1.

[339] Es lebten in Mittelindien sieben weise Zaubermeister, die hatten viel Lehrlinge ihrer Kunst; aber die Lehrlinge lernten nicht viel, denn die Meister oder Profeßoren waren so weise, daß sie die Schüler eben nicht sehr mit Weisheit überhäuften, und viel Ferien gaben, damit die Schüler Zeit hätten, Alles von sich selbst herauszubringen. Außer den ordentlichen und bestimmten Feierzeiten, hatten die Meister bald den Husten, bald den Schnupfen, bald eine nothwendige Geschäftsreise auf vier oder fünf Tage, bald eine dringende Abhaltung – nämlich ein großes Gastmahl. So behielten denn die Jünger, mit den heiligen Feier- und Festtagen, über ein halb Jahr Zeit zum Selbststudiren.[339]

In so vieler Zeit hätte sich nun wohl etwas Tüchtiges erlernen laßen, aber ich weiß nicht, wie es kam, daß die jungen Lummrians grade dadurch träger und fauler wurden, und die weisen Meister wußten es trotz ihrer Weisheit auch nicht und betrübten sich darüber tief nicht blos bis ins Herz, sondern bis in den Magen hinein, indem ihr einziger Wunsch war, die Jünger sollten die Meister einst nach ihrem Leben einmal übertreffen, und so sollte es immer fortgehen, bis endlich das Weltheil gekommen wäre.

Da war einmal ein junger sinnender Schleffel, der war ein Prinz, nämlich ein Chans Sohn, der brachte in den Ferien so Mancherlei heraus, und war bis so weit gekommen, daß er sich in ein Pferd verwandeln konnte.

Als ein verwandeltes Pferd trat er vor die sieben Meister hin und wieherte.

Nach vielem Sinnen brachten sie es heraus, das sei ein magisches Pferd, worin sich einer ihrer Schüler verwandelt habe, welches ihnen aber gar nicht gelegen war, denn der Schüler möchte die Meister wohl gar am Ende zu Eseln machen; und wenn auch nicht das, würde er doch, als ein noch unreifes Genie, die edle Kunst der Magie sehr unvorsichtig anwenden, und wohl gar so gemein machen, daß kein Mensch mehr an die Wunderbarkeit und Vortrefflichkeit derselben glaubte. Um das Dunkel ihres Heiligthums zu schützen, beschloßen sie das Pferd zu tödten, und griffen es in Gestalt von sieben Löwen an.

Das geängstete Pferd sprang in den nahen Fluß und nahm die Gestalt eines Fisches an. Die sieben Weisen verwandelten sich in sieben Reiher, verfolgten den Fisch und hätten ihn beinahe gefangen, aber er nahm die Gestalt einer Taube an, sie hingegen wurden zu sieben Habichten, die die arme Taube über Berge und Thäler und[340] Flüße verfolgten, bis sie zur beruhigenden Höhle gelangte, wo sie sich in den Busen eines Oberweisen, Nangasuna, verbarg.

Was mag das bedeuten? dachte Nangasuna, daß diese Taube von sieben Habichten verfolgt wird? »Taube, fragte er, wie kommst du hieher?« Da erzählte die Taube die Ursache und sagte: »Es werden sieben Bettler kommen und um Nangasunas Rosenkranz bitten. Dann will ich mich in das größeste Kügelchen des Kranzes verwandeln, du aber geruhe dieses in den Mund zu nehmen und den Rosenkranz von dir zu werfen. Also geschahe es, und die weggeworfenen Kügelchen des Kranzes wurden zu Würmern, und die sieben Bettler wurden zu sieben Hünern und fraßen die Würmer. Da ließ Nangasuna das größeste Kügelchen aus seinem Munde fallen, das verwandelte sich in einen Menschen mit einem Schwerdte in der Hand.«

Als nun der Mensch mit dem Schwerdte die sieben Hüner getödtet hatte, ward der Oberweise in seiner Seele betrübt und sagte: »Indem ich einen einzigen Menschen am Leben erhalte, werden sieben getödtet. Dieß ist wahrlich nicht gut.«

Auf diese Worte erwiederte der Andere: »Wiße, daß ich ein Chans Sohn bin; und wenn das nicht genug ist, so will ich dir dienen, mich von Sünden zu reinigen.«

Der Oberweise versetzte: »Weil gegen einen Chans Sohn die die ganze Welt nichts ist, so ist es gut, wenn ihrer auch siebenmal hunderttausend wären getödtet worden; dennoch aber sollst du mir dienen. Geh in den kühlen Hain der Todten, wo Siddikür weilt, der oben von Gold und unten von Erz und deßen Kopf mit Silber bedeckt ist. Nimm ihn und bring ihn. Wer mir ihn bringt, den mach ich zum tausendjährigen Menschen auf Erden.«

Darauf begann der Jüngling: »Den Weg, welchen ich machen[341] muß, die Nahrungsmittel, deren es bedarf, und Alles, was ich beobachten muß, geruhe mir, o Nangasuna, zu sagen.«

Dieser versetzte: »Also geschehe es.« Eine Meile von hier, nach Morgen zu, gelangst du zu einem finstern Walde, durch welchen ein schmaler Pfad nur hindurch führt. Hier wohnen lauter Gespenster. Sie werden alle um dich herumkommen, dann rufst du mit lauter Stimme: »Gespenster Chu lu chu lu ssochi;« dann werden sie zerstieben. Hierauf wird kommen ein Haufen nackter Gespenster, dann sprich: »Chu lu chu la ssochi.« Dann werden Kindergespenster kommen, dann sprich: »Ri ra ri ra padra.« Hierauf wirst du in der Mitte des Hains finden den Siddikür, sitzend neben dem Wunderbaum. Erblickt er dich, so steigt er hinauf. Dann nimm die Mondaxt und drohe mit wilder Gebehrde den Baum umzuhauen, so kommt er herunter. Zum Forttragen nimm diesen hundert Menschen befaßenden Sack und zum Festschnüren dieses hundert Klaftern lange Seil. Dieser unvergängliche Kuchen ist deine Reisekost. Hast du nun aber die Last auf dem Rücken, dann wandere hieher und sprich nicht.

Alles geschahe also, wie Nangasuna gesagt hatte, und Siddikür wurde in den Sack gesteckt und fortgetragen.

Quelle:
Johann Andreas Christian Löhr: Das Buch der Maehrchen für Kindheit und Jugend, nebst etzlichen Schnaken und Schnurren, anmuthig und lehrhaftig [1–]2. Band 2, Leipzig [ca. 1819/20], S. 339-342.
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