge, I, 38), worauf auch die oben zu Nr. 303 besprochenen Weissagungen aus der Eichel deuten, so wird dies auch beim heiligen Martin geschehen sein. Uebrigens bemerke ich, daß der im Reinaert, V. 1047, erwähnte Sente Martinsvogel kaum die Schwalbe sein kann, da er in einen Hag, im Reineke auf einen Baum fliegt, und die Schwalben sich nicht darauf zu setzen pflegen; vgl. auch noch Grimm, Mythologie, S. 1083 fg. Noch andere Lieder bei Woeste, Volksüberlieferungen, S. 28; Firmenich, I, 281, 359; vgl. auch Montanus, S. 53-56, wo auch der am Martinstage angezündeten Feuer gedacht wird; Michaelisfeuer und Umzug mit brennenden Besen werden erwähnt von Schmitz, S. 43, 44; Hocker in Wolf, Zeitschrift, I, 88; ebenso auch Martinsfeuer, bei welchen man brennende Körbe oder ein brennendes Rad vom Berge herabrollte, ebendas., S. 45, 46; vgl. die von Wolf, Beiträge, I, 41, gesammelten Nachrichten. Der aus dem Hannöverschen (Norddeutsche Gebräuche, Nr. 122) mitgetheilte Eingang des Martinsliedes ist offenbar gleich dem von Eckard erwähnten und Wolf, Beiträge, I, 41, Anm. 3, besprochenen; Hannoveraner werden mittheilen können, ob die dort gegebene Lesart hêren, oder die von Eckard gewährte hering die richtigere sei; ein Gifhorner Martinslied bei Colshorn, Deutsche Mythologie, S. 345, hat die Lesart Märten, Märten Ehren.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 97-99.
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